"Farbe, du wechselnde, komm"

Zu Wolfgang Nickels Arbeiten in Glas

 

Ob Farbe ein Pigment ist, dessen Atome ganz bestimmte Teile des Farbspektrums verschlucken und andere reflektieren, die sich dann additiv mischen; ob sich diese Eigenschaften an der Luft oder während des Brennvorgangs verändern; ob Farbe elektromagnetische Strahlung einer bestimmten Wellenlänge ist und aus dem weißen Licht herausgebrochen werden kann - Chemie und Physik halten trickreiche Erklärungsmodelle bereit, wenn es um die Frage nach der Herkunft der Farben geht. Eines aber können und wollen die Naturwissenschaften nicht erklären: Was den Zauber der Farben und ihre Anziehungskraft auf den Menschen ausmacht (die biologistische Reduktion auf "sex and crime", der durchaus auch Kunsthistoriker anhängen, möchten wir an dieser Stelle nicht für ausreichend halten.)

Wolfgang Nickel hat den Umgang mit Farben und den gezielten Einsatz ihrer Wirkungen gelernt, als er in den 80er Jahren an der Burg Giebichenstein Malerei und Grafik studierte. Seit er ein Vermächtnis angetreten hat und sowohl großflächige Malerei als auch hauchzarte Grafik nun in Glas produziert, inszeniert er ein übriges: Das Licht. Farbe und Licht treten uns in seinen Werken gemeinsam gegenüber und sind in ihrer Wirkung nicht zu trennen oder gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil: Man möchte eigens festhalten, daß die Farben als hinterleuchtete heller - eben 'lichter' - wirken und von innen heraus zu strahlen scheinen.

Die Farben begegnen uns im Werk von Wolfgang Nickel gleich im doppelten Sinne: zum einen als die Farben der verwendeten Pigmente (die ihre Farbigkeit im Brennvorgang verändern). Zum andern als die sich fortwährend wandelnden Farben, die Goethe in pantheistischer Euphorie als "Taten und Leiden des Lichts" beschrieben hat: als die nur scheinbaren Verfärbungen also, die einem sich ändernden Lichteinfall geschuldet sind, wenn wir uns vor dem Bild bewegen. Und das Licht selber setzt Wolfgang Nickel in Szene, indem er sich den Brechungskoeffizienten des Glases zunutze macht. Ein knappes Vierteljahrhundert des Experimentierens und Schaffens liegen da mittlerweile hinter ihm.

Die Ausbreitung des Lichtes ist - so paradox dies scheinen mag - unsichtbar (sonst wäre der Weltraum nicht schwarz). Licht wird sichtbar erst als reflektiertes, an einem Gegenstand gebrochenes, dessen Strahl dann direkt in unser Auge fällt. Der Sichtbarmachung dieses Unsichtbaren - so unausweichlich, allumfassend und so unbedingt lebensnotwendig, daß es seit jeher der Sphäre des Heiligen zugerechnet wurde - begegnen Spaziergänger im morgenfrischen Wald, wenn Tautropfen in der Luft die durchs Laub einfallenden Sonnenstrahlen streuen. Mithilfe von Weihrauch erzielt die Kirche denselben Effekt, um das in dunkle romanische Basiliken fallende Licht zu vervielfachen und die Versinnbildlichung des unfaßbaren Göttlichen im hundertfarbigen Licht der hohen gotischen Dome zu perfektionieren.

Bei senkrechter Beleuchtung tritt Licht ohne Ablenkung durch Glas hindurch. Das Glas wirkt farblos und durchsichtig. Bemalt oder mit Pigmenten bestreut und gebrannt, wird Glas opak, das heißt es bleibt lichtdurchlässig, aber nicht durchsichtig. Reflektierend oder vollends zum Spiegel, lichtundurchlässig und undurchsichtig wird Glas, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf seine Oberfläche trifft. Möchte man schillernde Gegenstände herstellen, deren farbige Reflexionen sich mit den aufgebrachten Pigmenten der Farbflächen, der feinen Grafiken oder der Schriftbilder mischen, kann man nicht beim Flachglas stehenbleiben.

Genau deshalb tut Wolfgang Nickel das auch nicht. Vielmehr fertigt er für ein neues Werk eine Schamotteform, die er wie ein Bildhauer bearbeitet, bis ihre Oberflächenstruktur genau seinen Vorstellungen entspricht. Hierein bettet er die Glasscheibe, die beim Erhitzen die Krater und Wölbungen der Matrix aufnimmt und sie erkaltend festhält. Die Voraussetzung ist geschaffen für ein Bildwerk, das das Licht wie Milchglas streuen, an anderen Stellen je nach Position des Betrachters reflektieren und das Licht brechen wird.

Für seine durchaus gegenständlichen und figürlichen Zeichnungen (ich kenne kaum einen Künstler, der mit so behutsamem Schwung und so wenigen Strichen so entzückende Physiognomien zu zeichnen versteht) bemalt Wolfgang Nickel ein moderat strukturiertes Glas wohl auch von der Vorder- und Rückseite mit demselben Motiv. Was heißt: bemalt? Mit feinsten Pipetten werden Farbpigmente in der gewünschten Form aufgebracht und jede Farbe einzeln gebrannt. Die so auf Vorder- und Rückseite gebannten, identischen Bilder überlagern sich aufgrund der Glasstärke je nach Betrachtungswinkel und bringen mit ihren gedoppelten Umrißlinien eine Art Weichzeichnereffekt hervor - zauberhaft beispielsweise in den erotischen Zeichnungen der Serie "Lustgärten" (2016), in denen die buchstäbliche Vielschichtigkeit (nämlich Mehrfachbemalung) des Glasbildes zur gegenseitigen Durchdringung und Überlagerung der teiltransparenten Schichten der Zeichnungen und Ornamente führt. In ihren Lichtspielen, im gegenseitigen Klären und Verklären, Zeigen und Verbergen der Darstellungen bringen nicht nur die Bildinhalte der "Lustgärten", sondern die Glasarbeiten selber auch formal ebenjenes Flirren hervor, welches das Wesen der Erotik ist.

Klarer können die Linien gehalten sein, wenn es gilt, inhaltsreiche Gedichte zuverlässig lesbar im Glasbild festzuhalten: "Poesie in Glas" (2015), eine Serie, in der Wolfgang Nickel Lyrik von Rainer Maria Rilke, Friedrich Hebbel, Conrad Ferdinand Meyer und anderen in Glasbilder gebrannt hat, setzt Gedichtverse lesbar um und bringt zugleich den Textinhalt mit dem figürlichen Bildinhalt zur Deckung. Im "Panther" von Rilke etwa werden die zweifach wiedergegebenen, gleichförmigen Zeilen selber zur gleichsam doppelten Sicherung der Gitterstäbe, hinter denen das stolze riesenhafte Tier gefangengehalten und innerlich vollständig gebrochen wird.

Text auf Glas zu bringen kennt Wolfgang Nickel von seinen vielen Aufträgen in Kirchen her, in deren Fenstern er, so diese denn figürliche Elemente zeigen dürfen, neben geläufigen religiösen Symbolen wie Weinstock und Reben, dem Gotteslamm oder auch dem Krummstab biblische Texte wiedergibt. So finden wir in der Michaeliskirche Erfurt im "Fenster der Liebe" (2004) Abschnitte aus dem "canticum canticorum", dem Hohenlied Salomos, zitiert.

Doch um zum Anfang unserer Ausführungen zurückzukommen: Neben seinen Figuren- und Textserien, den Kathedralgrundrissen und Schloßarchitekturen hat Wolfgang Nickel auch eine ganze Reihe von ungegenständlichen Werken geschaffen: Kirchenfenster zum Beispiel, die nur vom Spiel des farbigen Lichts leben, aber auch Glasbilder im quadratischen Format der Lyrikserie. Werktitel wie "Klangbilder" oder "Interferenzen" (2015) geben dabei den Hinweis darauf, daß der Künstler hier genau das angestrebt hat, was ich eingangs darzustellen versucht habe: Die Durchdringung von Licht und Farbe, von Pigmentfarben und den Illusionen der Reflexion, die Überlagerung der Darstellungen mit ihrem eigenen Schatten auf dem zentimeterweit entfernten Rahmenhintergrund. Licht und Farbe machen die ursprünglich flachen Bilder dreidimensional.

Dr. Cornelie Becker-Lamers

 

Der Titel des Beitrags ist ein Zitat aus dem Gedicht: Johann Wolfgang von Goethe, Licht und Farbe, Goethes Gedichte zur Farbenlehre Nr. 13, zitiert nach Albrecht Schöne, Goethes Farbentheologie, München: Beck 1987, S. 89.

Der Text erscheint demnächst in: Galerie ADA (Hg.), Wolfgang Nickel. Visionen in Glas, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 13.10.2018-17.02.2019 (im Druck).