Gisela Kunzendorff. Plantagrafien
Rede zur Ausstellungseröffnung
Mammografiescreeningzentrum Erfurt, Freitag, 20. Februar 2015, 18 h
Sehr geehrter Herr Dr. Buse, liebe Gisela Kunzendorff, sehr geehrte Damen und Herren,
"Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket:/ Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir liegt." So lautet ein Hexameter, den Johann Wolfgang von Goethe uns in seinen Xenien hinterlassen hat.
Daß wir alle gut sehen können, das war schon jahrzehntelang das Anliegen der Fotokünstlerin Gisela Kunzendorff. Sie ist promovierte Augenärztin und hat lange in eigenen Räumen in der Magdeburger Allee praktiziert.
Seit knapp 10 Jahren ist diese Praxis verkauft. Doch Gisela Kunzendorff widmet sich weiterhin dem Sehen. Nur daß es jetzt nicht mehr nur die physiologischen Voraussetzungen des Sehens sind, die sie interessieren, sondern auch die psychologischen. Was nehmen wir wahr? Und was entgeht unserer Aufmerksamkeit, weil es zu klein ist oder zu unerwartet, wirtschaftlich einfach völlig irrelevant oder schlicht unter einer rauhen Schale verborgen?
Bewaffnet mit einer ständig verbesserten Fotoausrüstung begab sie sich in die Bauhaus-Universität Weimar, in die Erfurter Universität und die Fachhochschule, sprach mit Professoren, lernte, sammelte Eindrücke und Anregungen und begann zu experimentieren. Freundinnen saßen Modell vor Lochbildkameras, die verschwommene Bilder aufs Fotopapier brachten und die Gisela Kunzendorff in ihrer eigenen Dunkelkammer entwickelte. Ein sehr ausgereiftes Exemplar eines Lochbildkamera-Portraits hängt auch in dieser Ausstellung - eine am Computer nachbearbeitete digitale Fotografie, die nicht entwickelt, sondern ausgedruckt wurde.
Sehr bald fand Gisela Kunzendorff ihr eigentliches Thema, das sie mittlerweile mit dem Kunstwort "Plantagrafie" beschreibt: Das "Zeichnen" von Blumen und Pflanzen in all ihren Teilen und Zuständen - vom Stempel über die Blütenblätter bis zu den Wurzeln und von der noch verhüllten Knospe über die volle Blüte in all ihrer Farbenpracht bis hin zum verwelkt abfallenden Blatt. Und die Darstellung von Blumen mit allen technischen Mitteln - von der Lochbildkamera über das digital nachbearbeitete Foto bis hin zum Röntgenbild. In dieser Zeit ist Gisela Kunzendorff viel und weit gereist. In ihrem Archiv finden sich Landschaftsbilder von Island bis Portugal. Auf den vulkanischen Azoren fotografierte sie Teepflanzen, blaßweiße Calla, die hier einfach auf der Weide wachsen, Hortensienbüsche, Azaleen und Hibiskus am Straßenrand, Bananenstauden und vor allem die Blätter des Bananenbaumes, dessen Blattadern aussehen wie ein hauchfeiner Dekostoff.
Und da sind wir jetzt an einem ganz wichtigen Punkt: Neben dem Mut zum schönen Bild - und Sie wissen, daß man in der heutigen Kunstlandschaft da tatsächlich von Mut sprechen muß - neben dem Mut zum schönen Bild ist es die Suche nach verborgenen Strukturen und Strukturentsprechungen, die Gisela Kunzendorffs künstlerisches Schaffen antreibt. Und sie muß für die Materialien zu ihren Studien eigentlich gar nicht ins Ausland reisen: Im Weimarer Ilmpark beispielsweise fand sie das "kalifornische Springkraut", das zu diesem Foto hier Modell stand.
Verborgenen Strukturen: In einer Ausstellung im Klinikum Weimar, die Bauhaus-Studenten ausgerichtet hatten, stieß sie auf die Fotografie einer Pflanzenwurzel, die aussah wie die Abbildung menschlicher Herzkranzgefäße. Die Pflanze konnte hier als Bild für etwas anderes angesehen werden. Und da Gisela Kunzendorff eine gebildete und belesene Frau ist, war ihr natürlich auch längst die Elegie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) bekannt. Johann Wolfgang von Goethe beschreibt darin mit großer Liebe zum Detail die Stadien des Pflanzenwachstums, von der Keimung des im dunklen Schoß der Erde ruhenden Samens bis zur vollen Reifung der Frucht. Das Gedicht überträgt dann diese Naturbeobachtungen auf den Menschen, die verschiedenen Menschenalter von der Kindheit bis zum Erwachsenwerden und dem Reifen menschlicher Beziehungen und Liebe. Auch hier also, in einer Elegie aus dem Jahr 1798, steht die Pflanze allegorisch für etwas anderes. Gisela Kunzendorff stellt seit Jahren immer wieder neue Fotoserien zusammen und kombiniert sie mit entsprechenden Versen aus Goethes Elegie. Bild und Text erläutern sich so gegenseitig. Die Fotografien erleichtern dem Betrachter die Lektüre der 80 zum Teil recht sperrigen Distichen von Goethes Gedicht - und umgekehrt begründen die Gedichtzeilen die Abfolge der Bilder.
Ein Blütenbild einer solchen Metamorphose-Serie hängt auch hier in dieser Ausstellung, es ist die Mahonie (40x40) an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand. Mit ihren vielen gleichartigen und doch so unterschiedlichen Blüten könnte sie Pate gestanden haben zur Illustration der Verse "Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;/ und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,/ auf ein heiliges Rätsel."
Den "geheimen Gesetzen" der Pflanzen kam Gisela Kunzendorff noch näher auf die Spur, als sie begann, die Blumen zu beobachten, während sie welken. Sie fotografierte die verschiedensten Pflanzen im Zustand nach der höchsten Blüte - bis hin zu den fast entblätterten Tulpen, deren welke Blütenblätter sich aneinanderzuklammern scheinen oder die ihre wenigen verbleibenden Blütenblätter wie einen Fächer geöffnet ausbreiten. Sehen Sie hier in der Ausstellung die verwehende Pusteblume, das löchrige "goldene Blatt" oder die exotische "verblühende Prinzessin", die ein Mäntelchen aus Mohairwolle zu tragen scheint. Die beiden welken Narzissen scheinen ihre Stengel in dünnes Pergament gewickelt zu haben, und ihre Blütenblätter offenbaren eine hauchzarte Stofflichkeit. Die aufdringliche Schönheit praller farbiger Blüten ist vergangen, das Blattwerk strotzt nicht mehr vor Kraft und Fülle. Welche Strukturen werden dann plötzlich wahrnehmbar, wenn der Saft sich aus den Blättern zurückzuziehen beginnt. Strukturen, die die pralle Blüte erst ermöglichen - sie nämlich mit Wasser versorgen - und doch eben von ihrer Sättigung immer verdeckt werden. Matt gewordene Blütenblätter wie aus hauchdünnem Papier, unendlich zart in ihrer Transparenz. Gerade jetzt, wenn die Schönheit der vollen Blüte vergangen ist, kommt eine andere Schönheit zum Vorschein: die fragile Schönheit des Vergehenden, die uns keine ewige Dauer mehr vortäuschen möchte und die uns eben darum so schutzbedürftig und so erhaltenswert erscheint, weil wir sie dahinscheiden sehen. Am faszinierendsten finde ich aus der hier gehängten Auswahl die welkende weiße Orchidee. Sie sieht aus wie eine Ballerina, die, auf einem schmalen Bein tanzend, bei einer Arabeske ganz in den Schichten ihres weißen weiten Tutus versinkt (wie der sterbende Schwan, Odette in "Schwanensee").
Die heutige Ausstellung präsentiert erstmals einen weiteren Entwicklungsschritt in der Fotokunst von Gisela Kunzendorff. Im hinteren Bereich der Ausstellung hängen Röntgenbilder von Blütenkelchen. Wir sehen eine noch nicht aufgeblühte Distel, eine Celosie und eine Nigella, die tatsächlich geröngt wurden. Und wie bei Gewebe und Knochen des Menschen, so durchdringen die Strahlen manche Stellen der Blüte fast vollständig, dichtere Stoffe dagegen werden im Bild dargestellt. Ein verborgenes Pflanzengerüst wird sichtbar, die äußere Schönheit der Blume verschwindet vollkommen, aber die Geheimnisse des Pflanzenaufbaus, ihre verborgenen Strukturen werden offenbar. So stellte sich denn auch bei der Auswahl der Blumen für die Röntgenaufnahme heraus, daß zum Teil gerade unattraktive Blüten die besten Ergebnisse bei ihrer Röntgenaufnahme lieferten. So besitzt die Celosie, wenn man nicht gerade eine starkfarbige Züchtung des Brandschopfs vor sich hat, keine im klassischen Sinne schöne Blüte (dem hier ausgestellten Bild lag wohl eine Celosia cristata zugrunde.)
Die Durchleuchtung für ihre Kunst zu nutzen, beschloß Gisela Kunzendorff vor etwa anderthalb Jahren. Doch Sie können sich vorstellen, wie viele Monate sie mit verschiedenen Pflanzen, technischen Einstellungen, Papieren und Drucken experimentieren mußte, bis ein Bild herauskam, das ihren Vorstellungen entsprach. Die großformatigen Drucke, die wir hier sehen, sind das Ergebnis etlicher, jeweils Wochen dauernder Versuchsreihen. Auch diese Bilder sind selbstverständlich am Computer nachbearbeitet - der Hintergrund beispielsweise einheitlich geschwärzt, die Formen freigestellt. Doch die Darstellungen sind nicht eingefärbt oder sonstwie optisch aufgewertet, wie man das unter dem Begriff der "X-rayphotography" heute etwa bei dem New Yorker Fotografen Bryan Whitney zu sehen bekommt. Gisela Kunzendorff läßt die Aufnahmen so wirken, wie das radiologische Verfahren sie hervorbringt. Der Ausdruck allerdings erfolgt nicht auf einem schwarz-weiß-Drucker, sondern in einem sehr hochwertigen 11-Farben-Druck, der die Grauwerte der Aufnahme auch tatsächlich in allen Abstufungen darzustellen vermag.
Eine wirkliche Besonderheit bei Gisela Kunzendorff sind die Invers gedruckten Röntgenbilder, auf denen der Hintergrund weiß, die Pflanze in Grautönen und Schwarz erscheint. Die Künstlerin zeigt uns hier das Bild einer Tulpe und das einer Bartnelke. Die gefiederte Tulpe insbesondere wirkt wie eine Zeichnung Alter Meister aus einer Zeit, als Pflanzen gesammelt, dokumentiert, studiert und katalogisiert wurden. Das Verfahren der radiologischen Durchleuchtung läßt uns die Pflanzen mit ganz neuen Blicken sehen, als sähen wir sie zum ersten Mal. Und wie schon im Spiel mit bewußten Unschärfen und Belichtung der Blüten, so kommt auch in den Röntgenaufnahmen unserer Wahrnehmung zugute, daß die technischen Geräte längst besser sehen als unser Auge.
Die Internetseite von Gisela Kunzendorff hält noch eine Vielzahl wunderschöner Bilder parat, die sie sich anhand dieser Ausstellung gut werden vorstellen können, wenn Sie sie am Bildschirm betrachten. Ich möchte Ihnen dringend ans Herz legen, diese Seite einmal in einer ruhigen Minute aufzurufen. Die Bilder dieser Ausstellung sind fast alle verkäuflich, und es können eben auch weitere Motive bei Gisela Kunzendorff in Auftrag gegeben werden.
Die Röntgenaufnahmen jedenfalls stellen einen vorläufigen Höhepunkt im Schaffen von Gisela Kunzendorff dar, deren Kunst uns Aufmerksamkeit lehrt für die feine und vielschichtige Gestalt von Blüten, die uns einen neuen Blick schenkt für die Schönheit des Verwelkenden und ein offenes Herz für die Strahlkraft und Wirkung der Farben. Die uns, mit anderen Worten, lehrt, was Goethe in den Xenien als das Schwerste beschrieb: "Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir liegt."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar