SCHÖN. Metamorphose der Pflanzen. Plantagrafien 2008-2012

Rede zur Ausstellungseröffnung

während der Rede im Foyer der Kassenärztlichen Vereinigung
Dr. Gisela Nerlich-Kunzendorff vor der Roten Reihe ihrer Pflanzenfotografien
Besucher vor der Blauen Reihe der Pflanzenfotografien
am Buffet
Besucher betrachten vier Bilder der Metamorphosen-Reihe
die Künstlerin mit Freundinnen vor dem roten Tausendschönchen; alle Fotos dieser Seite: Prof. Klaus Nerlich

Foyer der Kassenärztlichen Vereinigung, Weimar, 7. Juli 2012

Sehr geehrter Herr Dr. Schröter, liebe Gisela, meine sehr geehrten Damen und Herren,

"Schön" ist die Ausstellung betitelt, die ab heute zu sehen ist. "Schön". Der Untertitel lautet "Metamorphose der Pflanzen" und die Exponate sind als "Plantagrafien" bezeichnet, "Plantagrafien" - ein Kunstwort, eigens für Gisela Nerlich-Kunzendorffs Pflanzen-Fotografien geschaffen.

Wir haben also drei Punkte, an denen wir zur Betrachtung der Ausstellung ansetzen können. Ich möchte mit dem Untertitel beginnen, dem Hinweis auf Goethes Elegie "Die Metamorphose der Pflanzen" (1798), das in Ausschnitten acht Bildern im oberen Stockwerk beigegeben ist. Ich möchte damit beginnen, denn das ist der älteste Nukleus der Ausstellung. Die Idee einer gegenseitigen Illustration und Erläuterung von Pflanzenabbildungen und Goethes Gedichtversen reift seit einigen Jahren schon in der Künstlerin und hat bereits zu mehreren Ausstellungen mit jeweils unterschiedlichen Pflanzenfotografien geführt.

Was ist das Inspirierende an Goethes Gedicht? Warum kann es zu immer neuen Betrachtungen und Arbeiten anregen - hat man erst einmal, wie Gisela Nerlich-Kunzendorff, grundsätzlich den Blick für die Pflanzenfotografie erworben und geschärft? - Die Künstlerin nennt übrigens selber die Fotografen Karl Blossfeldt und Robert Mapplethorpe als Impulsgeber für diese Art von Fotografie. Aber dennoch - welche Anregungen gibt Goethes Gedicht, damit Nerlich-Kunzendorffs Pflanzenfotografien eben nicht Vorbilder für die studentische Zeichenausbildung bleiben, wie das Blossfeldts Bilder anfangs waren, und daß sie nicht lediglich dem Minimalen durch vielfache Vergrößerung zu Monumentalität und skulpturaler Größe verhelfen?

In "Die Metamorphose der Pflanzen" beschreibt Goethe in nicht weniger als achtzig Versen, also mit großer Sorgfalt und Genauigkeit, die ungezählten Stadien des Wachstums einer Pflanze von der Keimung des im dunklen Schoß der Erde ruhenden Samens bis zur vollen Reifung der Frucht. Die Besonderheit des Gedichtes liegt dann in der Übertragung dieser Naturbeobachtungen auf den Menschen - auf die Besonderheit der Kindheit, des Erwachsenwerdens, auf das Werden und Reifen menschlicher Beziehungen und Liebe. (Selbstverständlicher Hintergrund für Goethe waren natürlich die Metamorphosen des antiken Schriftstellers Ovid, in deren Erzählungen Menschen zum Teil in Pflanzen verwandelt werden - denken Sie etwa an Daphne, die sich auf der Flucht vor Apoll in einen Lorbeerbaum verwandelt. Hier versuchte man sich die Entstehung der Naturphänomene durch Göttererzählungen begreifliche zu machen. In der "Metamorphose der Pflanzen" überträgt nun Goethe Gesetzmäßigkeiten der Natur auf die Menschen und ihr Zusammenleben.)

Immer wieder treffen wir in Goethes Gedichtzeilen auf Imperative wie: "Betrachte nun" - "Wende dich zu" - "Bedenke", die zum Staunen über und zur Freude an der Vielfältigkeit und der wunderbaren Perfektion der Pflanzenwelt animieren. Diesen Aufforderungen folgen die Arbeiten Gisela Nerlich-Kunzendorffs. Die Liebe zum Detail, die Goethes Text ausmacht, spiegeln ihre Fotografien dabei kongenial wider: So werden die Verse

"Einfach schlief in dem Samen die Kraft, ein beginnendes Vorbild

lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,

Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;

trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,

quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,

und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht."

durch die Fotografie eines sich im Wortsinne entwickelnden Kastanientriebes veranschaulicht. Und die in Trauben von zig winzigen Blüten erscheinende Holunderblüte illustriert die Verse:

"Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;

und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,

auf ein heiliges Rätsel."

Ich kann Ihnen die Betrachtung der herrlichen Blüten selber überlassen und will hier nicht bewundernde Adjektive aufeinandertürmen. Hilfreich sind aber einige Worte zur Versform der "Metamorphose der Pflanzen", weil sich die Struktur dieses komplexen Textes sonst nicht so leicht erschließt, es ist nicht ganz einfach lesbar. Also: Die Metrik dieser Elegie ist die des sogenannten Elegischen Distichons. Das sind Verse, die nicht endgereimt sind, sondern die gebundene Form durch die Hebungen und Senkungen der Verse hervorbringen: Ein Hexameter - sechs Versfüße - wechselt sich hier immer mit einem Pentameter ab. Der Pentameter hat auch sechs Hebungen, aber nur fünf Versfüße, weil in seiner Mitte zwei halbe Versfüße, zwei Hebungen aufeinander treffen, so daß hier eine Zäsur entsteht: "und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz."

 

Soviel zum Untertitel unserer Ausstellung, der "Metamorphose der Pflanzen". Der Titel der Ausstellung ist "Schön". Die Betrachtung der Schönheit der Pflanzen war nach der genauen Betrachtung und dem Ins-Bild-Heben ihrer Gestalt der nächste Entwicklungsschritt der heutigen Ausstellung. Dabei geht es, Sie sehen es einigen Bildern an, nicht um die bekannte und sich geradezu aufdrängende Schönheit der prall gefüllten, grellfarbigen Blüte und des kraftstrotzenden, feuchtigkeitsgesättigten Blattwerks. Das freilich auch, etwa bei den Ranunkeln im Obergeschoß: Mit ihren dichten Reihen von Blütenblättern wie aus Seide besticht namentlich die weiße Ranunkel durch unerhörte Anmut. Aber die Darstellung der Schönheit gerade auch des Vergehenden war für das Zustandekommen etlicher Bilder ganz wesentlich. Sehen Sie beispielsweise die beiden "bunten Narcissen" hier an der Treppe: Welche Strukturen werden plötzlich wahrnehmbar, wenn der Saft sich aus den Blättern zurückzuziehen beginnt! Strukturen, die die pralle Blüte erst ermöglichen - sie nämlich mit Wasser versorgen - und doch eben von ihrer Sättigung immer verdeckt werden. Matt gewordene Blütenblätter wie aus hauchdünnem Papier oder Pergament - unendlich zart in ihrer Transparenz und so schutzbedürftig, so erhaltenswert gerade in ihrem Dahinscheiden. All das wird in den Fotografien Gisela Nerlich-Kunzendorffs erst sichtbar - in der Auswahl des Bildmotivs, in der Vergrößerung der Blüten wie in ihrer Isolierung auf dem schwarzen, neutralen Untergrund. Aber noch mehr gewahren wir in den Fotografien gerade der welkenden Blüten: Wir erkennen die Arabesken, mit denen die zarten Gestalten der trocknenden Blütenblätter sich aneinanderzuklammern scheinen, und wir nehmen die erotische Ausstrahlung wahr, die vom überweit geöffneten Blütenkelch der "Tulpe im Verblühen" ausgeht.

Was früher nur der Malerei gegeben schien, begegnet uns hier in der Fotografie: Daß sie besser sieht als unser Auge. Nun ist natürlich die Frage, wie solche Fotos entstehen? Der erste Schritt ist das Sammeln der richtigen Blüten, das Schärfen des Blickes für die fotogene Gestalt, zum Teil vielleicht noch einmal das Trocknen, sicherlich das Arrangieren der Blüten und Stengel, sodann als eigentliche fotografische Arbeiten das Experimentieren mit der Beleuchtung, mit der Tiefenschärfe - Sie sehen, die Ebene des wirklich scharfen Bildausschnitts ist manchmal sehr schmal, schon die hinteren Blütenblätter der "bunten Narcisse" hier sind ein bißchen verschwommen - auch das eine spezifische Leistung der Fotografie, denn unser Auge gleicht Helligkeit und Tiefenschärfe für uns unbewußt immer sofort aus. Es ist eigentlich unmöglich, ein Blickfeld im Augenwinkel bewußt unscharf zu sehen. Hinzu kommt für die perfekte Fotografie, wie wir sie hier sehen, die Wahl des rechten Papiers, des Druckverfahrens - Sie sehen, daß nicht alle Bilder im selben Verfahren entstanden sind - das Freistellen des Motivs vor dem schwarzen Hintergrund - und natürlich ein Schuß Geheimnis, den die Künstlerin nicht preisgibt - dies alles muß zusammenkommen, damit wir jetzt unsere Seherlebnisse vor diesen Fotografien haben.

 

"Schön", um nicht zu sagen: "gut und schön": Denn es gab noch einen dritten Entwicklungsschritt, der die heutige Ausstellung vollendet hat, und das ist die Ordnung der Farben. Die Idee, die Blüten, die nicht der Goetheschen "Metamorphose" zugeordnet waren, nach den Jahreszeiten zu ordnen - also eine Frühling - Sommer - Herbst und Winter-Reihe zu hängen - war dabei der Ausgangspunkt. Der Künstlerin fiel auf, daß bei den Frühjahrsblühern Weiß und Gelb als Farben dominieren - denken Sie an Schnee- oder Maiglöckchen, Märzenbecher, Osterglocken, Krokusse, Buschwindröschen, Gänseblümchen, Winterlinge, Jasmin, Kirsch- und Apfelblüten. Im Sommer wird es bunter. Die dunklen Astern und Dahlien aber erfreuen uns erst im Herbst. Das Gedankenexperiment einer solchen Ordnung führte zu der Hängung, die Sie nun hier sehen und die - mit dem Roten als Blickfang - den Farben rot, gelb und blau je einen Bereich der Ausstellung zuweist.

Das macht mir als Laudatorin natürlich ganz besondere Freude, weil ich nun noch einmal ein ganz kleines bißchen zur Farbenlehre Johann Wolfgang Goethes ausholen kann. Nur ganz kurz! Denn dann werden wir sehen, daß - wenig erstaunlich - eine Ausstellung von Fotografien tatsächlich eine Ausstellung des Lichtes ist - Fotografieren bedeutet ja nichts anderes als "Schreiben mit Licht".

Wie Sie wissen, hat Goethe seine Farbenlehre über alles - und das ist ganz wörtlich zu nehmen - über alles geschätzt - über all seine sonstigen Forschungen und all seine literarischen Werke, für die er uns gemeinhin bekannt ist. Er sah die Farben als "Taten des Lichts, Taten und Leiden" - dem "heiligen Licht" begegnen Sie auch in einer Formulierung der "Metamorphose der Pflanzen", gleich beim ersten Bild. Das "Leiden des Lichts" bezieht sich dabei auf die Lichtbrechungen und Spaltungen, durch die die Regenbogenfarben am Prisma entstehen, und unter denen - den Brechungen - Goethe förmlich mitgelitten hat. Eben weil er das Licht für heilig und unteilbar hielt, glaubte er nicht, daß man durch Newtons Versuche der Lichtbrechungen dem Licht tatsächlich würde das Geheimnis seines innersten Wesens - das sind eben die Farben - entreißen können. Goethe entwarf eine eigene Theorie der Farben und unterschied "physiologische" von "physischen" und diese wiederum von "chemischen Farben". Die "physiologischen Farben" meinen die Nachbilder und Komplementärfarbhervorbringungen des Auges, wenn wir lange eine bestimmte Fläche fixiert haben. Goethes "chemische Farben" sind die eigentlichen Farbpigmente der Dinge - also auch der Blütenkelche und Pflanzen.

Nach einer langen Reihe von Versuchen - Goethe hat das Thema über 40 Jahre lang nicht losgelassen! - entwarf er den Farbkreis der additiven Farbmischung, den Sie alle kennen, auf den auch die Bauhausmeister in ihren Vorkursen zurückgegriffen haben: Das Rot, das Gelb und das Blau werden als Primärfarben im Kreis angeordnet, und alle Zwischentöne wie insbesondere die jeweiligen Komplementärfarben Grün, Violett und Orange, ergeben sich aus der Mischung der Grundfarben zu gleichen Teilen.

Die massige Hängung der roten Blüten hier hinter mir hebt die Ausstrahlung dieser Farbe besonders gut hervor, der Goethe eine "hohe Würde" zugesprochen hat. Und in den blauen - oder auch zartvioletten - Blüten des Flieders, des Rittersporns und der Hyazinthe wird die Ferne und das Sich-Entziehende spürbar, das Goethe dem Blau zugeordnet hat: "So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt," schreibt er, "so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe. [...] Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. [...S]o sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht."

Auf vielfältige Art also lehrt uns die heutige Ausstellung eine neue Wahrnehmung - lehrt uns die Aufmerksamkeit für die feine und vielschichtige Gestalt der Blüten, einen neuen Blick für die Schönheit des Verwelkenden und ein offenes Herz für die Strahlkraft und Wirkung der Farben. Und so sind denn die Plantagrafien Gisela Nerlich-Kunzendorffs nicht zuletzt auch eine Illustration des Epigramms wiederum von Johann Wolfgang Goethe, mit dem ich schließen möchte:

"Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket:

             Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir liegt."

(Goethe, Xenien aus dem Nachlaß)

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar