Plantagrafie oder Die Zustimmung. Gisela Kunzendorffs Radiografien in der Ausstellung "Verborgene Schöpfung"

Rede zur Ausstellungseröffnung

Sonntag, 25. Juli 2017 11 h, Foyer der Kassenärztlichen Vereinigung Weimar

Sehr geehrte Frau Riemer, liebe Gisela, meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist genau fünf Jahre her, daß wir hier schon einmal zusammengekommen sind, um die Eröffnung einer Ausstellung von Pflanzenfotografien Gisela Kunzendorffs zu feiern. Damals war die Schau mit "Metamorphose der Pflanzen" betitelt und der Fokus der Arbeiten lag auf der Inszenierung der verschiedenen Stadien pflanzlicher Entwicklung vom knospenden Keim bis zum welkend fallenden Blatt der fruchtausbildenden Blüte. Die Bilder waren zum Teil der gleichnamigen Elegie Johann Wolfgang Goethes - "Metamorphose der Pflanzen" -zugeordnet, der darin ja genau diese Entwicklung der Pflanze detailliert beschreibt und das Gisela Kunzendorff in mehreren Varianten durch Fotoserien veranschaulicht hat. Den Schwerpunkt der damaligen Ausstellung aber machten großformatige Fotografien voll erblühter Tulpen, Rosen, Mohne, Hyazinthen Tausendschönchen und anderer Blumen aus und unsere Blicke versanken in der Farbenpracht gefüllter Blütenkelche.

Seither hat Gisela Kunzendorff - von Hause aus übrigens promovierte Augenärztin und bis 2006 jahrzehntelang in eigener Praxis in Erfurt tätig - seither hat Gisela Kunzendorff ihre Kunst weiterentwickelt. Schon ihre Bilder von welkenden, trockenen Blüten hatten die feine Textur der Blattadern ahnen lassen, die im verborgenen die Blüte mit Wasser und Nährstoffen versorgen. Nun ist die Suche nach der Sichtbarmachung dieser verborgenen Strukturen des Pflanzenkörpers ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit gerückt: Seit etwa vier Jahren experimentiert Gisela Kunzendorff mit Röntgenaufnahmen von Blüten und Pflanzen. Die Farben sind aus den Bildern verschwunden und haben feinen schwarz-weiß-Aufnahmen Platz gemacht, die den Zeichnungen Alter Meister ähnlicher scheinen als einer digitalen Fotografie.

Nehmen wir zum Beispiel die Röntgenaufnahme der Lampions im Halbgeschoß, die wie mit einem sehr weichen Bleistift nur hauchzart gezeichnet zu sein scheinen. Die Anthurie und die beiden Aufnahmen einer Amaryllis offenbaren die feinen Binnenstrukturen der Blütenblätter. Sie sehen, wie Teile der Blüte vollständig von den Röntgenstrahlen durchdrungen werden und keine Spur auf dem Papier hinterlassen - vergleichbar menschlichem Gewebe, das komplett durchleuchtet wird, wenn ein Teil des Skeletts dargestellt werden soll. Anders schon die verdickten Ränder der Blütenblätter, aber auch Pflanzenstängel und Stempel oder gar Kerne und Fruchtansätze. Je nach Dichte lassen sie die Strahlung nur noch in unterschiedlichen Abstufungen passieren und werden auf dem Schirm abbildbar. Um die Feinheiten der Abstufung optimal wiederzugeben, werden die Radiografien nicht einfach in schwarz-weiß, sondern auf einem 11-Farben-Drucker ausgedruckt, der viele Grauwerte umsetzen kann. So erscheint auch der Hintergrund der Eichen und der Taubnessel in Grauabstufungen wie auf einem beim Antiquar erworbenen Blatt.

Das klingt einfacher als es ist, denn es waren für die Künstlerin lange Versuchsreihen vonnöten, bis die Pflanzen so auf dem Bildschirm erschienen, daß es Gisela Kunzendorff zusagte: Die Kerne nicht zu dicht, die Blütenblätter nicht zu durchsichtig. Denn der Anspruch an die Bilder ist, daß sie nicht digital nachkoloriert werden müssen, sondern tatsächlich die jeweiligen Röntgenaufnahmen wiedergeben - natürlich mit gesäubertem Hintergrund und freigestellten Formen. Und mit einem Unterschied: Röntgenaufnahmen sind weiß. Weiß auf schwarzem Untergrund, wie das die Radiografien der Rose, der Distel und der Celosia noch wiedergeben. Gisela Kunzendorff aber schwebt für diese Bilder meist die Ästhetik alter Zeichnungen vor und so muß sie Aufnahmen erzielen, die invers ausgedruckt alle gewünschten Effekte darstellen.

Mit der Fotografie an die Ästhetik von Zeichnungen heranreichen - wie kommt man auf diese Idee, setzte die Fotografie ursprünglich doch ihrerseits bei der Nachahmung der Zeichnung an?

Gisela Kunzendorff selber legt die Spur, indem sie als eines ihrer Vorbilder den Modelleur Karl Blossfeldt benennt, dessen Pflanzenfotografien zwischen künstlerischem Arrangement und Naturvorbild changieren. Karl Blossfeldt wurde 1865 in einem Dorf nahe Harzgerode geboren und konnte bereits in Jugendjahren die Fotografie kennenlernen (wesentliche Erfindungen im Zusammenhang mit der Fotografie fallen in die 1840er Jahre, wie das Senken der Belichtungszeit von Stunden auf Sekunden, das erste Objektiv der Firma Voigtländer, die erste Negativbelichtung, die die Herstellung beliebig vieler Abzüge erlaubte). Nach der Lehre in einer Kunstgießerei in Mägdesprung studierte Blossfeldt an der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums Berlin - der Vorläuferinstitution der heutigen Universität der Künste Berlin - und wurde Modelleur und Bildhauer. Die Tausenden sehr gleichförmiger Fotografien, für die Karl Blossfeldt seit Ende der 1920er Jahre berühmt ist, entstanden seit Mitte der 1890er Jahre für das Seminar von Professor Moritz Meurer, der eine Generation älter als Blossfeldt ist und an besagter Unterrichtsanstalt Pflanzenstudium für das Kunstgewerbe unterrichtete. Da frische Blumen nicht rund ums Jahr, sondern je nach Gattung immer nur in sehr begrenzten Zeiträumen zur Verfügung standen, kam die Idee der Bronzemodelle und fotografischen Vorlagen für die Seminararbeit auf (ähnlich wie schon Jean-Baptiste Houdon (1741-1828) 1767 mit seinem "Écorché" wohl nach antikem Vorbild Vorlagen für das Anatomiestudium der Aktzeichner geliefert hatte). In immer gleicher Anordnung - mittig und ausschnittsweise, dann auch in verschiedenen Graden der Vergrößerung - schuf Blossfeldt in drei Jahrzehnten tatsächlich Tausende von Blumenfotografien aus eigenen Sammlungen in den Feldern rund um das damals ja noch viel kleinere Berlin, im Botanischen Garten, aber auch auf Reisen nach Italien, Griechenland und Nordafrika. An eine Ausstellung seiner Werke dachte er wohl nie, denn er war fast 60, als im Rahmen einer universitären Exposition einige seiner Werke gezeigt und von dem Galeristen Karl Nierendorf entdeckt wurden. Doch dann ging alles sehr schnell: Namhafte Schriftsteller wie Walter Benjamin und Georges Bataille analysierten Blossfeldts Fotografien und feierten sie als Meilensteine in der Geschichte der Wahrnehmung - je nach Kulturkreis als Vorreiter der Neuen Sachlichkeit in Deutschland oder als Prototypen surrealer Fotografie in Frankreich.

Was sah man in diesen Fotografien und was wollte Blossfeldt, über die Zwecke als Lehrmittel hinaus, selber damit bewirken? Moritz Meurer, der Initiator der Bilder, wollte zeigen, daß die bis dahin im Kunstgewerbe immer wieder kopierten klassischen Blumenformationen in den Naturformen selber gründeten und hielt seine Studenten an, durch das Nachzeichnen der Naturformen zunächst das Hinschauen und dann auch die Kunstfertigkeit zu üben, um zu eigenen und damit neuen ornamentalen Mustern zu finden, nach denen die Verzierungen des frühen Art Déco und des Jugendstils so dringend verlangten.

Selbstverständlich mangelte es bereits damals nicht an Spöttern wie Stanislav Kubicki, der sicherlich nicht ganz zu Unrecht feststellte, die Kunst der Antike und die klassizistischen Formen könnten nicht diesen Naturformen abgeschaut sein, die in ihrem Arrangement auf dem Fototisch doch selber der Kunst nachgestellt waren. In der Tat verwendete Blossfeldt Knetmassen und Drähte, um die schnell verfallenden Blumen während des Arbeitsprozesses in Form zu halten. Denn anders als Gisela Kunzendorff wollte Karl Blossfeldt nicht auch welkende Blumen fotografieren. Weit davon entfernt, die Schönheit der verfallenden Blüte zu erkennen, wie frühere Arbeiten von Gisela Kunzendorff sie uns vor Augen führen - denken Sie an die beiden welkenden Narcissen, an die verblühende Tulpe oder die vor Trockenheit transparente weiße Orchidee, die vor fünf Jahren hier in der KV oder auch 2011 im Klinikum zu sehen waren - weit davon entfernt also, die Schönheit der verfallenden Blüte zu erkennen, macht etwa Georges Bataille in seinem Blossfeldt-Essay "Die Sprache der Blumen" (1929) gerade die Dichotomie von gefeierter Blüte und verfemtem Verfall auf, um das Phänomen in sein, Batailles, Weltdeutungsmuster einzufügen: Der Dichotomie nämlich von Heiligem und Ausgesondertem.

Blossfeldt selber wollte, eigenen Äußerungen zufolge, die Pflanzen nur zeigen, keine Formen deuten. Für ihn standen keine fototechnischen Ambitionen, sondern ganz der Zweck der Unterrichtsmaterialien im Vordergrund. Dies erklärt, daß er über 30 Jahre hindurch nicht mit der Fototechnik oder auch nur dem Blickwinkel der Aufnahmen experimentiert hat. In einer Ehrfurcht vor der Natur aber wollte er schon damals, vor 125 Jahren, unsere "Verbindung mit der Natur wieder herstellen", in uns den "Sinn für die Natur wecken", auf den "überreichen Formenschatz der Natur hinweisen" und den Betrachter seiner Fotografien zu eigenen Beobachtungen der Pflanzen anregen". Die Pflanze, so Blossfeldt, sei als "durchaus künstlerisch-architektonischer Aufbau zu bewerten", der einen "ornamental-rhythmisch schaffenden Urtrieb" im Daseinskampf mit der "Zweckform" verbinde. Den statischen Gesetzen, denen auch die Pflanzen unterworfen seien, würde hier nie in bloßen zweckhaft-sachlichen Formen Genüge getan, sondern die Natur führe sie stets zu "höchster künstlerischer Form". Daher sei die Natur "in Kunst und Technik die beste Lehrmeisterin. Sie eine Erzieherin zur Schönheit und Innerlichkeit und eine Quelle edelsten Genusses." (Alle Zitate K.B., Wundergarten, S. 199)

Letzteres würden wir sicherlich angesichts der Radiografien von Gisela Kunzendorff alle sofort unterschreiben. In einer Zeit, in der, wie Michael Newman feststellt, die analoge Fotografie zum archaischen Medium wird und die Zeichnung dem Zustand der Fotografie zustrebt, stehen wir staunend und fasziniert vor diesen Abbildungen, die Zeichnungen - also menschliche, künstlerische Konstruktionen - zu sein scheinen und doch die objektivsten und gewissermaßen intimsten Darstellungen eines Bildgegenstandes sind, den wir uns vorstellen können - die Abbildung seiner Durchleuchtung. Die Zeichnung muß ihrem Gegenstand übrigens etwas hinzufügen. "Die Natur kennt keine Linien", wie man so schön sagt und damit meint: Was man zeichnet, ist nicht durch die Linie von seiner Umwelt abgegrenzt, die auf dem Papier erscheint. Die Zeichnung also muß hinzufügen, Gisela Kunzendorff nicht: Die "Linien", die wie bei einer Zeichnung auf den Röntgenaufnahmen der Blumen sichtbar werden, sind der Blüte nicht hinzugefügt, sondern bilden die geringfügige Verdickung ab, durch die die Blattränder sich stabilisieren. Diese Linien kennt die Natur. Diese Linien sind wirklich da.

In ihrer Reduktion reichen die Radiografien von Gisela Kunzendorff aber auch an ein Thema heran, das die Künstler der Moderne wie Matisse oder Picasso in ihren Zeichnungen umtrieb: Der Weg weg von der anatomisch-korrekten Abbildung hin zu einer Suche nach der Essenz des Dargestellten. Im Röntgenbild der Blumen, die die einzelne Pflanze auch unserer natürlichen Wahrnehmung des bunten, lebensvollen Gewächses entfremdet, kann m.E. auch eine solche Suche nach der Essenz, dem Wesen oder zumindest dem Wesentlichen des Bildgegenstandes gesehen werden. Und zwar des individuellen Bildgegenstandes. Denn während im medizinischen Röntgen das entstandene Bild nicht um seiner selbst willen betrachtet, sondern mit Vor-Bildern und normativen Mustern verglichen wird, um Abweichungen zu korrigieren, geht es in den Radiografien von Gisela Kunzendorff genau um mögliche Abweichungen von normierten Vorstellungen. Hier ist ein geknittertes Blütenblatt, um bei dem Vergleich zu bleiben, eben gerade "kein Beinbruch", sondern wird als eine der tausend Möglichkeiten des Werdens und Welkens dieser Pflanzengattung wahrgenommen, bejaht und in Szene gesetzt. Wie schon ihre älteren Plantagrafien den Blick bewußt auf die unerwartete Schönheit verwelkender Blüten lenkten und unsere Wahrnehmung dadurch nachhaltig verändern konnten, so entkleiden die Radiografien Gisela Kunzendorffs die Blumen ihrer äußerlich wahrnehmbaren farbenprächtigen Gestalt und machen die vielfältigen, je individuellen, in allen Fällen aber verborgenen Strukturen sichtbar, die die Pflanze überhaupt erst am Leben erhalten und zum Erblühen bringen können.

In zwei Fotografien, Sie haben es bemerkt, stellt uns Gisela Kunzendorff schon wieder ihr neuestes Projekt, den nächsten Entwicklungsschritt ihrer Fotokunst vor: Focus-Stacking. Die Fotografien der Physalis und des Granatapfels sind schärfer, als sie bei einer einfachen Aufnahme sein könnten. Großaufnahmen erzielen eine nur geringe Tiefenschärfe. Ist das Zentrum eines Bildgegenstandes scharf, sind Vorder- und Hintergrund bereits leicht verschwommen. Nicht so hier in diesen beiden Bildern. Denn sie sind durch 10 und mehr Aufnahmen derselben Frucht entstanden und in einem aufwendigen, trotz Computerunterstützung eigentlich handwerklichen Verfahren übereinandergelegt worden, um ihre Brillanz und Tiefenschärfe zu erhalten. Ich freue mich sehr auf die Fotos, die hier mit Sicherheit bald kommen werden.

Wunderschön und lehrreich zugleich sind die Pflanzenradiografien und -fotografien von Gisela Kunzendorff, und ich möchte Sie nun nicht länger von dieser "Quelle edelsten Genusses" fernhalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar