Wolfgang Nickel. Lustgärten

Rede zur Ausstellungseröffnung

Inselgalerie Meiningen, Samstag, 27. Oktober 2018, 15 Uhr

Sehr geehrte Frau Krampe, lieber Wolfgang Nickel, sehr geehrte Damen und Herren,

die Ausstellung, die wir heute mit Werken von Wolfgang Nickel eröffnen, zeigt eine thematisch zusammenhängende Serie seiner Glasarbeiten, wie sie seit Jahren Nickels Markenzeichen sind, aber auch eine bei ihm auch für mich ganz neue Form des künstlerischen Ausdrucks, nämlich kleine Bronzen. Die stark reduzierten polierten Figuren widmen sich dem Thema der Zweisamkeit von Mutter und Kind - ja sie heißen sogar "Maria mit Kind", haben also tatsächlich die Darstellung der Madonna als ikonographischen Hintergrund. Die stärker mimetisch, also abbildhaft gearbeitete "Frau mit gebenden Händen" scheint einen Archetypus ohne konkreteres Vorbild darzustellen.

Ich werde den Großteil meiner Rede den Glasarbeiten widmen, möchte aber zu Anfang doch auch erzählen, wie es zu diesen Bronzearbeiten kam. Es ist eine ziemlich verrückte Geschichte, die man nicht im Detail kennen muß, von der man aber jedenfalls wissen sollte, daß Wolfgang Nickel schon wiederholt nach Asien gereist ist. Im vergangenen Jahr ergab sich der Kontakt zu der Bronzegießerei eines Chinesen in Thailand. Wolfgang Nickel wurde als ausgewählter europäischer Künstler eingeladen, eine Zeitlang in dieser Bronzegießerei zu arbeiten, freie Kost und Logis inbegriffen. So machte sich Wolfgang Nickel Anfang 2018 für mehrere Wochen auf den Weg nach Thailand, um in einem aufwendigen Herstellungsprozeß das Experimentieren in bildhauerischer Arbeit zu beginnen: Angefangen beim Modellieren der Negativformen in Ton über die Schaffung eines Wachsmodells, die Fertigung der Schamotte-Form, die dann die Grundlage für den eigentlichen Bronzeguß darstellt bis hin zur Politur oder Patinierung der fertigen Figuren. Nach Abschluß der Arbeiten konnte Wolfgang Nickel 62 Bronzeplastiken im Schiffscontainer auf die Reise nach Hamburg schicken und stellt nun erstmals aus den jeweils limitierten Reihen von vier Versionen der "Maria mit Kind" und zwei Größen der "Frau mit gebenden Händen" aus. Parallel hierzu vermittelte die Bronzegießerei Arbeiten auf Messen in China.

Soviel zu den Bronzefiguren. Nähern wir uns der Serie von Glasarbeiten, deren thematische Klammer - Grundrißzeichnungen und erotische Darstellungen - man nicht auf den ersten Blick durchschauen kann. Sie ist aber vorhanden.

Man kann die Serie in zweierlei Hinsicht unter dem Begriffspaar "Form und Inhalt" betrachten. "Lustgärten" ist die Schau benannt, und in der Tat bildeten ein echter Lustgarten und die Grundrisse weiterer Gärten und Schloßhöfe mit ihren formalen Aspekten (Symmetrie) den Ausgangspunkt für diese Serie. Was sich in der Form "Lustgarten" aber für Lebens-Inhalte abspielten, das zeigt der zweite Arbeitsabschnitt mit den erotischen Glasmalereien. Form und Inhalt also. Wie die formale Gestaltung ebendieser erotischen Szenen in Glas wiederum das Wesen der Erotik selber einzufangen imstande ist, wie also hier noch einmal die Form den Inhalt der Darstellung widerspiegeln kann, werde ich im Verlauf meiner Ausführungen ebenfalls unter die Lupe nehmen.

Beginnen wir bei dem echten Lustgarten, dessen Rekonstruktion im Jahr 2015 für Wolfgang Nickel den Anstoß zur Beschäftigung mit diesem Thema gab. Es handelt sich um den barocken Garten am Südhang der Wilhelmsburg Schmalkalden. Anlaß der Rekonstruktion war die damalige Landesgartenschau, ihre Grundlage eine einzige verbliebene Zeichnung des Gartens. Historische Stadtpläne und Gemarkungskarten haben Wolfgang Nickel aber schon lange inspiriert. Sie bieten jede Menge Möglichkeiten wenn nicht einer realen, so doch zumindest einer gedanklichen Rekonstruktion alter Bauzustände. Alte Grundrisse regen uns an, Umbauten, Erweiterungen und Anpassungen der Anlage und Gebäude nachzuvollziehen. Den Glaskünstler Wolfgang Nickel, dessen eigene Arbeiten ja, das werden wir noch eingehender betrachten, immer vom Aufbau in mehreren Schichten leben, hat das mögliche Sichtbarmachen von Veränderungen und den daraus resultierenden Schichtungen von Bebauung und Landschaftsstruktur fasziniert. Und so ist es nicht verwunderlich, daß die gärtnerischen Rekonstruktionen in seiner Heimatstadt Nickels Interesse weckten und er sich dem Thema "Lustgärten" zuwandte. Alle hier ausgestellten Werke waren dann auch in der Kleinen Galerie in der Wilhelmsburg Schmalkalden vor zwei Jahren erstmals zu sehen. Es entstanden also mit Werken wie "Schlossanlage" und "Der erste Lustgarten", "Der andere Lustgarten", "Der vierte ... sechste Lustgarten" - Konstruktionszeichnungen in Glas mit zum Teil noch lesbaren Schriftelementen: "Exercierplatz", "Pfalz".

Wie geht sowas? Wie bringt man - als Glas-in-Glas-Malerei, mit in jeder Farbschicht eigens eingebrannten Pigmenten - so feine Formen an die Wand? Ich kann nur sagen: Erstens mit ganz feinem Werkzeug, das das zerstoßene Buntglas bzw. die losen Pigmente auf die vorbereitete Scheibe aufbringt. Zweitens mit einer ganz ruhigen Hand. Und drittens mit einem natürlich gegebenen und lange geschulten Talent, schön zu zeichnen.

Wie aber bringt man diese schönen Zeichnungen dann zur Geltung? Glas, das wissen wir, muß doch hinterleuchtet sein, um zu strahlen. Wie geht das im geschlossenen Rahmen? Vor dunklem Hintergrund spiegelt es doch. Wolfgang Nickel hat einen Weg gefunden. An die "Baumarktvariante", also an eine Installation von LED-Leuchten, die nur ein totes, gleichförmiges Licht hervorbringen könnten, hat er dabei nie ernsthaft gedacht. Nein - er bringt die Glasarbeiten auf zentimeterweiten Abstand zum Rahmenhintergrund. Das reicht aus. Wir können es beispielsweise im Bild "Der vierte Lustgarten" beobachten. Der strahlendweiße Rahmenhintergrund reflektiert das Sonnenlicht so hell, daß das Bild hinterleuchtet erscheint. Zugleich aber werfen die gemalten Formen orangefarbene Schatten auf den Bildhintergrund. Von innen heraus also leuchten Punkte und Flächen, wie von alten Kirchenfenstern in eine Sakralarchitektur geworfen. Die leuchtenden Punkte strahlen aus dem Kunstwerk heraus und führen zu einer Überlagerung der Zeichnung mit ihrem eigenen Schatten.

Das ist ein gutes Stichwort, um eingehender über die generelle Arbeitsweise Wolfgang Nickels zu sprechen. Die Werke gehen vom Flachglas aus - also von einer Glasscheibe - von einer Glasscheibe allerdings, die bis zum fertigen Kunstwerk viele viele Arbeitsschritte und Brennvorgänge durchläuft. Zunächst fertigt Wolfgang Nickel eine Schamotteform, die er wie ein Bildhauer modelliert, bis das Relief seinen Vorstellungen entspricht. Hier wird die Glasscheibe aufgelegt, die beim Erhitzen das Relief der Schamotteform aufnimmt. Die Voraussetzungen sind geschaffen für ein Glasbild, das zwar lichtdurchlässig bleiben, zugleich jedoch je nach Betrachtungswinkel ein in Farben aufgebrochenes Licht reflektieren oder das weiße Licht spiegeln wird. Dann bringt Wolfgang Nickel Farbpigmente oder zerstoßenes buntes Glas in einer Zeichnung auf. Die Scheibe wird ein erstes Mal gebrannt. Eine weitere Zeichnung kommt hinzu - wie wir das etwa bei der "Geisha mit Kranichen" sehen können, in der die blutrote Figur der Geisha die weiße Zeichnung eines Gartengrundrisses und hellblaue Ornamentik überlagert. Die Zeichnung wird vielleicht auch gedoppelt und auf Vorder- und Rückseite des Glases aufgebracht. Wenn der Betrachter sich vor dem Bild bewegt, verschieben sich die identischen Bilder leicht gegeneinander, die Figur erscheint wie mit einem Weichzeichner aufgenommen - sehr gut zu sehen etwa im Bild "Enthüllung". Nach jedem Mal- und Zeichenvorgang muß die Glasscheibe gebrannt werden - und manchmal erlebt der experimentierende Künstler dann eine Überraschung, wenn Farben sich im Brennvorgang in unerwarteter Weise verändern. So entstehen in vielen Schritten die im Wortsinne vielschichtigen Werke, deren Formen sich überlagern und so auch im Sinngehalt eine Vielschichtigkeit hervorbringen.

Kommen wir zu den "Frühlingsbildern", zu den erotischen Darstellungen der Serie "Lustgärten". Ich habe ja schon erwähnt, daß die Assoziation von den "Lustgärten" zur Lust selber - also von einer Form zu ihrem Inhalt - für Wolfgang Nickel nicht weit gewesen ist. Ein Übergangsbild vom einen zum anderen Thema finden wir in der "Geisha mit Kranichen", in der wie schon gesagt ein Gartengrundriß im Hintergrund von der tanzenden Frau mit den Kranichen überlagert wird.

Wolfgang Nickel begann, sich mit den Zeichnungen der "Shunga" - zu deutsch eben "Frühlingsbilder" - künstlerisch auseinanderzusetzen. Die originalen "Frühlingsbilder" entstanden in Japan von etwa 1600 bis etwa 1900, in der Epoche der sogenannten Edo-Zeit, in der sich Japan vollständig von allen westlichen Einflüssen abgeschottet hatte. Während dreier Jahrhunderte also publizierten namhafte japanische Künstler meist unter Pseudonym Holzschnitte und Zeichnungen, die weite Verbreitung fanden, bis sie um 1900 in Japan verboten wurden.

Wolfgang Nickel nimmt Elemente der Shunga-Zeichnungen in die eigenen Glasarbeiten auf. In "Du bist mehr als der Frühling", in "Morgenröte" und im "Regenspiel", in "Enthüllung" und "Fröhliches Treiben" sind liebende Paare, ist der freudige Schreck im ersten Entdecken des Körpers dargestellt. Liebevoll und mit handwerklicher Meisterschaft umreißen wenige Striche hübsche oder niedliche, jedenfalls sympathische Physiognomien, die den Betrachter für die Figuren einnehmen. Die Körper sind vielfach verfremdet. So vermögen die Rundungen abgewinkelter Beine kaum wirklich die Stellung eines der Körper abbilden zu wollen. Sie scheinen eher im Bild plaziert wie die Genrezitate der nachempfundenen, rein ornamental zu verstehenden japanischen Schriftzeichen.

Anders als die "Shunga", die in ihrer Eindeutigkeit recht brutale Anleitungen zur Zärtlichkeit und wirklich schamlose Gebrauchsanweisungen für die menschlichen Sexualorgane sind, anders also als die "Shunga" verbergen die Zeichnungen Nickels ebensoviel wie sie zeigen. In der buchstäblichen Vielschichtigkeit - nämlich der Mehrfachbemalung des Glases - durchdringen und überlagern sich die teiltransparenten Schichten der Zeichnungen und Ornamente, verhüllen und interpretieren sich. Ist ein Motiv auf die Vorder- wie die Rückseite einer Glasplatte gezeichnet wie etwa in "Enthüllung", erscheinen die Konturen uneindeutig und verschwommen und verändern sich je nach Position des Betrachters zum Bild. Der im Vorbeigehen sich wandelnde Lichteinfall auf die spiegelnde Fläche tut ein übriges, um Inhalte zu überblenden und zu verbergen.

Wolfgang Nickel überläßt keine seiner Darstellungen jener obszönen Eindeutigkeit, die den "Shunga"-Zeichnungen eignet. In seinen "Lustgärten" gibt er den Figuren die Verhüllung in der Zurschaustellung körperlicher Liebe zurück und schafft damit ebenjenes verbergende Zeigen, dessen Paradoxalität ja das Wesen der Erotik ausmacht. In ihren Lichtspielen, im gegenseitigen Klären und Verklären der Bildgehalte bringen nicht nur die dargestellten Inhalte der "Lustgärten", sondern die Glasarbeiten selbst auch formal das Flirren knisternder erotischer Spannung hervor.

In der Rezeption und seiner eigenen Überarbeitung der "Frühlingsbilder" hat Wolfgang Nickel die Darstellungen der "Shunga" sublimiert und der erotischen Darstellung einen hohen künstlerischen Gehalt zurückgegeben. Ein Weiteres für die Verfeinerung der Thematik tun übrigens die sensiblen mittelalterlichen japanischen Gedichte, die Wolfgang Nickel in seinem Büchlein "Lustgärten" den Abbildungen zur Seite gestellt hat. Wie diese Gedichte archetypische Situationen der Sehnsucht, der Verzweiflung des Verlassenen oder der erfüllenden Erinnerung an eine Liebesnacht festhalten, so stellen Wolfgang Nickels Glasbilder archetypische Situationen des Liebens und Geliebtwerdens dar.

Jeder Betrachter und jede Betrachterin wird die Szenen anders zu Ende denken. Viel konkreter also als spätromantische Musik und noch vielfältiger als ein moderner Ausdruckstanz erzählt jedes Bild mehr als nur eine Liebesgeschichte: Es erzählt mehr als nur eine, denn für jeden Betrachter sind die Situationen einer anderen Erzählung entnommen, und sooft wir eine der Konstellationen anschauen, schreibt ihre Geschichte sich anders weiter; und es erzählt mehr als nur eine Liebesgeschichte. In ihrem Schillern und ihrer Uneindeutigkeit, in der Unmöglichkeit, sie thematisch festzulegen und auf einen einzigen Inhalt zu reduzieren, in ihrem Spiegeln und Blenden und den unergründbar dunklen Punkten mehrfacher Überlagerungen erzählen die "Lustgärten" vom Wesen der Liebe selbst.

Vielen Dank.

Dr. Cornelie Becker-Lamers