Sylvia Bohlen. Plastik und Grafik. Zum 50. Geburtstag

Rede zur Ausstellungseröffnung

mit der Galeristin Dr. Maren Kratschmer-Kroneck
vor der Plastik Träumer
mit der Künstlerin Sylvia Bohlen
alle Fotos dieser Seite: Sieglinde Beier-Camara

Saale Galerie Saalfeld, Samstag, 12. September 2015

Liebe Maren Kratschmer-Kroneck, liebe Sylvia Bohlen, meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Ausstellung zu Sylvia Bohlens Plastik und Grafik empfängt uns mit einer kleinen Installation des organisierten Chaos, wie es uns in Ateliers und kreativen Arbeitsräumen begegnet. Martin Neubert, Professor für Keramik und Plastik an der Burg Giebichenstein in Halle, hat seine Ideen zum Aufbau der Ausstellung mit eingebracht und diesen "Blick in die Werkstatt" für uns ermöglicht. Wir sehen einen alten farbverklecksten Hocker. Wir sehen eine dekorative alte Nähmaschine und wir sehen Tierplastiken und sogar Konzeptkunst aus einer Arbeitsphase, die Sylvia Bohlens Jubiläumsausstellung heute nicht ebenfalls widerspiegeln kann, da der Schwerpunkt der Ausstellung auf den Büsten liegt.

Aber es ist eine Jubiläumsausstellung zum 50. Geburtstag der Saalfelder Künstlerin. Und wir wissen: Alle runden Geburtstage - ob man sie nun als junger Mensch herbeisehnt, weil dann das Taschengeld erhöht wird, oder ob man Angst vor ihnen hat, weil er die magische 40, 50 oder 60 voll macht - wir alle stellen fest, daß das Leben am Tag danach sich, wenn wir ehrlich sind, genauso anfühlt wie vor dem Geburtstag. Es ist ein willkürlicher Schnitt, der eben manchmal gemacht wird, wenn man für eine ohnehin anstehende Ehrung beispielsweise ein griffiges Datum sucht. Ein Arbeitsschritt mitten in einer Schaffensphase ist damit natürlich niemals oder wenn, dann nur durch Zufall erreicht. Sylvia Bohlen steht mitten in ihrem künstlerischen wie mitten in ihrem Familienleben und ihrem Leben als Kursleiterin in ihrer Werkstatt in Weischwitz. Der Ausschnitt, den Frau Kratschmer-Kroneck mit der heutigen Ausstellung in den Mittelpunkt gerückt hat, ist kein Abschnitt, sondern die Arbeit geht unverändert weiter - auch in dieser Woche hat Sylvia Bohlen unterrichtet, Eindrücke aufgenommen und Ausdruck weitergegeben.

Darauf verweist diese kleine Installation, der Martin Neubert am liebsten den gesamten Werkstattschrank hinzugefügt hätte. Eine Ausstellung, daran will uns diese Installation erinnern, kann niemals einen wirklichen Überblick über 50 Lebensjahre oder 25-30 Schaffensjahre geben, viel zu vieles ist in dieser Zeit gedacht und empfunden, geplant und skizziert, formuliert und herausgeschrien, künstlerisch umgesetzt oder auch verworfen worden. Und ebenso geht die Arbeit weiter, kreativ wie immer, und wir dürfen in den kommenden Wochen Sylvia Bohlen dabei gewissermaßen über die Schulter sehen.

Die Exposition, die Maren Kratschmer-Kroneck für uns arrangiert hat, legt den Schwerpunkt auf Büsten, die Sylvia Bohlen im Verlauf der vergangenen acht Jahre geschaffen hat.

Die Portraitbüste - was für ein gigantisches Arbeitsthema und was für eine große Geschichte, in die die Künstlerin sich hier einschreibt. Ich möchte diese Geschichte in einem ganz knappen Abriß revuepassieren lassen, um die spezielle Ausrichtung, die das Thema in der Kunst von Sylvia Bohlen nimmt, besser herausstellen zu können.

Sie beginnt in prähistorischer Zeit, wo die ersten Köpfe als Götzenbilder oder Idole geformt oder behauen werden. In der Antike folgt die Portrait-Büste berühmter Persönlichkeiten - Aristoteles, Caesar Augustus etc. -, deren Selbstbewußtsein nach einer individuellen Darstellung verlangte. Dem folgt eine Flut von Herrscher-Konterfeis durch die Jahrhunderte. Die idealisierende Nachbildung des Menschen war das Ziel dieser Bildhauerkunst.

Dieser mimetische, abbildende Zugriff gilt etwa bis ins Werk des 1917 verstorbenen Auguste Rodin (*1840). Den Schritt zur Abstraktion in der Darstellung insbesondere des menschlichen Kopfes vollzogen die um 1880 geborenen Künstler Constantin Brancusi (1876-1957) und Pablo Picasso (1881-1973). Von der kubisch in Stein gehauenen "Kuß"-Darstellung Brancusis geht ein neuer künstlerischer Schaffenstrieb wie eine Lawine aus. Künstler wie Pablo Picasso, Julio González, Naum Gabo, Oskar Schlemmer oder Hans Uhlmann schreiten in den folgenden zwei-drei Jahrzehnten den Raum der Abstraktion und Verfremdung im Grunde vollständig aus: In Eisenplatten oder Drahtgeflechten werden Kopf und Gesicht auf ihre Grundformen reduziert. Das jeweils treffendste Schema der Darstellung wird gesucht - oder, um es mit einem Ausdruck der damaligen Kunstwelt zu formulieren: Man sucht nach der "Maske" als dem Allgemeingültigen des menschlichen Gesichtes oder Kopfes (Picasso). Dabei kann der Einfluß außereuropäischer Kulturen und ihrer Kunst gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Picasso belagerte förmlich über Wochen das Völkerkundemuseum Paris, weil ihn der Anblick der dort präsentierten afrikanischen Totemmasken nicht loslassen wollte. In der Überindividualität und Sakralität der Ahnenmaske schien der menschliche Wesenskern greifbar, den die Kunst sichtbar machen wollte.

Der ganze Raum der Darstellung, Abstraktion und Verfremdung der menschlichen Büste also ist bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der bildenden Kunst ausgeschritten worden. Jede Künstlerin, die heute schafft, kann sich frei im ganzen Raum der schöpferischen Möglichkeiten positionieren. Wir sehen, daß sich Sylvia Bohlen für ihre Büsten auf die Seite des Abbildhaften schlägt. Ihre Kunst sucht nach der Darstellung von Charakterköpfen, nach Typisierungen von menschlichen Eigenheiten oder beruflicher Deformation. Auch Mimetisch-Portraithaftes kann darunter sein, auch wenn selbst dann die portraithaften Züge der Arbeit hinter der Typisierung der Darstellung zurücktreten. So hat etwa "Jones" ein ganz konkretes lebendes Vorbild in einem nun schon über 90jährigen Medizinmann vom Stamm der Navaho, den Sylvia Bohlen persönlich kennt. Er reist mit einer Gruppe von Musikern durch die Welt - und war auch schon beim Folkfest in Rudolstadt -, um für das Verständnis der Bedeutung der amerikanischen Landschaft für ihre Ureinwohner zu werben: Die amerikanische Landschaft war in großen Teilen semantisiert, mit Bedeutung aufgeladen, lange bevor Spanier und Engländer, Holländer und Franzosen den Kontinent für sich entdeckten. Sie wiesen den Ureinwohnern Reservate zu und verfügten ohne jedes Wissen um deren Bedeutung über Berge, Wälder und Prairie. Die Indianer beginnen, sich dagegen zu wehren, daß eine Tiefgarage entsteht, wo ihre Ahnen begraben liegen. Ein solcher Botschafter der indigenen amerikanischen Kultur steht mit der ganzen Wucht seines Leidens wie seines Wissens- und Erfahrungsschatzes hinter der Figur des Indianers "Jones".

Typisierung also. Das Stichwort "Maske", das Picasso für seine Suche nach dem Typischen der Darstellung prägte, ruft noch einen anderen Themenkomplex auf den Plan, der zum Verständnis der Büsten Sylvia Bohlens beitragen kann: Die Theatermaske der commedia dell'arte. Theatermasken, die in den frühneuzeitlichen Aufführungen getragen wurden, verhalfen den Schauspielern zur Verkörperung eines unveränderlichen Typus Mensch: Des Grantigen, des Traurigen, des sorglosen Spring ins Feld - des Arlecchino, des Pantalone und der Colombina. Die Charaktere erscheinen als gottgegeben und sind den Figuren fest zugeordnet.

Die Werktitel, die Sylvia Bohlen ihren Arbeiten verleiht, lassen ebenfalls die Suche nach solchen Charakteren vermuten. Aber das künstlerische Erkenntnisinteresse ringt hier um etwas anderes. Es sind nicht angeborene, quasi gottgegebene unveränderliche Charaktere, die Sylvia Bohlen darstellen will. Ihre Arbeiten stellen vielmehr die Frage, wie ein Grundgefühl, eine Ausbildung, eine Angewohnheit oder ein Wesensmerkmal sich in den Körper und in die Mimik eines Menschen eingeschrieben und das Gesicht bis in die Physiognomie hinein dauerhaft verändert hat. Sylvia Bohlens Kunst sucht in den Büsten nach Archetypen - aber nicht nach Archetypen, die als solche geschaffen wurden und sich unveränderlich nach einem festgelegten Rollenschema aneinander abarbeiten. Ihre Plastiken bilden Menschen ab, die sich selbst zu Archetypen gemacht haben - durch ihren vorherrschenden Wesenszug wie die Büste "streng"; durch ihre Arbeit wie der zweifelnd-verzweifelte "Philosoph" oder der ironische "Comedian", hinter dem übrigens Max Raabe steht, der sich selbst zum Typus gemacht und als Marke erfunden hat; durch das bewußte Einstehen für die eigene Tradition wie der Navaho "Jones"; durch das Annehmen ihrer Lebensumstände wie der "Israeli". All diesen steht ihre Geschichte, wie man so schön sagt, "ins Gesicht geschrieben" und Sylvia Bohlen fängt ihre Besonderheit ein. Ohne Wertung stehen so die verschiedensten Charaktere, Wesensmerkmale und Eigenheiten nebeneinander - die Sammlung der Büsten von Sylvia Bohlen gerät so zum Fanal der Toleranz.

Lassen Sie mich zum Abschluß noch wenige Worte verlieren über die Konzeptkunst Sylvia Bohlens, die in dem "Päckchen" vorne in der Werkstatt-Installation hier in die Ausstellung integriert ist. Der Konzeptkunst hatte die Saalegalerie vor bereits 14 Jahren eine eigene Ausstellung gewidmet. Einige Werke sind auch auf der Homepage der Künstlerin sehr schön zu erkennen. Verfremdend setzt sie hier ihren Werkstoff des salzglasierten Steinzeugs ein - die Keramik kann wirken wie Stein oder wie Holz oder wie rostiges Eisen etwa im Werk "Verkettung". Sylvia Bohlen setzt einen Klumpen ihres Steinzeugs vor dem Brennen einer Verformung aus - etwa durch einen Holzrahmen, in den sie die noch weiche Keramikkugel preßt oder, wie hier im "Päckchen", durch ein Seil, das die Kugel einschnürt. Sie löst die Einschnürung wieder auf, brennt das verformte Stück und paßt Seil oder Rahmen hernach wieder an.

Diese Arbeiten wären keine Konzeptkunst, wenn nicht ein philosophisches, weltanschauliches Konzept dahinter stünde. Und auch bei diesen Arbeiten ist das die Idee der Toleranz. Sichtbar zu machen, daß alles und jedes sich gegenseitig beeinflußt, ist hier das Ziel des künstlerischen Schaffens. In den Werken wird unmittelbar evident, daß man sich nicht heraushalten kann und daß alles und jedes seinen Platz in der Welt beansprucht und erhalten muß. Die Arbeiten sind, um mit den Worten der Künstlerin selbst zu schließen, "die Suche nach plastischen Lösungen, einer schlichten Symbolik für Verschiedenartigkeiten, die einander nicht ausschließen, sondern sich durchdringen und in Abhängigkeit stehen. [Sie sind] der Drang zur Harmonisierung von scheinbaren Widersprüchen, deren Verstrickung zur Symbiose wird."

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar