Aufbruch - Thomas Lindner

Rede zur Ausstellungseröffnung in der Reihe "Kamelie & Skulptur" der Stiftung Weimarer Klassik

während der Eröffnungsrede, neben Thomas Lindner. Foto: Franziska Heer

Weimar, Orangerie des Schlosses Belvedere, 3. März 2012

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Thomas Lindner, liebe Elke Gatz-Hengst, sehr geehrte Damen und Herren,

bevor Johann Wolfgang Goethe in seinem Gedicht "Die Metamorphose der Pflanzen" das Keimen und Gedeihen eines kleinen Triebes vom Samen bis zur Frucht beschreibt, lässt das lyrische Ich seine "Geliebte" Umschau halten in der "tausendfältige(n) Mischung dieses Blumengewühls". Auch hier in der Orangerie kann man sehen, was das Gedicht weiter festhält: "Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;/ und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,/ auf ein heiliges Rätsel."

Dieses geheime Gesetz des Lebens treibt auch Thomas Lindner in seinem künstlerischen Schaffen um. Es ist das Gesetz des Lebens, des Lebens, das sich in zyklischen Abläufen doch niemals identisch wiederholt. Thomas Lindner verdeutlicht dies in kinetischen Objekten - Sie kennen diese Mobiles aus Metallplättchen von ihm - in kinetischen Objekten, die uns dieses Gesetz in ihren wechselnden Zuständen von naturgesetzlicher Balance und zufälliger Störung vor Augen führen. Kinetische Objekte nehmen einen großen Raum im Schaffen Thomas Lindners ein - aber sind nicht dessen einziger Inhalt. Für die jetzige Ausstellung hat er uns unbewegliche Werke mitgebracht, die uns dennoch - als gleichsam eingefrorene Bewegung - dieses selbe Gesetz des Lebens vorstellen. Sie tun dies in der Form der Spirale, also des Kreises, der sich doch nicht wieder schließt.

Besonders deutlich wird es in dem Werk, das sogar im Titel auf den Verlauf des Lebens verweist: Der "Lebensspur", einem hoch aufstrebenden Werk aus zunächst drei, dann zwei ineinander verschlungenen Spiralen. Die Spirale begegnet uns auch wieder in "Zum Licht", der Stahlplastik im Turm, die ebenfalls einen wachsenden Stengel abzubilden scheint. Auch das "Gedankenspiel" ist ein dreifach verschlungenes Rohr, dessen Enden sich nicht wieder erreichen.

Modifiziert begegnet uns die Spirale in "Infinitus" - sie hören schon am Werktitel, das sich hier zum Endlosband schließt, was in der Spirale der Lebensspur geöffnet bleibt. Zugleich sind die Metallstangen vierkantig, die in den Spiralen rund sind. In den eckigen Metallbändern und der geschlossenen Form ähnelt "Infinitus" der "Blüte" und der "spielerischen Attitüde". Sind es in "Infinitus" vier, so sind es in der "Blüte" drei, in der "Spielerischen Attitüde" zwei Bänder, die, so verschweißt sind, daß in jedem Fall der Eindruck eines einzigen Bandes entsteht. Die Spiralform wird durch die doppelte Windung evoziert, in der jedem Band ein kleiner in einen großen Kreis eingeschrieben ist.

In einer früheren Ausstellung habe ich einmal gesagt, die Idee der Spirale läge jedem nicht-kinetischen Kunstwerk Thomas Lindners zugrunde. Wir werden heute zwei Werke kennen lernen, die zeigen, daß das so nicht mehr stimmt. Dennoch begegnet uns die Spirale tatsächlich auch in den Fotogrammen Thomas Lindners - also in den in der Dunkelkammer belichteten Papieren, die den Weg des Lichts etwa einer Taschenlampe festhalten.

Hier sind wir beim zweiten, doch so nah verwandten Thema, auf das wir bei Thomas Lindner immer wieder stoßen: Das Licht. "Das Licht als ein faszinierendes und unbegreifliches Medium", so hat es Thomas Lindner selbst einmal formuliert, "das Licht mit seinen unendlichen Facetten erlangt für mich zunehmend Bedeutung als Mittel der Gestaltung." Und wieder sind es bereits die kinetischen Kunstwerke - eines steht übrigens unten in der Stadt in der Galerie Profil zum Verkauf - wieder sind es bereits die kinetischen Kunstwerke, die das Thema des Lichts mit dem des Lebens verbinden. Indem die Metallplättchen der Mobiles sich gegeneinander verkehren, malen sie - unwiederholbar und einzigartig - mit Lichtreflexen in den Raum. Auch die Plastik "Zum Licht" verbindet beide Themen, indem sie das Licht als Ziel der aufstrebenden Bewegung, als Ziel des Lebens benennt.

Eine ganz besondere Rolle aber spielt das Licht in dem Werk "Begegnung". Das mag Sie verwundern, da diese aus Dreiecken aufgebaute Säule ja weder selber leuchtet noch fremdes Licht reflektiert. Und doch ist es der Weg des Lichts, den die geschwärzten Flächen für uns festhalten, denn es sind Schattenpunkte.

Die Betrachtung von Licht und Schatten hat philosophisch wie künstlerisch eine lange Tradition. Verbirgt der Schatten das eigentliche Sein - oder zeigt sich das Wesentliche in ihm? Sie kennen das Höhlengleichnis aus Platons "Staat", in dem Menschen die Schatten an der Wand für die Wahrheit der Gestalten nehmen. Der Philosoph, der sich losgemacht und ans Licht emporgestiegen war, wird nach seiner Rückkehr beschimpft und ausgelacht: Hier erscheinen die Schatten als das, was die Realität verbirgt. Das wahre Sein bleibt in den Schatten unkenntlich.

In der Bildenden Kunst wie in der Literatur kann der Schatten aber wohl auch als das Phänomen auftauchen, das das eigentliche Wesen eines Menschen ausmacht: In der "Wundersamen Geschichte von Peter Schlemihl" von Adalbert von Chamisso wird der an den Teufel verpfändete Schatten zum notwendigen Garanten eines normalen Lebens in der menschlichen Gesellschaft. Als Peter Schlemihl seinen Schatten vom Teufel wiederhaben will, soll der Preis dafür seine Seele sein. Auch die Bildende Kunst kennt - in der Karikatur wie im Gemälde - die Schatten als Künder der Wahrheit: Berühmt ist Grandvilles Karikatur "Die Schatten - das französische Kabinett" aus dem Jahr 1830. Die Zeichnung zeigt die Kabinettsmitglieder mit ihren verschiedenen Hüten und Gesichtsprofilen, die die verräterischen Schatten einer Flasche, eines Teufels, eines Schweins und eines Puters an die ihnen zur Seite verlaufende Wand werfen.

In der impressionistischen Malerei offenbaren die Farbpunkte der Schatten die Wahrheit des Lichts: Eine etwa schräg stehende Sonne wirft die langen Schatten einer Pergola in den Salon, und Farbpunkte machen diese Schatten sichtbar. Im Brechen am Gegenstand gibt das Licht sein "heiliges Rätsel" preis - das Rätsel der Farben.

Auch Thomas Lindner interessiert das Wirken des Lichts in der Gestaltung von Flächen. Die "Begegnung" freilich ist konkrete Malerei - ohne inhaltlichen Bezug. Die Schatten bilden hier nicht Gegenstände ab oder erkunden Menschen oder Charaktere. Im Gegenteil: Die Gegenstände, die dem Werk "Begegnung" zu seiner jetzigen Gestalt verholfen haben, wurden eigens geschaffen, um die Wege des Lichts auf den abgeschrägten Flächen zu erkunden. Am Computer entwarf Thomas Lindner Lochmusterfolien, eine mit kreisrunden Punkten und eine mit kleinen quadratischen Flächen. Durch die Folien ließ er Licht auf die Säule fallen. Und je nachdem, in welchem Winkel das Licht auf eines der schräg aufeinandergesetzten Dreiecke traf, malte es das Bild eines Kreises oder es verzerrte ihn zum Oval. Die so durch das Licht selbst vorgegebenenen Formen malte Thomas Lindner in schwarzer Acrylfarbe nach. So entstand das Werk "Begegnung". Ob Kreis oder Oval, ob Quadrat oder Rechteck: Das Licht wird nur sichtbar, wenn ihm etwas "begegnet".

Das Spiel mit Lochmustern kennen wir übrigens aus Thomas Lindners Plastik "Lapislazuli". Vielleicht erinnern Sie sich: Vor knapp drei Jahren stand dieses Werk auf der Stele im Hof der Stadtverwaltung in der Schwanseestraße: Ein Dodekaeder - also ein zehneckiges Gebilde - aus Lochblech brachte auf dem Wege der optischen Täuschung Bewegung hervor: Indem sich das Sonnenlicht an den kleinen Löchern der Seitenwände brach, kam es zu Interferenzen, zum gegenseitigen Auslöschen und Sich-Verstärken von Strahlen, so daß "Lapislazuli" bei jedem Schritt andere Wabenmuster von Schattenflächen und veränderlichen Lichtpunkten zeigte. Der Dodekaeder schien sich zu bewegen.

Auf ein letztes Werk möchte ich Ihr Augenmerk noch lenken, bevor ich zum Schluß komme: "Spiegelspiegel" bringt mit den statischen Spiegelflächen noch einmal ein neues Element in die Kunst Thomas Lindners ein. Zwar kennen wir von den zarten kinetischen Mobiles spiegelnde Flächen. Aber "Spiegelspiegel" entfaltet eine neue Qualität. Zwar ist auch "Spiegelspiegel" kein Spiegel - also kein Glas, sondern eben wieder ganz blank polierter Edelstahl (das könnte man übrigens einmal designgeschichtlich betrachten - der Siegeszug des Edelstahls vor dem Hintergrund der mythologischen Tiefendimension des Spiegelmotivs - aber das ist eine gesonderte Aufgabe). "Spiegelspiegel" ist Edelstahl, aber reflektiert nicht nur Lichtpunkte, sondern ist wirklich ein Spiegel, ein feststehender, spiegelnder Spiegel.

Das Spiegelmotiv ist natürlich wiederum dem des Schattens verwandt - Sie wissen, daß Peter Schlemihls Geschichte vom verkauften Schatten bei E.T.A. Hoffmann als Geschichte vom verlorenen Spiegelbild wiederkehrt. Aber der Spiegel birgt weitere Faszinationen: Narziß, der sich in sein Spiegelbild verliert, Erasmus Spikher, der sein Spiegelbild verliert, bis hin zum Aberglauben, daß, wer nach Mitternacht in einen Spiegel schaue, den Teufel darin erblicke, die vielen Zwillings- und Doppelgängergeschichten, die Märchen, die den Spiegel zum Garanten der Selbst- und Welterkenntnis machen (denken Sie an "Schneewittchen" oder an die "Kristallkugel"). Das Phänomen des Spiegels lässt den Menschen nicht los. Als spiegelnde Wasserfläche ist er das Tor zum Jenseits - und damit wiederum zur Wahrheit -, für "Alice im Wunderland" (und neuerdings für Fantasygeschichten wie "Reckless" von Cornelia Funke) ist ein Spiegel das Tor zur Anderswelt. Spiegel, Spiegel, Spiegel - natürlich auch in der Bildenden Kunst ein Thema. Das "Oktogon für Münster" war ein großer Pavillon aus halbverspiegeltem Glas - sogenanntem Zweiwegeglas -, den Dan Graham für ein Skulpturenprojekt 1987 in den Münsteraner Schlossgarten gebaut hat. Ich wohnte damals zufällig in Münster und fuhr also täglich mit den Fahrrad an diesem spiegelnden Oktogon vorbei. Es faszinierte mich sofort und nachhaltig - dieser der umgebenden Natur so ganz fremde, kalte Spiegel, der sich die Natur in ihrer Wiederspiegelung doch so ganz zu eigen machte - einfach wunderbar. Als ich "Spiegelspiegel" im Atelier stehen sah, musste ich sofort an Dan Grahams Oktogon denken - und freute mich auf den Anblick der spiegelnden Flächen hier mitten im Grün. Es sind verhältnismäßig kleine Flächen, doch erfüllen sie, was ich erhofft hatte: eine sich ständig wandelnde Anverwandlung der sie umgebenden Natur. So doppelt "Spiegelspiegel", wie sein Name schon ahnen lässt, die "tausendfältige Mischung dieses Blumengewühls" - allen ähnlich, doch keiner Pflanze gleich.

Ich hoffe, daß Sie die Ausstellung ebenso genießen können wie ich und wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag.

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar