Reflexion der kulturellen Identität. Die "Renaissance"-Werke von Wolfgang Nickel
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Schloß Wilhelmsburg, Schmalkalden, Samstag, 14. Dezember 2019, 14 Uhr
Sehr geehrter Herr Dr. Lehmann, lieber Wolfgang Nickel, sehr geehrte Damen und Herren,
das Ausstellungskonzept des ausklingenden Jahres 2019 wurde auf Schloß Wilhelmsburg von der Idee der Wiederentdeckung der Renaissance geleitet - der Wiederentdeckung der Epoche also, die die baulichen Eigenheiten des Schlosses, seine Außenanlagen, die Innenräume und Wandbemalungen, aber auch die besondere Ausstattung seiner Schloßkapelle mit der über 400 Jahre alten Holzpfeifen-Orgel bestimmt. Der Wiederentdeckung der Renaissance, um sie den Besuchern des Schlosses und der Sonderausstellungen nahe zu bringen und wieder bewußt zu machen.
Den Auftakt zur Schmalkalder "Renaissance" der Renaissance - also der Wiedergeburt der Renaissance - bildete eine Sonderausstellung mit Werken Wolfgang Nickels, die am 9. Mai 2019 in den Räumen der Kleinen Galerie im Schloß eröffnet wurde und nun anläßlich der Fertigstellung eines besonderen Kombi-Kataloges des Schlosses noch einmal hier zu sehen ist. Für die heute eröffnete Schau hat Wolfgang Nickel die Exponatenliste allerdings bereits wieder um einige Glasobjekte ergänzt.
Der Künstler hat seine Arbeiten unter das Thema "Renaissance" gestellt. Diese Idee leitet die Wahl des Sujets - das Portrait in historischer Kleidung, die Handstudie und die Gewandstudie zum Faltenwurf, in den Glasobjekten die madonnenhaften oder schwertersegnenden Frauenfiguren, und Fabelwesen wie ein geflügelter Hirsch. Aber die Idee leitet auch die künstlerische Technik. Hand- und Gewandstudie zeigen es: Es geht - sagen wir gleich: scheinbar - in den Papierarbeiten schlicht um die ganz klassisch-kunsthandwerkliche Zeichnung. Bevor Wolfgang Nickel als der Glaskünstler, als der er nun international bekannt ist, hervortrat und zahllose Kirchenfenster, Glasbilder und Glasobjekte schuf, hatte er auf Burg Giebichenstein in Halle ja ein Studium der Malerei und Grafik abgeschlossen. Eine Wiedergeburt der eigenen künstlerischen Fähigkeiten also? So scheint es vielleicht auf den ersten Blick. Der zweite Blick hält schon die ersten Irritationen für den Betrachter der Portraits bereit: Was haben die Zeichnungen für Passepartouts? Da tritt doch der Glaskünstler wieder hervor! Und das eine oder andere Gesicht - das ist doch keine Kopie eines historischen Blattes?! Sind da auch Zeitgenossen unter den Portraitierten? Und die Spiegelungen in den metallenen Passepartouts - finde ich mich etwa als Betrachterin plötzlich mit im Bild? Was soll das bedeuten?
Mir scheint in der Tat, daß es drei spezifische Kunstgriffe sind, durch die Wolfgang Nickel die Sujets und die Techniken seiner historischen Vorbilder in einen neuen Zusammenhang verschiebt ("dekontextualisiert"): Nämlich erstens die Kombination historischer Portraits mit zeitgenössischen Bürgerrechtlern, Regimekritikern etc.; zweitens die Kombination von bewußter Renaissance der handwerklichen Zeichnung mit seiner Glaskunst in den Passepartouts; und drittens durch die spiegelnden Metalle hinter dem Glas schließlich die Einbeziehung des Betrachters ins Bild. Lassen Sie uns diese künstlerischen Kniffe einen nach dem anderen eingehender studieren und sehen, was sie mit der Kunst machen und was sie uns für Erkenntnisgewinn bescheren.
Bei aller Vorrangstellung der Glasarbeiten im Œuvre der letzten Jahrzehnte hat Wolfgang Nickel doch nie ganz von der Zeichenkunst gelassen. Auch den figürlichen Glasarbeiten liegen schließlich Zeichnungen zugrunde, nach denen dann die Pigmente gestreut werden - ob das hier die Frauengestalten sind oder die Figuren der "Lustgärten"-Serie, die 2016/2017 hier auf Schloß Wilhelmsburg gezeigt worden sind. Nickel zeichnet tatsächlich täglich. Denn er zeichnet, um zu sehen: Die künstlerische Umsetzung eines Bildsujets ist die beste Schule des Wahrnehmens, des genauen Hinschauens. So ist Wolfgang Nickel denn auch als Zeichenlehrer sehr beliebt. Studenten reisen von weither an, um bei ihm die Kunst zu erlernen, die der Lehrplan der Kunsthochschulen heute nicht mehr vorsieht. Und auch im Zuge der Ausstellung hier im Schloß wurden dieses Jahr im Juni Zeichenkurse abgehalten, bei denen zwei Jugendliche in wechselnden historischen Kostümen, mit Samtbarett oder Spielmannskleidung, den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern Modell standen.
Was zeigen uns die Zeichnungen der heutigen Ausstellung? Unverkennbar das eine oder andere kunstgeschichtliche Zitat: ein Portrait und ein Altarbild des Jan van Eyck (1390-1441), Kopf- und Handstudien Leonardos (1452-1519), Kopien nach Dürer (1471-1528) und Michelangelo (1475-1564). Eigenständig umgesetzt sind Nickels Zeichnungen nach griechischen Marmorbüsten und archetypische Motive wie die "Gewandstudie". Hier fügt Nickel dem historischen Archiv eigene Arbeiten hinzu, die im Stil der historischen Zitate der Bewahrung der alten Technik dienen. Nickel greift hier bewußt auf Bilder unseres kulturellen Gedächtnisses zurück, um sie mit neuen Arbeiten in Verbindung zu bringen.
Der im eigentlichen Sinne künstlerische Zugriff auf Thema und Technik - Portrait und Zeichnung - aber zeigt sich, wenn Wolfgang Nickel nur die Kleidung aus alten Werken in seinen Abbildungen zitiert und in die Kragen neue Köpfe setzt - der erste Kunstkniff: So begegnen wir in der Ausstellung einem bekannten Konterfei Martin Luthers - doch im hochgeschlagenen Revers sitzt der Kopf des schwarzen Bürgerrechtlers und Baptistenpredigers Martin Luther King. Über dem königlichen Brokat-Dekolleté einer frühneuzeitlichen Herrscherin identifizieren wir das Gesicht Michelle Obamas. Aus ihren Mandelaugen lächelt uns Greta Thunberg verlegen an. In diesen 'Schein-Kopien' liegt die eigentliche Leistung der zeichnerischen Zitate Wolfgang Nickels. Die überzeitliche gesellschaftliche Relevanz der portraitierten historischen Persönlichkeiten steht für uns außer Frage. Durch ihre Parallelisierung mit heutiger Prominenz wagen die 'Schein-Kopien' Vorhersagen zur langfristigen Bedeutsamkeit einiger unserer Zeitgenossen. Das Bild im alten Gewand macht Michelle Obama und Greta Thunberg zur 'lebenden Legende'.
Natürlich steht und fällt die künstlerische Aussage solcher Werke mit der zweifelsfreien Wiedererkennbarkeit der Portraitierten: Nickels handwerkliche Perfektion in der Zeichnung ist ganz besonders in diesen Werken die Grundlage der Kunst.
Dem saudischen Journalisten Jamal Kashoggi, der sein regierungskritisches Engagement im vergangenen Jahr mit dem Leben bezahlte, setzt Wolfgang Nickel ein Denkmal im Pelzrock und der Handhaltung aus Dürers berühmtem Selbstbildnis aus dem Jahr 1500. Durch das Zitat der historischen europäischen Kleidung parallelisiert Nickel ganz bewußt seine Figuren in ihrer Bedeutung für uns den großen Reformern der Weltgeschichte. Eine Zeichnung - eine politische Aussage.
Wie erwähnt - als zweiter Kunstkniff - läßt Nickel auch in diesen zeichnerischen Werken seine Glaskunst nicht. Sie steckt aber nicht in den Zeichnungen selber, sondern in deren ganz eigenen Passepartouts. Unter Aussparung der individuellen Blattgröße seiner Portraits hat Wolfgang Nickel das Bilderglas jedes Werkes aufwendig mit Farbe, Blattgold und anderen Edelmetallen belegt. Die hauchdünnen Metallblättchen, die mit Hilfe spezieller Öle und größter Vorsicht aufgebracht werden müssen, besitzen eine Größe von 10×10 cm und sind in der "Gewandstudie" fast ohne weitere künstlerische Manipulationen eingesetzt. Durch ihr Hinterfangen mit strahlendem Ultramarin-Blau kann der Betrachter hier die einzelnen Kupferfelder sehr gut erkennen. Aber selbstverständlich hat Wolfgang Nickel etliche Verfahren erprobt, um dem spiegelnden Metallgrund seiner Passepartouts zusätzliche Struktur zu verleihen. Eines davon sind die sogenannten Punktionen. Punktionen meint in diesem Fall kalkulierte Klümpchen, die entstehen, wenn der Künstler das Öl nicht vollständig durchtrocknen läßt. Zu betrachten sind solche Punktionen im Passepartout zur Kopfstudie nach Leonardo. Eine andere Möglichkeit, den Metallgrund zu strukturieren, stellt das Craquelé dar, bei dem die Blättchen von Hand auf dem feuchten Öl verschoben werden: In den noch erkennbaren Karrees der Blättchen um den Kopf des Cardinals Niccolò Albergati zu beobachten. Besonderen Glanz verleiht Wolfgang Nickel dem Blattgold, wenn er es mit roter Farbe hinterlegt. Diese Technik macht das Passepartout um das "Portrait der Afrikanerin Katherina" nach Dürer so besonders reizvoll. Das Verstreichen des Öls, das mit breitem Pinsel auf das Glas aufgebracht wird, hinterläßt zum Teil sichtbare Spuren - eine weitere Variante zur Strukturierung der feinen Metallfläche.
Im einen oder anderen Werk ist das Metall auch poliert und beispielsweise die Passepartouts zu "Michelle Obama" und "Martin Luther King" lassen die Vielfalt erahnen, die die Kombination von Metallblättchen, Politur und farbigem Untergrund für den Künstler bereithält. Die Glasrahmen zu "Adam und Eva", zu Leonardos "Handstudie" und zu Michelangelos Frauenportrait spielen in besonderer Weise mit dem Einsatz von Farbe und verschiedenen Metallen. Ganz nebenbei übrigens bringt Nickel durch seine Passepartouts alle Exponate auf eine einheitliche Werkgröße von 70×100 cm. Und paradoxerweise läßt uns die Gleichförmigkeit des Gesamterscheinungsbildes der Ausstellung beim Einzelwerk um so genauer hinschauen. (Bei den Glasobjekten genauso: Äußerliche Gleichförmigkeit unterstreicht die Besonderheit des einzelnen Sujets.) Und natürlich markiert das Edelmetall, Gold, Silber und Kupfer, eine Wertigkeit der Werke und ihrer Sujets.
Einige Werke, etwa der "Jamal Khashoggi", führen uns vor Augen, welche Variabilität ein silberner Hintergrund besitzt. Ein silberner Hintergrund, der bei glattem Metall und behutsamer Politur vor allem eines ermöglicht: Die Spiegelung des Betrachters im Bild. Wie schemenhaft auch immer, bezieht ein Silbergrund des Passepartouts uns ins Bild ein - der dritte Kunstkniff dieser Ausstellung. Angesichts der historischen Vor-Bilder scheint so neben der Reflexion des Betrachters die mögliche Selbstreflexion der eigenen kulturellen Identität auf. Einer kulturellen Identität, die schon in der Renaissance, ja: im Mittelalter längst die Ländergrenzen überschritten hatte und die in Nickels Werk - im Konterfei der Schwedin Thunberg, der Amerikanerin Obama und des Arabers Khashoggi - zur Identität des selbstbewußten, aufgeklärten und freien Individuums wird.
Fassen wir noch einmal zusammen: Durch drei Kunstgriffe dekontextualisiert Wolfgang Nickel seine zeichnerischen Sujets und trifft dadurch verschiedene Aussagen in seiner Kunst: Durch die Ersetzung bekannter Köpfe im historischen Gewand wagen die Werke eine Aussage zur geschichtlichen Relevanz des Engagements einiger unserer Zeitgenossen. Die Umrahmung im metallenen Passepartout wertet er die Portraitierten auf. Gold ist die Farbe der Könige und der Ratsherren-Insignien. Der Regimekritiker wird so plötzlich zur staatstragenden, zur eigentlichen gesellschaftserhaltenden Persönlichkeit. Durch die mehr oder weniger schemenhafte Spiegelung des Betrachters im Bild tritt der Reflexion der Bilder unseres kulturellen Gedächtnisses unsere Selbstreflexion als kulturgeprägtes und kulturprägendes Subjekt an die Seite. Die Kunstwerke, die einige unserer Zeitgenossen verorten, verorten auch, nur für uns allein durchschaubar, uns selbst.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar