Timm Kregel. Die Gabe der Landschaft

Rede zur Ausstellungseröffnung

Während der Laudatio im Festsaal des Sondershauser Schlosses; Foto: Elke Gatz-Hengst

Schloßmuseum Sondershausen, Samstag, 8. Februar 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

"Die Gabe der Landschaft", hat Timm Kregel seine Ausstellung genannt. Und es ist kein Titel, der ihm unlängst erst eingefallen wäre. Seit über zehn Jahren trägt er sich mit dem Gedanken. Es ist ein Titel, der genau zu Timm Kregel und seinem Werk paßt.

Was macht die besondere Bedeutung der Landschaft im Werk Timm Kregels aus?

Immer wieder wird in Texten zu Kregels Kunst hervorgehoben, daß sie einen ganz eigenen Kosmos schaffe. Daß diese Kunst sich nicht einfügt in unsere Welt, kaum kompatibel scheint mit unseren Gebäuden und Inneneinrichtungen, mit unserer bebauten Welt. Daß diese Kunst verwirrt oder sogar beunruhigt, weil sie uns eine phantastische Gegenwelt vor Augen führt, besiedelt zum großen Teil mit pflanzenartigen Gebilden - man ist versucht zu sagen: Gewächsen - die dennoch unverkennbar auch Teile der uns bekannten Umgebung zeigen: Gefäße, Scheiben, Verästelungen oder Geflecht. Betrachter sind zunächst ratlos, weil sie nicht zu entscheiden vermögen, ob diese Gegenwelt in uns Bilder der Natur abruft oder eine prähistorische, archaische Kultur. Oder sind es gar die gedachten Welten einer außerirdischen Zivilisation? Erinnern uns die erkennbaren Elemente an Blütenkelche von Pflanzen oder an die Trinkpokale einer erloschenen Kultur? Bilden die feinen, sich kreuzenden Linien die Verästelung einer hohen Baumkrone ab, wie sie sich kahl von einem blassen Winterhimmel abhebt? Oder ist es, wie unter dem Mikroskop betrachtet, die zerschlissene Textur eines jahrhundertealten Gewandes?

Es ist nicht entscheidbar - und die Werktitel geben in der Regel keinen Aufschluß darüber, wie ein Werk denn nun genau zu verstehen sei. (Wenn Sie schauen, wie verwandt unter dem formalen Aspekt der Holzschnitt "Salztragen" und der Aluminiumguß "Mittagsmeer" sind - "Mittagsmeer" sieht aus wie die dreidimensionale Fassung von "Salztragen", dennoch heißen beide Werke so unterschiedlich - dann wissen Sie, daß Timm Kregel mit seinen Werktiteln nie mehr als assoziative Hinweise gibt, gerne auch sehr kryptisch, die eine bestimmte Stimmung wachrufen, aber nicht das Werk entschlüsseln können.)

Sicher aber ist, daß die Landschaft tatsächlich einen prägenden Einfluß auf das Kunstschaffen von Timm Kregel besitzt. Und da kann man schon wieder einhaken und sagen: Kunstschaffen ist eigentlich schon falsch. Denn was Timm Kregel der Natur vor allem abzulauschen scheint, ist die Fähigkeit, Dinge oder Wesen wachsen zu lassen. Das Entstehen-Lassen, das Werden-Lassen und Sein-Lassen ist eine Gabe - eine der Gaben der Landschaft - die den Künstler Timm Kregel auszeichnet. Das scheint vielleicht paradox, wenn man so von einem Künstler redet, der mit der Kettensäge zu Werke geht: Das klingt nicht nach Entstehen-Lassen. Es ist trotzdem richtig. Glauben Sie mir: Timm Kregel ist in der Lage, am Ostseestrand eine Holzplanke zu finden, zu bergen und nach Hause zu schleppen und sie ein Vierteljahrhundert liegen zu lassen ohne sie irgendwann zwischendurch zu verbrennen, bis er weiß, was aus genau diesem Stück Holz werden soll. In "Arconaglanz" haben wir genau dieses Stück Holz aus Arkona, hier natürlich in Aluminium gegossen, und ich glaube, Timm Kregels Atelier birgt noch etliche solcher zukünftigen Kunstwerke.

Zu dem Entstehen-Lassen gehört zweierlei: Erstens die Entwicklung von Motiven, die sich in mehreren Kunstwerken niederschlägt - eigentlich wird jeder Formgedanke bei Timm Kregel auf sein ganzes Potenzial hin in mehreren Kunstwerken ausgelotet - und zweitens das Sichtbarmachen oder Sichtbarlassen der Bearbeitungsspuren im fertigen Werk, was Kregel sehr wichtig ist und was er sowohl im Holz als auch im Werkstoff Aluminium für seine Werke nutzt.

Sehen wir zunächst nach den Motiventwicklungen. Ich glaube, das beste Beispiel hierfür ist der Holzschnitt "Der Wechsel/ Die vier Elemente". Das möchte ich einmal gemeinsam mit Ihnen betrachten. Wir sehen vier Tiere, einen Drachen, einen Fisch, einen Elefanten und einen Adler, die den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft sowie deren alchimistischen Symbolen, den verschieden Dreiecken, zugeordnet sind. Hier stutzen wir schon das erste Mal: Wir sehen vier Tiergestalten. Kein organisches Pflanzengewächs, sondern figürliche Abbildungen. Das ist eigentümlich im freien Werk Timm Kregels - um nicht zu sagen, diese vier Tiere sind die einzigen figürlichen Darstellungen, die Eingang in die freien Arbeiten Kregels gefunden haben. Im Auftragswerk gibt es natürlich einen Haufen figürlicher Darstellungen, nehmen Sie etwa den Altar der evangelischen St. Walpurgiskirche in Apfelstädt bei Erfurt, da hat Timm Kregel eine schöne Mondsichelmadonna im Strahlenkranz geschaffen, da finden wir eine Abendmahlsszene mitsamt schlafendem Lieblingsjünger, wir sehen einen Christus Pastor mit einem Lamm auf dem Schoß - alles, was betende Christen zur Anschauung brauchen. Oder nehmen Sie die Außengestaltung des Römischen Hauses im Ilmpark in Weimar, wo die 200 Jahre alten Wandmalereien von Johann Heinrich Meyer aus der Zeit der Weimarer Klassik zu rekonstruieren waren, und diese Wandmalereien zeigten natürlich den ganzen Reigen der griechischen Götterwelt mit ihren entsprechenden Attributen, Lyra, Dreizack, Wagen, Früchte und was dergleichen mehr ist. Also: Timm Kregel kann selbstverständlich figürlich, aber er will normalerweise nicht, im freien Werk spielt die figürliche Darstellung keine Rolle, und so stellt sich denn heraus, daß auch diese vier Tiere ihren Ursprung in einem Auftragswerk haben, sie stammen nämlich von einem Kunstwerk im öffentlichen Raum. Für eine Innenstadtgestaltung hat Timm Kregel die Vorlagen zu diesem Druck hier geschaffen.

Die Zuordnung der Tiere zu den Elementen greift zum Teil sehr alte emblematische Zuschreibungen auf - im Zeitalter des Barock wurde ja viel mit Tiersymbolik und deren Ausdeutung auf menschliche Eigenschaften gearbeitet - und aus der Antike bereits stammt ja auch die Zuordnung von Elementen und menschlichen Charakteren. Im Aufgreifen dieser Tradition verrät Timm Kregel, ganz nebenbei gesagt, u.a. auch seinen kulturellen und intellektuellen Hintergrund. Er geriert sich ja gerne als Naturbursche, der mit der Kettensäge die Bäume zerlegt - aber er hat doch Abitur gemacht, und zwar im Alter von 18 Jahren in Roßleben, also einem traditionell-humanistischen Gymnasium. So kann Timm Kregel für seine Kunst eben immer auch auf sein geistiges Potenzial zurückgreifen, das er durch philosophische und kulturwissenschaftliche Lektüre auch ständig erweitert.

Aber wir kommen ab: Tiere - Elemente - zugordnet finden wir weiterhin die vier Himmelsrichtungen. Isoliert finden wir diese Figuren mit den Schriftzügen in vier Prägedrucken, die ebenfalls "Wechsel" heißen. Und wir finden drei von ihnen in dem Aluminiumguß "Orbis terrae", dessen große Form, zwischen vier Ständerbeine gehängt, wiederum auf ein hölzernes Vorbild aus dem Jahr 2002 zurückgeht, nämlich auf "Godzos Weg", das ist eine große Scheibe aus vielen kleinen Holzstücken.

Von der Kunst im öffentlichen Raum bis zu "Orbis terrae" laden sich die Figuren mehr und mehr zu Symbolen eines alten Wissenssystems, ja alter Weisheit auf. Sie wissen, daß die Astrologie nicht nur für die Heiligen Drei Könige, sondern bis in unsere Neuzeit hinein auch hierzulande eine ungeheure Rolle spielte. Noch im Dreißigjährigen Krieg beschäftigten die Generäle - etwa Wallenstein - Astrologen und fällten ihre politischen und kriegsbezogenen Entscheidungen (für oder gegen eine Schlacht) nur nach Abstimmung mit einem als günstig vorhergesagten Stand der Sterne. Weit von dem entfernt, was heute als Horoskop auf halbe Seiten eines Klatschblattes zusammengeschrumpft ist, war die Lehre von den Sternen eine ausgeklügelte Wissenschaft, die auf Jahrtausende der genauen Beobachtungen und daraus abgeleiteten Erkenntnissen zurückblicken konnte. Es war mehr als eine Wissenschaft. Es war eine Weisheitslehre.

Kommen wir nun zurück zum "Wechsel", denn in diesem Werk fügt Kregel seinem fortentwickelten Motiv der Tiere, Elemente und Himmelsrichtungen ein ganz neues und entscheidendes Element hinzu, das dem Werk erhebliche intellektuelle und kulturkritische Substanz verleiht: Der Druck auf die Börsennachrichten einer großen deutschen Tageszeitung (FAZ). Das ist das Wissen, aus dem sich die heutigen politischen Entscheidungen - sogar in Fragen von Krieg und Frieden - speisen. Genaue Beobachtung auch hier - dokumentiert in der schier unüberschaubaren Anzahl dicht beschriebener winziger Schrift- und Zahlenzeilen. Genaue Beobachtung, aber mit vergleichsweise geringer historischer Tiefe. Der Titel "Der Wechsel" erhält nun auch eine bestimmte Bedeutungsebene hinzu - die finanzielle nämlich (wie gesagt: Der Titel läßt sich nicht auf diese Semantik "Schuldschein" reduzieren, denn auch die unkolorierten Prägedrucke mit den Tieren und Schriftzeilen heißen bereits "Wechsel"!) Und was sagt das Werk: Es gibt der älteren Wissenstradition den Vorzug. Die Bilder der Elemente und Tiersymbole überlagern die Börsennachrichten und löschen ihre Lesbarkeit zu guten Teilen aus.

Soweit zum derzeitigen Stand dieses Tiermotivs bei Timm Kregel - ein sehr ausgereiftes Motiv, was nicht bedeutet, daß es uns nicht in Zukunft auch noch in weiteren Werken begegnen kann. Es muß eben wachsen. Womit wir wieder beim Stichwort wären.

Eine Gabe der Landschaft findet man bei Timm Kregel in seiner Fähigkeit, sich im Schaffensprozeß ganz dem Werk unterzuordnen, nicht zu machen, sondern etwas wachsen zu lassen. So entstehen die vegetabilen, organischen Skulpturen, die uns als so eigenständige Wesen gegenübertreten. Des weiteren finden wir diese Natürlichkeit in den Bearbeitungsspuren, die an den Werken bewußt sichtbar bleiben. So wie man einem Baum ansehen kann, was er für Wachstumsbedingungen hatte, so bleiben an einem Werk von Timm Kregel Spuren seiner Entstehung sichtbar: Die Risse im Holz, die die Kettensäge eingeschnitten hat, sieht man sogar noch, wenn Holzskulpturen zuletzt farbig gefaßt werden (etwa geweißt).

Nun werden Sie sagen: Tja, seit 5-6 Jahren macht Timm Kregel Aluminiumgüsse, da wird's ja mit den Bearbeitungsspuren nun vorbei sein. Aber das stimmt nicht. Auch bei den Metallarbeiten ist ihm wichtig, daß der Betrachter, wie Kregel selber sagt, "dem Entstehungsprozeß über die Schulter schauen kann", auch wenn das fertige Werk vor ihm steht. Das heißt, es soll nachvollziehbar bleiben, wo das geschmolzene Metall entlanggeronnen ist, von wo die Kanäle ausgingen, durch die beim Gießen die Luft aus der Sandform entweichen konnte, das organische Reißen des Metalls, das diese unnachahmlichen Öffnungen in den Skulpturen erzeugt - sehen Sie etwa die "Schattensonne" oder die "Fülle" - entsteht durch ein Verspachteln des heißen und noch ganz dünnflüssigen Metalls - all das soll nachvollziehbar und im fertigen Werk sichtbar bleiben. Auch die Aluminiumgüsse sind von einem zarten Geflecht feiner Verästelungen überzogen. In den Grundformen wie in der Ausführung tragen auch die Metallskulpturen die Züge des Naturhaft-Organischen, Vegetabilen, Knospenden und Wachsenden.

Die Gabe der Landschaft - man findet sie in Timm Kregels einzelnen Werken ebenso wie in seiner Arbeitsweise.

Man könnte noch eine ganze Weile weiterreden - zum Beispiel über die Zusammenführung von Naturform und Kulturform, die ich in den neuesten Werken sehe - also in "Verbunden". Aber ich möchte an dieser Stelle schließen. Ich lege Ihnen den Katalog ans Herz mit vielen sehr guten Fotografien der Werke - auch der Werke, die Sie hier in Sondershausen nicht sehen können, da die nächste Station der Ausstellungsreihe, Weimar, sich die drei Wochen im April mit der hiesigen Ausstellung überschneidet. Im Katalog finden Sie auch eine Werkanalyse und weitere Literaturhinweise. Die Biographie entnehmen Sie bitte dem Faltblatt oder ebenfalls dem Katalog.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag. Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Hier gehts zu einem Artikel der Kyffhäuser Nachrichten mit weiteren Fotos von der Eröffnung.