Skulptur . Weimar . 2008

Günter Ullmann . Juni – September 2008

Die Veranstaltungsreihe Skulptur . Weimar findet mit der diesjährigen Ausstellung bereits zum zehnten Male statt. Die Galerie Profil rückt hierfür in diesem Sommer vierzehn Skulpturen von Günter Ullmann (* 1946) in den Mittelpunkt. Neun Werke sind im Garten des Dorotheenhofes zu sehen, fünf weitere auf dem bekannten Parcours durch die Weimarer Innenstadt bis hinauf zum Hauptbahnhof.

Den Arbeiten des Viel- und Querdenkers Ullmann – zunächst Matrose, dann studierter Museologe und Historiker, Museumsdirektor, Maler, Bildhauer mit deutlichem Hang zur Mikrophysik – sind Einflüsse unterschiedlichster kultureller Deutungs- und Orientierungsmuster ablesbar. Elemente pantheistischer Religion, esoterischer Spiritualität und aufgeklärter Wissenschaft westlicher Prägung verschmelzen in den Werken Günter Ullmanns mit den formalen Vorgaben der skulpturalen Moderne zu authentischen Zeugnissen einer klaren künstlerischen Intention: Uns alle aus der technokratischen Bewusstseinsbeschränkung des nachaufklärerischen Denkens zu befreien und uns die eigenen Kräfte wieder entdecken zu lassen, die für jeden von uns tausende Wirklichkeiten jenseits der sogenannten Realität zum Vorschein bringen, ist bei Ullmann nicht modisch aufgesetzter Impetus, sondern zutiefst empfundenes künstlerisches wie menschliches Interesse. Dies beweist ein (Lebens-)Werk, das uns – aus Zeichnung, Malerei, Monotypie und Skulptur zusammengesetzt – inhaltlich als außerordentlich konsistentes Schaffen gegenübertritt.

Skulpturen wie die drei Werke mit dem Titel Japonese Balance (2004/ 2007/ 2008) zeugen direkt von der lange währenden und intensiven Auseinandersetzung Ullmanns mit fernöstlichen Weisheitslehren. Ebenfalls aus dem Geiste dieser spirituellen Philosophien aber sind Ullmanns Geomantische Ortszeichen sowie die Tore der Ferne geboren, letztere in der Malerei des Künstlers bereits vorbereitet. Titel wie Superstrings (2006) oder auch schon Resonanzkörper (1995) hingegen verweisen auf die quantenmechanischen Vorgänge, die Ullmann als Zeugen der zwischen Materie und Antimaterie fließenden Energie seinen geomantischen Stelen formal verschwistert und dadurch sichtbar und begreifbar machen will. Morphogenese – die Gestaltbildung der Organismen – ist folgerichtig eine der ebenfalls immer wiederkehrenden Themenstellungen des Künstlers.

Obwohl der Begriff der Geomantischen Ortszeichen als Werktitel vom Künstler selber stammt (also keine Erfindung der Kunsthistoriker ist), kann er in die Irre führen. Als Lehnwort (von griechisch mantheía = die Weissagung) bezeichnet die Geomantie eine die Erde betreffende Orakelwissenschaft, die seit mehreren Jahrtausenden in China praktiziert und durch arabische Wissenschaftler dem Europa des Hochmittelalters bekannt wurde. Geomantische Beobachtungen nehmen Landschaftsverläufe, Wasseradern und gefühlte Erdenergien in den Blick, um den idealen Standort von Bauwerken, Grab- und Kultstätten zu bestimmen. Verwandt ist die Erfahrungswissenschaft des Feng-Shui (deutsch „Wind und Wasser“), die individuelle Lebensräume energetisch ausgewogen zu gestalten helfen will. Verwandt auch die auf den Publikationen Alfred Watkins beruhenden Theorien der Leys, die der Lage prähistorischer Monumente wie Stonehenge die uns verlorene Fähigkeit des steinzeitlichen Menschen abliest, Kraftlinien der Erde zu erspüren und Wege und Bauwerke danach auszurichten.

Auch der christlichen Tradition ist das Bewusstsein des idealen Ortes geläufig: Wann immer das Deckengewölbe eines barocken Kirchenraumes in blaue Farbe getaucht ist und himmlische Heerscharen zeigt, deutet dies darauf hin, dass sich an diesem Ort der Himmel zur Erde neigt. Hintergrund hierfür ist Jakobs Traumvision der Himmelsleiter (1. Mose 28, 10-19), auf der Engel auf und nieder steigen und Jahwe dem Enkel Abrahams gegenüber sein Versprechen von Landnahme und Nachkommenschaft – d.h. ewigem Leben – erneuert. Nach dem Erwachen markiert Jakob seine Schlafstätte durch eine Steinskulptur und tauft den Ort Bethel (deutsch – „Haus Gottes“).

Günter Ullmann ist natürlich weit davon entfernt, Skulpturenpfade religiös überhöhen oder in jedem Fall als energetische Kraftlinien ausweisen zu wollen. Sicher aber ist, dass, wer eine Skulptur aufstellt, einen Ort markieren und als besonderen hervorheben möchte. Obwohl heute fast nur noch von besonders ungeeigneten Orten neuer Bauwerke die Rede ist – man erinnere sich an die Diskussionen um die Dresdener Waldschlösschenbrücke – fest steht, dass Orte, insbesondere Brücken zu markieren als kulturgeschichtliche Konstante gelten kann. Da bei jeder Flussquerung der Schritt in die Anderswelt als Hintergrundbild aufscheint, bewahren Brückenheilige und Schutzpatrone über dem Schlussstein den Hinübergehenden. Brückenköpfe werden durch Reiterstandbilder und andere Herrschaftszeichen besetzt. Die ästhetische Schwelle, die Kunst im öffentlichen Raum heraushebt oder überhaupt erst als solche sichtbar macht, hebt ganze Plätze aus der stumpfen Diesseitsbezogenheit unseres geschäftigen Alltags heraus und macht sie zu Kristallisationspunkten einer ganzheitlicheren Seinserfahrung.

Wie die Kunsthistorikerin Beate Reese bereits bemerkt hat, ist dies auch das Moment, welches die Skulpturen Ullmanns aus dem – formal naheliegenden – Kontext konstruktivistischen Kunstschaffens herauslöst. Der Konstruktivismus erschöpft sich bewusst in seiner formalen Rückversicherung in den geometrischen Grundformen und gründet in ebenjenem technokratischen Weltbild, dem Ullmann gerade entfliehen will. Dies macht der bereits angesprochene zweite große Werkkomplex deutlich, der sich thematisch aus den Forschungen der Quantenmechanik speist.

Auch für hartgesottene Atheisten ist die Welt der Elementarteilchen bekanntlich der letzte Hort des Numinosen: Beheimatet in Wahrscheinlichkeitsaufenthaltsräumen, entziehen sie sich nach wie vor jeder Berechenbarkeit. Denn da jeder mikrophysikalische Messvorgang in den Zustand des beobachteten Teilchens eingreift, kann jeweils nur entweder dessen Impuls, d.h. die gerichtete Geschwindigkeit, oder dessen Position bestimmt werden (wofür Werner Heisenberg 1927 den Begriff der „Unschärferelation“ einführte). Der weitere Weg des Teilchens bleibt unberechenbar. Auch wenn Albert Einstein am grundsätzlich Zufälligen der Quantenmechanik zweifelte – „Der Alte würfelt nicht!“ –, ist die Weltformel, die das Verhalten und das Miteinander-Reagieren kleinster Teilchen vorhersagbar machte, auch mit der Theorie der „Superstrings“, dieser im zehndimensionalen Raum schwingenden Textur des Universums, noch nicht gefunden. Rätselhaft auch die widersprüchliche Doppelnatur des Lichtes, welches zum einen als Welle – Welle bedeutet: Energietransport ohne Massetransport –, zum anderen jedoch auch als Masseteilchen nachweisbar ist. Nach wie vor ist das mögliche Dritte nicht gefunden, das diese Aporie auflösen könnte.

Wesentlich für alle Versuche mit Licht ist der schmale Spalt, an dem Licht gebrochen wird. Unverkennbar spielen Ullmanns Tore der Ferne auf solche Versuchsanordnungen an. Das Licht, das am Spalt seine heilige Natur – wie Goethe es nannte – preisgibt, fungiert seit der mittelalterlichen Kunst als Zeichen des Unsichtbaren. Durch einen Lichttunnel erklimmen in den apokalyptischen Visionen des Hieronymus Bosch die geretteten Seelen am Jüngsten Tag das jenseitige Reich. Ein Lichttor ist ein Form gewordenes spirituelles Erlebnis, zeigt – wie eine Himmelsleiter – eine göttliche Erscheinung an, ist ein Moment der Ewigkeit, ein Moment des Todes im Leben. Ein Lichttor markiert „diesen einen Punkt“, den Günter Ullmann in allen seinen Werken zu fassen sucht, „diesen einen Punkt, in dem unser Geist mit dem Kosmos, dem Weltgeist, verschmilzt.“

Es ist derselbe Zeitpunkt, auf den auch der Kyudoka, der japanische Bogenschütze, wartet: „Hanare“ heißt der Moment, wenn nach langem, ruhigen Zielen Schütze und Ziel eins geworden sind und der Pfeil, frei von Gedanken und Intentionen des Schützen, die Sehne verlassen kann. Ursprünglich als Element des höfischen Zeremoniells am japanischen Kaiserhof gepflegt, wurde Kyudo von den Samurai zwischen dem achten und dem sechzehnten Jahrhundert zur Kampftechnik ausgebaut, die den Schützen selbst mit der Zeit den gesellschaftlichen Status des Krieger-Adels verlieh. Noch immer wird Kyudo als kontemplative Bewegungskunst in Japan betrieben. Aus der Kampftechnik wurde unter Einfluss des Zen-Buddhismus ein Exerzitium auf dem persönlichen Weg des Kyudoka zur geistigen Vollkommenheit. Niemals ist dabei das Sportgerät verbessert worden. Nach wie vor wird in traditioneller Kleidung und mit denselben Bogen geschossen. Denn es ist der Mensch, der sich in seiner Anpassung an die Welt, durch Harmonisierung von Geist, Kraft und Technik, vervollkommnen soll.

Der obere Wurfarm des Yumi, des bis zu 2,30 Meter langen Kyudo-Bogens, ist deutlich höher als der untere. Nicht geometrische Symmetrie ist die Grundlage der Ausgewogenheit, sondern eine innere Ruhe des Menschen als Grundlage einer Angemessenheit von technischem Verfahren und angestrebtem Ziel. So sind auch die mit Japonese Balance betitelten Werke Günter Ullmanns deutlich asymmetrisch. Die Balance schreibt sich auch hier nicht von einer möglichen Spiegelachse im Werk her. Die Anordnung der Löcher, die um die auf Japan verweisende Kirschblüte aus Japonese Balance 2 in den Stahl gestanzt sind, zeigt eine Ausgewogenheit, die höher ist als die geometrische Vernunft.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, M.A., Weimar