"Timm Kregel. Arconawege. Skulptur - Grafik"

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Profil, Weimar, 9. Juli 2011, 18 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich darf noch einmal zu Timm Kregel sprechen. Das freut mich, denn ich mag Timm Kregel, und ich mag seine Kunst.

Das Werk von Timm Kregel ist vielfältig – Sie sehen es: Aluminiumgüsse, Bronze, Holzschnitte, Monotypien und Prägedrucke. Motive kehren wieder und werden durch verschiedene Materialien hindurchgeführt. Die Arbeiten sind meist durchnumeriert, da Timm Kregel häufig verschiedene Versionen einer Grundform herstellt, Varianten eines Werkes produziert, die dann in Details voneinander abweichen. Sehen Sie diese „Ameise“, wie ich es nenne, die in den Reiserspuren auftaucht, kehrt in Monotypien wieder, aber auch in einer Version des Nordgangs.

Die Werke, die Timm Kregel und Elke Gatz-Hengst für diese Ausstellung hier zusammengestellt haben, werden vom Thema des Schiffes und des Wassers dominiert: Sie sehen die Drucke Über dem Wasser und Überfahrt, entsprechend das Zentralrelief in Nordgang III und der Schattensonne IX, ich würde noch die ammonitenhafte Figur im Zentrum der Großen Schattensonne hinzunehmen, die auf dem benachbarten Druck, Zug, wiederkehrt. Dazu passend der Fisch in dem Prägedruck der Reihe Der Wechsel.

Ich werde auf das Thema Schiff zurückkommen, möchte aber nun zunächst die Prägedrucke erläutern. Ich hatte im Mai im Dorotheenhof bei der Eröffnung der Skulpturenausstellung auch schon erwähnt, daß etliche der im Stadtraum ausgestellten Aluminium-Skulpturen Vorbilder in Holzarbeiten Timm Kregels haben – dasselbe Phänomen wie gerade beschrieben: Varianten werden produziert –, daß diese aber auf ihrem Weg ins andere Material durch Zusätze ihr Gesicht, ihre Bedeutung zum Teil grundlegend verändern: Am Unterschied von orbis terrae und seinem entfernten Vorfahren, der Holzskulptur Godzos Weg, konnte man das besonders gut zeigen.

Auch in der heutigen Ausstellung treffen wir auf Motive, die wir vom hiesigen Theaterplatz her schon kennen: In den Wechseln, einer Serie von insgesamt vier Prägedrucken. Wieder begegnen wir den Tierformen, die Timm Kregel ursprünglich für eine Auftragsarbeit in Bad Frankenhausen geschaffen hat. Wir sehen vier Tiere abgebildet – es sind zur Zeit nur zwei Arbeiten der Serie gehängt, die anderen befinden sich aber ebenfalls hier in der Galerie, im Depot – vier Tiere, die symbolisch für die vier Elemente stehen: ein Fisch für das Wasser („Aqua“), ein speiender Drache für das Feuer („Ignis“), weiterhin ein Adler für die Luft („Aer“) und ein Elefant für die Erde („Terra“). Daß das „Feuer“-Bild mit gehängt ist, ist sehr gut, denn dies kennen wir als einziges der vier Elemente nicht von der Aluminiumskulptur orbis terrae auf dem Theaterplatz her. Die Bilder vom Fisch, dem Elefanten und dem Adler machen orbis terrae überhaupt erst zum „Erdkreis“ und grenzen die Scheibe von einer Darstellung des Rades der Fortuna ab – oder von einer Sonnenscheibe – Sie haben die Verwandtschaft von orbis terrae und der Schattensonne hier sicherlich auch längst bemerkt. Denn die Symbolisierungen der vier Elemente sind in den Prägedrucken wie auch in der Skulptur mit der Nennung der Himmelsrichtungen gepaart – „oriens“ – „occidens“ – „meridies“ – „septentrio“, also Osten und Westen, Süden und Norden.

„Septentrio“, eigentlich „Septemtrio“, heißt auf lateinisch das „Siebengestirn“ (septem), bezeichnet also den Großen Bären oder Großen Wagen, wie er bei uns meist heißt. Das Sternbild steht im Norden, wenn man die Rückwand des Großen Wagens in Gedanken verlängert, stößt man auf den Polarstern. Das Sternbild steht für den Norden, da es im Norden zu sehen ist – übrigens das ganze Jahr über, das ist nicht bei allen Sternbildern so. Aber dadurch konnte es eben zum Inbegriff seiner Himmelsrichtung werden. Auf die Himmelsrichtungen also verweist Timm Kregel durch ihre alten lateinischen, astrologischen Namen – denn auch „oriens“ und „occidens“ sind ja vom Lauf der Sonne abgeleitet, „Oriens“ ist der Sonnengott, „oriri“ – „orior“ heißt sich erheben, eigentlich „erhoben werden“, „occidens“ heißt entsprechend fallen, untergehen.

Lateinstunde beendet. Ich erwähne das nur, weil es eben typisch ist für Timm Kregel, daß er diese Ausdrücke wählt. Man könnte ja auch Norden, Osten, Süden, Westen sagen. Aber es kommt Timm Kregel immer auf die Erinnerungstiefe des Kulturellen Gedächtnisses an, die er mit abrufen will, wenn er bestimmte Themen und Gegenstände zur Darstellung bringt – wenn er sie aussucht, oder besser: wenn die Themen sich ihm aussuchen.

Ob das Auftragsarbeiten aus dem Bereich der sakralen Kunst sind, in deren Ausführung Kregel dann eine mehrhundertjährige, tausendjährige Wort- und Bildtradition einbezieht (was ja nicht selbstverständlich ist, man kann sich durch abstrakte oder konkrete Kunst auch im Sakralbereich wunderbar aus allem raushalten, was eine christliche, religiöse Tradition evoziert – Kregel hält sich nicht heraus) – ob das die Buchen in Belvedere waren, die er an ihrem Ort, mit ihrer Geschichte bearbeitet hat – ob das Schiffe oder Gefäße sind – immer scheinen es Jahrtausende alte, kultische Gegenstände zu sein, die da unter seinen Händen entstehen.

Ich muß an dieser Stelle noch eine kleine Geschichte einstreuen: Es gibt ein Werk, das sich wie ein Kaktus aus fünf blütenkelchartigen Gefäßen aufbaut, das Werk heißt Sumac. Das einzige, was einem zu diesem Titel einfällt, ist der Name der peruanischen Sängerin Yma Sumac, die ich aber mit der Gestalt des Werkes zunächst nicht recht zusammenbringen konnte. In der Tat ist es aber auf assoziativem Wege genau nach dieser Frau benannt, die 1922 in Ichocán im peruanischen Hochland geboren wurde und Weltruhm erlangte, da ihre Stimme einen Ambitus von viereinhalb bis sechs Oktaven umfasste (sie verstarb 2008): Yma Sumac röhrt in den tiefsten Tiefen, ahmt die gutturalen Geräusche des Dschungels nach und schwingt sich plötzlich in die höchsten Sopranlagen der Vogelstimmen auf. Was zu Yma Sumacs Flair nicht unmaßgeblich beitrug, war allerdings die Tatsache, daß sie ihre Ahnenreihe in direkter Linie bis auf den letzten Inkaherrscher Atahualpa (1500-1533) zurückverfolgen konnte. Eine Inkaprinzessin! Das ist die Kragenweite von Timm Kregel – das ist der Horizont, den er für seine Kunstwerke aufreißt, in den er seine Figuren gestellt sehen möchte: ein archaisches Umfeld lebendiger ritueller Gebräuche uralter, ur-menschlicher Kulturen.

Warum habe ich diese Geschichte erzählt? Nun – wenn jemand seine Werke nach Inkaprinzessinnen benennt, dann hat das auch Einfluß auf Namen wie Arcona, womit ich endlich wieder konkret zur heutigen Ausstellung „Arconawege“ komme. Das Kap Arkona (mit „k“) ist auf Rügen – klar, die Cap Arcona (mit „c“) aber war ein ganz berühmtes Schiff, 1927 vom Stapel gelaufen, ein Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie – Yma Sumac lässt also wieder grüßen. Die Cap Arcona wurde durch ihr tragisches Schicksal bekannt, das Schicksal nämlich von KZ-Häftlingen, die 1945 auf die Cap Arcona verfrachtet worden waren und ums Leben kamen, als das Schiff am 3. Mai 1945 von englischen Bombern versenkt wurde. Die Schreibung des Ausstellungstitels mit „c“ verweist also eindeutig auf die Cap Arcona, auf das Schiff, nicht auf die Geographie, und so verstehen wir auch, warum in der Ausstellung die Schiff- und Wassermotivik so dominiert.

Aber auch hier treffen wir nicht etwa auf Schiffe, die tatsächlich aussehen wie die Cap Arcona – moderne Schiffe, schwimmende Hotels, Dampfer, Containerschiffe oder was auch immer. Nein, wieder weist uns Timm Kregel auf die archaischen Formen seines Motivs – in diesem Fall also des Schiffes – hin, die Formen des Kanus, des Einbaums, der Barke, die von der ursprünglichen Nutzung des Bootes künden: Nahrungsbeschaffung und Totenkult. In der Tat liegt ja der Ursprung des Bootes nicht nur im Fischereibedarf. Es existiert auch ein ritueller Ursprung – denken Sie an Kulturen wie etwa in Ägypten, in denen die Toten über den Fluß gesetzt wurden ins jenseitige Reich – nach Westen: Wo die Sonne untergeht („occidens“), ist das Reich der Toten. Auch in der griechischen Mythologie finden wir diesen Gedanken: Lethe, der Fluß des Vergessens, trennt die Unterwelt von der Welt der Lebenden. Charon ist der Fährmann, der die Toten übersetzt. Die Flussquerung ist ein Vorgang, der auch für die Lebenden ursprünglich nicht ohne die freundliche Genehmigung der zuständigen Götter denkbar war. Das spiegelt sich auch in unserer Kultur in den Figuren der Brückenheiligen, die große Brücken gleichsam bewachen. Der Ausdruck „Pontifex“ – lateinisch wörtlich der „Brückenbauer“ – bezeichnet denn auch den ranghöchsten Priester der Katholiken, war aber schon im römischen Staat eine Bezeichnung für das Priesteramt. „Brückenbauer“ ist dabei eben nicht nur symbolisch zu verstehen als zwischenmenschliche „Brücke zueinander“, sondern hatte ursprünglich die handfeste rituelle und religiöse Bedeutung, die eben auch Timm Kregel mit seinen archaischen Barken und Schilfbooten abruft.

Betrachten wir zum Abschluß noch das Werk Arconaglanz. Was bedeutet es, wenn ein Künstler einen wiederum gänzlich archaisch wirkenden Gegenstand – einen Schild und ein ganz primitives Stechwerkzeug – eine Art Speer – Arconaglanz nennt? Den ersten Bruch, der uns auf eine tiefere Bedeutung verweist, liegt in der Verwendung des Materials. Arconaglanz ist ein Aluminiumguß. Schild und Speer also scheinen aus germanischen Vorzeiten zu stammen, das Aluminium aber wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt. Zunächst war es wertvoller als Gold. Seine breitere Verwendung wurde erst vor ziemlich genau 150 Jahren durch ein verändertes Gewinnungsverfahren ermöglicht. Also: Archaisches Werkzeug – modernes Material. Der zweite Bruch liegt im Werktitel, der auf die Cap Arcona und damit auf deren Untergang zu Ende des Zweiten Weltkriegs verweist. Wiederum: Archaisches Kriegswerkzeug – moderner Krieg? Gibt es das überhaupt – einen modernen Krieg? Wir denken an das philosophische Werk Die Dialektik der Aufklärung, mit dem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in den 70er Jahren großes Aufsehen über den Wissenschaftsbereich hinaus erregt haben: Das Buch versucht, den Ausbruch der Barbarei des Zweiten Weltkriegs erklärlich zu machen – die Industrialisierung des Mordens mitten in der aufgeklärten und kulturell so hoch entwickelten Welt der westlichen Zivilisation. Mit dem Verweis auf den Zweiten Weltkrieg in einem Werk, das noch einmal Schild und Speer darstellt, geht Timm Kregel m.E. denselben Weg: Jeder Krieg, scheint Arconaglanz zu sagen, gründet in archaischer Barbarei.

Meine Damen und Herren, ich habe etliche kleine Geschichten über verschiedene Werke Timm Kregels erzählt. Was dabei deutlich werden sollte, ist, daß Timm Kregel wunderbare Werke schafft. Und daß die Werktitel – wie assoziativ auch immer sie ihm zuzufliegen scheinen – auf einen tieferen Sinn verweisen, der Timm Kregel in seiner Arbeit antreibt: auf das nämlich, was ich eingangs die Erinnerungstiefe des Kulturellen Gedächtnisses genannt habe: Was die Werke Timm Kregels in all ihren Variationen immer wieder umkreisen, sind die in den Gegenständen unseres Alltags so häufig überlagerten, aber doch so wesentlichen archaischen Grundlagen einer Kultur des Menschen.

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar