Philip Oeser (1929-2013) Von Nordhausen nach Weimar. Malerei, Zeichnung, Graphik
Rede zur Ausstellungseröffnung
Nordhausen, Kunsthaus Meyenburg, 24. Juni 2017, 18 Uhr
Sehr geehrte Frau Hinsching, liebe Frau Müller-Krumbach, sehr geehrte Damen und Herren,
vor drei Jahren, Mitte 2014, wäre Helmut Müller, der sich seit 1965 Philip Oeser nannte, 85 Jahre alt geworden. Diesen Anlaß nutzte damals die Flohburg zu einer Retrospektive zum Werk des am 1. Juni 1929 in Nordhausen geborenen Künstlers, der am 3. Januar 2013 in Weimar verstorben war. Man zeigte damals auch Werke von Marlies Pape, seiner frühverstorbenen ersten Frau. Nun lädt die Meyenburg zu einer weiteren Schau von über 100 Werken Philip Oesers ein - dankenswerter Weise, denn das Atelier in Weimar ist noch voller nicht gehobener Schätze und etliche Exponate dieser Ausstellung, etwa die Radierungen und Handzeichnungen, sind ab heute zum ersten Mal öffentlich zu sehen.
Die Ausstellung spannt beinahe das gesamte Künstlerleben vor uns aus: Werke aus sechs Jahrzehnten. Die ältesten Exponate stammen noch aus der Studienzeit Helmut Müllers, die er zunächst in Weimar und ab 1951 in Berlin-Charlottenburg verbrachte. Entdeckt wurde sein Talent in den Zeichenschulen seiner Heimatstadt, die damals von Martin Domke und Renate Niethammer im sogenannten Judenturm geführt wurden. Geht man durch die Räume, enthüllt sich eine ungeahnte künstlerische Entwicklung vor den Augen des Betrachters: Vom expressiven Malstil und klassischen Themen wie Köpfen und Portraits, Stilleben und Tiermotiven, die, wie wir aus Tagebuchaufzeichnungen wissen, der junge Künstler mit akribischer Suche nach der Optimierung von Sujet und Ausdruck unermüdlich variierte, über die Zeichenstudie und den zu damaliger Zeit mutigen Materialdrucken hin zu einer ganz eigenen und unverkennbaren künstlerischen Sprache in Assemblagen, Collagen und Copygraphien, in denen sich die Lebensthemen Philip Oesers immer konzentrierter in den Vordergrund der Arbeit schieben.
Die Lebensthemen Philip Oesers - welche wären das? Ich denke, es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir den künstlerischen Schaffenstrieb von Philip Oeser in zwei traumatisierenden Erlebnissen entspringen sehen: Der Zerstörung seiner Heimatstadt durch die Bombardierung im April 1945, die er wie Tausende andere Einwohner Nordhausens im Bergwerk Mittelbau-Dora überlebte und die u.a. seine Ausbildungsstätte in Schutt und Asche legte. Und der Tod von Frau und Sohn bei der Geburt des ersten Kindes im Juli 1959, der den Umzug Philip Oesers zurück nach Nordhausen begründete.
Kunst entspringt in Oesers Verständnis, wenn das handwerkliche Können als Grundlage einmal gelernt ist, nur aus der Wahrhaftigkeit der Empfindung und dem "ehrlichen Ausdruck" intensiven Erlebens. Nichts anderes kann vor seinen Augen bestehen - auch eigene Werke nicht. Und so ziehen sich - nach diesen Erlebnissen - Symbole der Vergänglichkeit, des vergeblichen Mühens und der ständigen Metamorphose der Dinge wie ein roter Faden durch Oesers Werk. In dem 24teiligen "Zyklus zur Apokalypse" aus den Jahren 2006-2008, der in Besitz der Sparkassenstiftung ist und als Dauerleihgabe im Erfurter Augustinerkloster hängt, setzt Oeser viele Motive des Weltgerichts um, spart aber konsequent jeden Hinweis auf die Heilsbotschaften der Offenbarung, nämlich die positiven Verheißungen einer neuen Welt und geretteter Menschen, aus. In seinen Werken tauchen Muscheln als Ausdruck der Vergänglichkeit, aber auch der Pilgerschaft, Schneckenhäuser als Vanitasmotiv, verkohltes Holz oder sogar Spielzeug, verrottetes Werkzeug, alte Ziegel und vergilbte Fotografien immer wieder auf und werden in thematisch unterschiedlicher Gewichtung in den Materialdrucken, den Assemblagen und den Copygraphien immer wieder neu zueinander in Beziehung gebracht.
Hinzu kommt das kunsthistorisch angereicherte Motiv der Wegekreuze, die Oeser in Materialcollagen nachempfindet, und das der Melancholie, die er mit Bildzitaten aus dem Werk des von ihm sehr geliebten Albrecht Dürer umsetzt. Drängt sich dem Künstler in der DDR das in den 60er, 70er, 80er Jahren politisch brisante Thema der Suche nach der Freiheit auf, variiert Oeser die Figur der antiken Sagengestalt des Ikarus. (Das reicht vom Materialdruck und der Predella in Öl bis hin zu einer phantastischen und hauchzarten Kaltnadelradierung oben in der Rotunde: "Ikarus erwägt die Möglichkeiten seines Fluges". Man sieht: Die Federn sind keine geschlossenen Flächen, sondern feine einzelne Haare. Eher als Federschmuck auf dem Hut einer Dame als zum Fliegen geeignet.) Wohlgemerkt - des Ikarus, nicht des Dädalus. Dädalus, der gefeierte Erfinder und geniale Architekt des Labyrinthes, das in Knossos auf Kreta den Minotaurus gefangenhält, möchte seinem Dienstherren entfliehen und baut sich Flügel aus Vogelfedern, die er wie ein Fächer anordnet und mit Wachs und Faden stabilisiert. Dädalus kommt damit in Sizilien an - aber sein Sohn, Ikarus, fliegt der Sonne zu nahe, das Wachs schmilzt und er stürzt sich im Meer zu Tode. Und dieser Ikarus ist es, den Oeser zum künstlerischen Ausdruck wählt. Zum Teil mit deutlich politischem Hinweis: "Ikarus im Fadenkreuz" heißen Arbeiten aus den Jahren 1981 und 1982. Und wenn man die Radierung "Ikarus erwägt die Möglichkeiten seines Fluges" anschaut, sieht man drei Fadenkreuze. Die Radierung erzählt eine ganze Geschichte. Noch 1987 kehrt dieses Thema wieder - und da ist es Lilienthal, der zum Inhalt der Radierung wird. Otto Lilienthal, ein Maschinenbauer des 19. Jahrhunderts, hatte sich Flügel gebaut und auch die heutige Tragfläche erfunden, war aber im Alter von 48 Jahren durch eine Sonnenböe, also eine Thermik, die er nicht ausgleichen konnte, abgestürzt: Daher die Federn, auf die wir in etlichen Exponaten dieser Ausstellung treffen. Oesers Kunst thematisiert die tragische Figur, das vergebliche Bemühen, den zum Scheitern verurteilten Versuch einer Befreiung oder Selbstbehauptung.
Immer sind es Dingsymbole, die das Vergängliche und das tatsächlich Vergangene, aber eben auch das Gewesene und das gelebte Leben speichern. "Wie kann das sein, daß diese nahen Tage/ Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?" Das sind Zeilen aus Hugo von Hofmannsthals "Terzinen über die Vergänglichkeit". Das Gedicht liegt, von Oeser abgeschrieben, auf einer Ablagefläche in seinem Atelier. Die Reflexion des Vergangenen und die Ehrung der Ahnen muß für Oeser ein unglaublich starkes Lebensmotiv gewesen sein. Und so macht er sich die Dingsymbole - ikonographisch eingeführte wie selbst definierte - zunutze, um sie in seiner Kunst in Szene zu setzen und auf einer höheren, ästhetisierten Stufe aufzubereiten, mit Sinn und persönlichen Deutungen anzureichern und aufzubewahren. Die Dinge selber sprechen zu lassen, in ihrem Abdruck oder in der Collage, scheint mir das Typischste am Schaffen Philip Oesers zu sein, das, was den wichtigsten Entwicklungsschritt seit dem Studium ausmacht. Er ehrt den krummen Nagel aufgrund seiner Geschichte. Im Obergeschoß sehen wir eine Zeichnung mit dem Titel "Schrott". Er wählt Schrott zum Bildsujet.
Ein frappierendes Beispiel seiner Ehrfurcht vor jeder Form von kulturellem Gedächtnis finde ich immer wieder, wenn ich sein Atelier besuchen darf. An der Wand hängt eine Seite aus einem Antiphonal, also einem alten Gesangbuch der katholischen Kirche, in dem die täglichen Gebete des Stundengebetes mit ihren Melodien verzeichnet sind. Oeser war weder katholisch noch sonst irgendwie bekennend christlich, meines Wissens konnte er kein Latein - aber er hängt sich diese Seite auf, in Wertschätzung ihrer schönen Gestaltung und ihrer Funktion im Rahmen der abendländischen Kultur.
Er findet seine Materialien auf freiem Feld oder in alten Häusern. Aber er fingiert sie auch oder stellt sie selber her. Setzt Nägel auf einem Briefkuvert ein halbes Jahr lang der Witterung aus und verwendet dann Nägel und Kuvert, durch den Regen verrostet bzw. verfärbt, im nächsten Bild.
Ab den 90er Jahren spielt die Verwendung von Schrift und Schriftstücken eine immer größere und zuletzt sicherlich die zentrale Rolle in der Kunst Philip Oesers. Immer häufiger treffen wir auf die griechischen Schriftzeichen des Alpha und des Omega - eines Motivs aus der bereits erwähnten biblischen Apokalypse. Alpha und Omega sind der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets und Gott nutzt sie in der Offenbarung, um sich als Anfang und Ende der Welt zu erkennen zu geben. Was nichts anderes heißt, als daß die Welt Text ist. Als Sohn eines Buchhändlers, selber zunächst Buchhändlerlehrling, ist Philip Oeser sehr belesen in Lyrik, Sagen und Märchen sowie allen Klassikern von der Antike bis zur Moderne.
Geschriebenes speichert Leben und Erinnerungen in ganz besonders nachvollziehbarer und eindeutiger Form, und so findet Schrift in dreierlei Funktion Eingang in Oesers Werk: In der Tagebuchserie etwa generiert er ganze Bilder aus Schriftstücken. Auf Folien kopiert, kann die Schrift im Bild leserlich bleiben oder durch Überlagerungen oder als Spiegelschrift unterschiedlich stark verfremdet werden. So erhält sie auch die Funktion des Ornaments, das keine bestimmte Bedeutung mehr transportiert, sondern als noch erkennbare, aber nicht mehr lesbare Schrift nur noch die Idee der Speicherung von Leben in Schrift evoziert. Die Spiegelung kann aber auch zum verlangsamten und damit bewußten Lesen anhalten - so verwendet im berühmten Apokalypse-Zyklus. Sehr gut lesbare Frakturschrift einer Bibelübersetzung aus dem Jahr 1831 wird hier in Spiegelschrift auf den Kopf gestellt, damit man die immer wieder zitierten und daher bekannten Schriftstellen nicht nur überfliegt, sondern sich noch einmal ganz bewußt und mit etwas Mühe und Ehrgeiz rekonstruiert: In den Textzitaten des Apokalypse-Zyklus kam es Oeser auf die Inhalte an, hatte ihn doch die erschreckende Aktualität der göttlichen Strafen wie Überschwemmung und Waldbrände und die beschriebene ausbleibende Umkehr der Überlebenden zu dieser Arbeit, zu dieser Mahnung getrieben. Hier also Schrift auch als konkreter Bedeutungsträger. Eingefärbte Zeitungsartikel wurden, wenn sie Eingang in die Bilder fanden, nach dem Layout, dem Schrift-Bild, das die Schlagzeilen ergaben, oder nach einzelnen lesbaren Wörtern ausgewählt - hier ist die Schrift wieder eher ein Ornament und markiert den ständigen untergründigen Informationsfluß, der unser Leben bestimmt. So auch in "Gesetz und Zerfall" und anderen Werken, die Textfetzen - in diesem Fall tatsächlich aus einem alten Gesetzbuch - anordnen. Hier ist nichts mehr lesbar, aber die Textschnipsel rufen das geschriebene, "verbriefte" Recht ab.
Damit sind wir bei den Prägedrucken angelangt, die Oesers späteste Arbeiten bestimmen. Wir treffen hier auf diese wunderbar beruhigenden kreisrunden Formen, die, was immer innerhalb ihrer geschieht, doch als Ganzes unverletzlich scheinen - denken Sie an das "Weiße Blatt mit Mal" aus dem Jahr 2002. Kreisrunde Formen, wohl auch mit Quadraten kombiniert - wie als Anspielung auf den "Stein des Guten Glücks", dem Denkmal von Kreis und Kubus hinter Goethes Gartenhaus - lange Jahre die beinahe direkte Nachbarschaft des Ehepaares Oeser/Müller-Krumbach in ihrem Haus am Horn hinter dem Park an der Ilm in Weimar. Die "Morbiden Fragmente im Spiegelkrebsgang" zeigen eine Anordnung kontrastfarbiger Papierausrisse in vertieften Kreisen. Der Spiegelkrebsgang ist dabei die bildliche Umsetzung eines bekannten barocken Kompositionsprinzips, in welchem eine von hinten nach vorne gelesene Melodie (das ist der Krebsgang) zusätzlich gespiegelt wird (die Intervalle führen dann nach unten statt nach oben bzw. umgekehrt). Auch diese Kenntnis übrigens eine Lesefrucht von Philip Oeser: Thomas Mann beschreibt dieses Kompositionsprinzip in seinem Musiker-Roman "Dr. Faustus".
Ein letzter Prägedruck zeigt ein Labyrinth und weist damit auf weitere Werke, die die Witwe und Nachlaßverwalterin Frau Dr. Müller-Krumbach noch nicht zur Ausstellung frei gegeben hat: Labyrinthe, im Atelier auch aus Holzleisten mit einer Linse zur Selbsterkenntnis im Zentrum. Das Labyrinth, das wir hier sehen, ist der klassischen Form des Minotaurus-Labyrinthes nachempfunden, hat einen Eingang und führt auf verschlungenen Wegen aber doch sicher und ohne Sackgassen zum Ziel im Zentrum, das durch ein Omega als Ende des Lebens/ der Welt markiert ist. Ein tröstliches Bild des Lebens, das uns auf verschlungenen Umwegen doch sicher zum Ziel führt. Im Atelier hängen die existentialistischen Varianten, in denen die Labyrinthe keinen Eingang haben - wir sind in die Welt geworfen, treten nicht willentlich in sie ein - und nur aus Sackgassen bestehen. Auch der Zugang zur Linse als Bild der Selbsterkenntnis im Zentrum des Labyrinthes bleibt versperrt. (Ein solches Labyrinth ist übrigens auf den Fotos zu sehen, die Sybille Mania im Atelier von Philip Oeser gemacht hat und die im Untergeschoß ausgestellt sind.)
Morbide Fragmente, Melancholiefragment, Schnecken, Muscheln, Federn -Vergangenes, Vergänglichkeit, Vergeblichkeit: Ich habe die Werke Philip Oesers als von Gedenken, Trauer und Pessimismus gekennzeichnete Kunst beschrieben. Man sollte aber kein zu düsteres Gesamtbild des Künstlers Oeser aus dieser Rede mitnehmen. Immer wieder konnte er auch in seiner Kunst sehr witzig sein, wie etwa in der Zeichnung "Zwei Damen, einander in ähnlichen Kleidern vermutend" aus dem Jahr 1978 - ein die Befindlichkeiten des Gesellschaftslebens beinahe karikaturesk zugespitzt einfangendes Motiv. Auch die "Heiteren Formen" oder der "Rote Harlekin" sprühen von purer Lebensfreude. Generell darf man nie vergessen, daß Kunst nur aus der überfließenden Lebensbejahung entsteht. Kein schöpferischer Prozeß ist möglich, ohne daß Leben aus dem schöpferisch tätigen Menschen in das Werk überfließt. Vollständige Lebensabkehr schafft keine Kunst. In diesem Sinne wünsche ich ihnen viel Freude in der Ausstellung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar