Raum und Bewegung im Werk von Beate Debus

Seit rund dreißig Jahren ist Beate Debus mit ihren Skulpturen der Kunstwelt präsent, bundesweit und darüber hinaus. Von Beginn an lag ihr künstlerisches Erkenntnisinteresse bei der menschlichen Gestalt. Stehen die Arbeiten der 80er und frühen 90er Jahre - meist Einzelfiguren - im Zeichen einer Figürlichkeit, die sich in kubistischen Formen und einer ausdrucksstarken Mimik der Büsten und Köpfe formuliert, vollzieht sich Mitte der 90er Jahre ein grundlegender Wandel im künstlerischen Zugriff auf das durchtragende Thema. Beate Debus rückt die Dualität von zwei Figuren ins Zentrum ihres Schaffens und mit der Emanzipation der Skulpturen aus jeder Abbildhaftigkeit fällt nun eine Zweifärbung der auf die assoziierbare Andeutung von Rumpf und Gliedmaßen reduzierten Gestalten als neues Charakteristikum ihrer Werke auf. Diese Zweifärbung erhält sich, als gut zehn Jahre später der Kopf erneut zum künstlerischen Thema Beate Debus' aufrückt und sie begleitet auch die derzeit jüngste Schaffensperiode, in der mit dem Thema des aufbrechenden Körpers eine gewisse Form der Figürlichkeit in die Arbeiten zurückkehren kann.

Die Frage nach dem Zustandekommen der Färbung und ihrer Motiviertheit im Schaffensprozeß führt zu einer Präzisierung der grundlegenden Werkthematik bei Beate Debus. Denn die Zweifarbigkeit steht hier ganz im Dienst der Sichtbarmachung von Bewegung, um die das Werk in jeder Skulptur aufs neue ringt.

Die Bewegung kann dabei ganz unterschiedlicher Natur sein: äußere Bewegung zunächst, die in etlichen mit Tanz (Schattentanz, Schrittfangen) betitelten Werken als spielerisches Ausbalancieren eigenständiger Körper vor Augen geführt wird; äußere Bewegung ferner, die basale Dichotomien der menschlichen Existenz thematisiert: Freiraum und Schutz, Schwäche und Standhaftigkeit, Kleinmut und Übermut, Überschwang und Balance; äußere Bewegung endlich, die in Werken wie Aufbäumen ein gewaltsames Nach-außen-Treten innerer Emotionen in den Blick rückt; und schließlich diese innere Gefühlsregung selber, wie sie in den Kopf-Skulpturen als Ausgangspunkt der äußerlichen Bewegung deutlich wird: Vom Kopf aus werden all unsere Bewegungen gesteuert, und so bekommen die Emotionen in den Köpfen ebenso raumgreifenden Ausdruck wie die Bewegungen im Raum. In ellipsoiden Wölbungen, aus denen die Kopfskulpturen Beate Debus' häufig wie zusammengesetzt wirken, scheint ein Gedanke oder Handlungsimpuls nach außen zu drängen und die Grenzen des Körpers zu verschieben.

Die Zweifarbigkeit von schwarzem und weißem, von geflämmtem und geschlämmtem Holz gliedert all diese Arbeiten und hilft dem Betrachter bei der Zweiteilung und Zuordnung der untrennbar ineinander verschlungenen Teile eines Werkes. Sie macht sichtbar, was in der Literatur zu Beate Debus gerne mit den Begriffen Dialog, Polarität und Balance beschrieben wird.[1] Heute durch Einfärbung, in früheren Werken auch durch ein Gegeneinander von glatter und rauher Oberfläche, von Rasterung und geschliffenen Teilen wird eine Dualität markiert. Das Ineinandergreifen und das Aufeinander-angewiesen-Sein von Haltgebendem und Fortstrebendem, von Erdgebundenem und Raumeroberndem, der Balanceakt von Identität und Veränderung, von Eigenem und Anderem wird hier im Kräftemessen der Bildhauerin mit den Naturgesetzen der Schwerkraft und der Materialbeschaffenheit mit jedem Werk neu ausgelotet. Die Färbung markiert den stützenden Teil der Skulptur und hilft, ihn vom aufruhenden, ausbrechenden, bewegten Teil zu unterschieden.

Im Fall der Köpfe erhält die Färbung in den Augenpaaren ihren Sinn. Denn über die Augen als Schnittstelle von objektivierbarer und subjektiver Realität teilen sich innere Erregung und Gefühle nach außen mit: Blickbewegt. Im Augenpaar, diesem jedem Menschen ganz eigenen Tor zur Welt, werden die inneren Regungen als Ursprung äußerer Bewegung darstellbar. Das schwarze Band, das die Augenpaare unterlegt, fängt unseren Blick und zeigt, wie sich die künstlerische Intention hier auf die Rolle des Blicks konzentrierte. Wie Schiffchen, so sagt Beate Debus selber, wie Schiffchen seien die Augen gestaltet, die die Grenzen des Individuums sprengen und zu nie gesehenen Ufern aufbrechen.

In ihrer derzeit jüngsten Werkphase wendet Beate Debus sich verstärkt wieder dem einzelnen Körper zu. Erneut wird Bewegung nicht als Interaktion zweier Figuren aufgefaßt, sondern ist in den einzelnen Körper hineingewandert. Im Gegensatz zum Frühwerk aber sind den Figuren die abstrahierende Reduktion und ihre charakteristische Einfärbung erhalten geblieben. Als Farbe ist dem Weiß das Rot als Möglichkeit zur Seite getreten, das Rot, das ikonographisch immer auch auf Blut, also auf das Leben wie auf die Verletzlichkeit der Körper verweist. Als tastende Rückgewinnung einer gegenständlichen Figürlichkeit sehen wir in den aufbrechenden oder aufgebrochenen Körpern Rippen, die den Brustkorb wie die Finger einer Hand - allerdings in der Regel als ungleiches Paar von fünf und sechs oder vier und fünf Rippenfingern - zusammenhalten zu wollen scheinen.

Wie in Debus' Kopfskulpturen die auffallende Wölbung einer Stirn auf die nach außen drängenden Gedanken verweist, so zeigen die Torsi aus den Jahren 2012-2013 eine innere Bewegung, die den Körper sprichwörtlich zerreißt. Sichtbar wird ein Kreuz, das - nicht immer klar entscheidbar - den Körper wie ein Keil auseinandertreibt oder ihn als Stütze von innen heraus hält. Bereits in den Köpfen konnte durch eine farbliche Unterlegung nicht nur der Augen, sondern auch der Linie Drittes Auge - Nase - Kinn ein Kreuz als Struktur der Darstellung aufscheinen. In den neuen Körpern nun macht ein Kreuz den menschlichen Körper auf seine Knochenstruktur hin durchsichtig: Wirbelsäule und Schultern des Menschen bilden ja tatsächlich ein Kreuz und man hat von dieser vertikalen und horizontalen Anlage des menschlichen Körpers lange Zeit die Ausrichtung des Menschen zum Göttlichen und zum Mitmenschen hin abgeleitet. Das Kreuz scheint hinter den Rippen hervor und wird zum tragenden Element der Figuren. Zum Winkel verkürzt, kann es aber auch wie ein Keil den Körper sprengen, als "Tau-Kreuz" (zum T verkürzt) wie ein Joch den Körper gerade nicht stützen, sondern als Last niederdrücken (Corpus aufbrechend).

Die ganze Ambivalenz der Kreuzfigur zeigt die Skulptur Kreuzdynamik, in der ein aus dem Körper hervorbrechendes Kreuz den gigantischen revolutionären Impuls der Reformation versinnbildlicht. Kreuzdynamik entstand als Auftragswerk für eine Ausstellung zu Reformation und Bauernkrieg, die Jürgen Winter 2011 in Mühlhausen kuratierte. Kreuzdynamik zeigt den Aufbruch als Verletzung und Befreiung zugleich, eine Verletzung, die die Skulptur in ihrer kubistischen Zerlegung des Körpers widerspiegelt. Wie in Pietà und Ecce homo gibt dieses Werk eindeutige Hinweise, daß hier das Kreuz auch als Sinnbild des Leidens, der Kreuz-Corpus vor dem Hintergrund einer Ikonographie des Corpus Christi als Grundtypus des leidenden, verletzlichen Menschen anzusehen ist. Im Aufbrechen wird der Körper durchsichtig auf seine Verletzlichkeit oder Verletzung hin. Daß Beate Debus' Körper aber in jedem Fall weiterhin aufrecht stehen, verdeutlicht erneut die Ambivalenz dieses Aufbrechens. Die Darstellung des Leidens und damit auch der Leidensfähigkeit des Menschen wird hier zum Anstoß, eigenes Leiden zu reflektieren, einzuordnen und womöglich zu relativieren. Sie tröstet, indem sie stark macht eingedenk dessen, was ein Mensch doch letztlich alles tragen kann.[2]

Grundlegend für das Erscheinen des Kreuzes in seiner Ambivalenz ist die Janusköpfigkeit der Öffnung selbst, die Doppeldeutigkeit des Raumes in den Skulpturen. In jedem Gespräch über ihre Kunst betont Beate Debus, daß das Wesentliche an ihren abstrakten Figuren der freie Raum ist: bei den Reliefs der Abstand zur Wand, bei den freistehenden Skulpturen der Innenraum, der eigene Raum, den die Körper für sich beanspruchen. Die Schaffung eben dieses Raumes aber wird von der Künstlerin immer schon als Befreiung und Verletzung zugleich reflektiert:

"Im Inneren des Baumes liegt der Kern, zu ihm möchte ich vordringen, ihn befreien von der verwachsenen Last der Jahre. Von ihm geht alle Spannung aus, ihm will ich mich nähern und ihn offenlegen. Ich setze die Säge an und steche eine Öffnung in den Torso. Der Kern ist hart und widerspenstig. Heulend bohrt sich meine Säge hinein. Selbst ich verspüre dabei Schmerzen - es ist ein Kraftakt, ähnlich einer Geburt. Und dann: Der Durchbruch, eine Öffnung, eine Offenbarung [...]. Der Baum hat überdecktes Leben abgelegt, er kann neu atmen."[3]

So beschreibt Beate Debus ihre Arbeit bereits 1998. Wie in Kreuzdynamik ein gesellschaftlicher Aufbruch unmißverständlich als zerstörerisch und befreiend zugleich greifbar wird, so stellt der Eingriff in das Material der Skulpturen tödliche Verletzung und Wiederbelebung in einem dar. Der Preis für die Bewegungsfreiheit der Figuren ist die Zerstörung der alten, geschlossenen Form.

An dieser Stelle wird nun auch endlich die Frage nach dem Zustandekommen der Zweifärbung der Figuren beantwortet: Um die Struktur der ineinander verwobenen Skulpturenteile sichtbar und das Werk in seiner Zweigestaltigkeit lesbar zu machen, flämmt Beate Debus die Skulptur zunächst ab. Die farblich abzusetzenden Teile werden in einem zweiten Schritt erneut abgeschliffen und mit Schlämmkreide geweißt. Der Effekt ist neben der besseren Verständlichkeit der raumgreifenden Gesamtskulptur die bessere Sichtbarkeit ihrer Verletzungen: "Die tiefen Furchen meiner Arbeitsspuren, die ich dem Fleisch des Baumes zugefügt habe, bleiben grafisch sichtbar. Ich schwärze sie sogar beim Brennvorgang, um die Baumhaut in ihrer Verletzlichkeit sinnlich erlebbar zu machen".[4]

Vielleicht ist tatsächlich der freie Raum, die Öffnung das Wesentliche in den Werken von Beate Debus. Der freie Raum als Voraussetzung von Bewegung; der freie Raum, der es möglich macht, Abstand zu halten oder aufeinander zuzugehen. Die Öffnung, die in den jüngsten Werken einem Kreuz Raum verschafft, das ikonographisch über Jahrhunderte hinweg als Sinnbild für die paradoxale Ambivalenz erlösenden Leidens steht.

Dr. Cornelie Becker-Lamers


[1] Vgl. etwa Ralf-Michael Seele, corpus. Vom Körper als zu Stoff geronnene Bewegung, in: Ralf-Michael Seele, Städtische galerie ada Meiningen (Hg): Beate Debus. corpus. Skulpturen. Zeichnungen. Collagen. Druckgrafiken, Meinigen 2007 [= Künstler aus Thüringen II], S. 5-10, S. 7; Kai Uwe Schierz, Stasis und Ekstasis - Bewegungsmotive im Werk, in: ebd., S. 23-27, S. 26; Manfred Bade, Zur Verortung der menschlichen Energiepotenziale, in: ebd., S. 29f., S. 29.

[2] Vgl. zu den Ausführungen bis hierher auch ausführlicher http://www.becker-lamers.de/reden-katalogbeitraege/ Stichwort Debus, besonders die Laudatio zur Ausstellung in der Thüringenvertretung Berlin November 2012.

[3] Beate Debus, Zwiesprache mit einem Verwandten, in: Jürgen Winter, Rolf Luhn (Hg): Beate Debus, Öffnungen. Holzskulptur. Zeichnung. Grafik, Meiningen 1998, S. 7.

[4] Beate Debus, Wie eine Skulptur entsteht, in: Ralf-Michael Seele (Hg) (wie Anm. 1) S. 13f, S. 14.

 

Der Text erschien im Juli 2013 im Druck. Bibliographische Angaben:

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Raum und Bewegung im Werk von Beate Debus, in: Raum und Bewegung. Beate Debus. Skulptur. Relief. Grafik, hg. von Beate Debus, Meinigen: Resch 2013, S. 3-4.

Der Katalog ist direkt über die Künstlerin selber oder in der Galerie Profil Weimar zu beziehen.