Philip Oeser = Helmut Müller. Ein Maler aus Nordhausen. Ausstellung anläßlich des 85. Geburtstages des Künstlers am 1. Juni 2014
Rede zur Ausstellungseröffnung
Nordhausen, Flohburg | Das Nordhausen Museum, 3. Juni 2014
Liebe Frau Müller-Krumbach, sehr geehrte Frau Dr. Klose, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Frau Kneffel, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Philip Oeser - Helmut Müller ist ein Künstler aus Nordhausen. Und er ist es gleich doppelt. Denn er kam hier zur Welt, besuchte die Schule, absolvierte, soweit die Zeitläufte es ihm gestatteten, hier eine Ausbildung und machte in den Zeichenschulen von Martin Domke und Renate Niethammer auf sein künstlerisches Talent aufmerksam.
Und er kam noch einmal nach Nordhausen zurück, um ein zweites Leben zu beginnen, im Alter von 30 Jahren, nach dem Studium in Weimar und Westberlin, als freischaffender Künstler, nach dem schrecklichen Schicksalsschlag des Todes von Sohn und Ehefrau bei der Geburt des ersten Kindes. Dieses traumatische Erlebnis, das noch Jahrzehnte später in Oesers Kunst seine Spuren hinterläßt, zerschlägt dem jungen Mann nicht nur seinen gesamten privaten Lebensentwurf, sondern nimmt ihm auch für ein Dreivierteljahr die Möglichkeit zu arbeiten. "Der Selbstmord nimmt einem nicht nur das Leben, sondern auch den eigenen Tod", notiert er in sein Tagebuch: Er spielt mit dem Gedanken an den Freitod und entkommt ihm nur aus unterschiedlichen Überlegungen heraus. Die Tagebücher aus dieser Zeit, Juli 1959 bis März 1960, hat Oeser vernichtet. Selbst seine zweite Frau weiß wenig über diese Zeit, wir wissen nur, daß er im Frühjahr des folgenden Jahres, März 1960, so langsam wieder in der Lage ist zu arbeiten.
Mit Helmut Müller kam 1959 also ein junger Mann nach Nordhausen, in seine Heimatstadt zurück, der bereits auf die "Trümmer" seiner Biographie zurückblicken mußte. Bei der Rückkehr nach Nordhausen geht es um nichts Geringeres, als das Leben neu wiederzufinden. Am 22. Januar 1961 notiert er in Nordhausen in sein Tagebuch: "Freitag im Judenturm [dem ehemaligen Domizil der Malschule Domke] gewesen, Trümmer der eigenen Vergangenheit zu besichtigen. Alles zerschlagen, aufgebrochen." Und als er ein halbes Jahr später, Anfang Juni 1961, Weimar besucht, notiert er: "Weimar, nach 10 Jahren. Vor 10 Jahren (Juni 51) verließen M. und ich diese Stadt [nach Westberlin], die nun so klein und ruhig ist." Der 32jährige erinnert sich wie ein alter Mann, blickt auf sein Leben zurück.
Aber stand die Rückkehr nach Nordhausen tatsächlich nur mit dem Schicksalsschlag des Todes von Frau und Kind im Zusammenhang? Oesers Tagebücher erwecken den Eindruck, auch sonst habe ihn wenig in Westberlin gehalten. Außer mit Helmut Dittmann und Rainer Behrends, so sagt Frau Müller-Krumbach, verband ihn keine Freundschaft mit den Kommilitonen. Das mußte sogar die Staatssicherheit konstatieren. Bei einer Einschätzung, ob Oeser als Reisekader von ihm restaurierte Werke Dürers zu einer Ausstellung nach Basel begleiten sollte, heißt es am 31. Mai 1974 in der Akte: "Verbindungen zur o.g. Hochschule [HBK Charlottenburg] bzw. den ehemals dort Studierenden [...] sind nicht bekannt." Oeser durfte reisen.
Doch zurück in die 50er Jahre: Beißend tritt uns in Oesers Tagebüchern sein Spott über selbstzufriedene Kollegen entgegen, die anderen Künstler, die an der Seite ihrer Ehefrauen "bewunderungswürdig selbstbewußt" durch die Ausstellung ihrer Bilder flanieren (24. April 1959). Und dieser Spott ist kein Neid: Auch Oesers Bilder hängen in derselben Ausstellung, "gut gehängt (gesondert)", notiert er, und werden gelobt. Aber Oeser sind die Künstler zuwider, die sich allzu gut selbst verkaufen können und immer und überall dabei sein müssen: "Bergmann und P. Schubert vor der HBK (aus dem Bus gesehen): große Gesten, "Persönlichkeiten", überall da, überall dabei - Käse", schreibt er am 13. April 1959.
Mit Händen zu greifen auch die Distanzierung von seinem Hochschullehrer Kaus, der lobt, was Oeser schon abqualifiziert hat: So lesen wir im Tagebuch am 23. November 1956: "Schlechter Siebdruck. Kaus findet ihn gut, Hoffmann auch. Das viele Reden. Kaus findet meine Bilder gut." Hält man die unendlich vielen Notizen über die Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit, dem Output, aber auch dem Zugriff auf den von der Schule vorgegebenen Stoff daneben, dann wird klar, daß Oeser sich auf der Hochschule nicht gut beraten findet. Er findet augenscheinlich keine Hilfe in seinem Pessimismus, seinen Selbstzweifeln, seiner Melancholie und seiner Arbeitshemmung, den "Löchern", in die er zwischen der Fertigstellung eines Werkes und dem Beginn einer neuen Arbeit fällt, auch fachlich wohl keine Hilfe in seiner Suche nach dem wahrhaftigen Ausdruck seiner Selbst, der seine Kunst bestimmen soll. Die gestellten Aufgaben langweilen ihn und er ist auf großer Distanz zum Hochschulbetrieb. Er nimmt sich richtiggehend vor, sich "gegen Schuleinflüsse abzukapseln - Kaus, Curt, Haase, Lettow usw." 2. Januar 1956) Obwohl er auf die Prüfung zum Meisterschüler hinarbeitet, um seinen Wohnsitz nach Westberlin verlegen zu dürfen ("damit wir den Zuzug kriegen" 2. Januar 1956), notiert er am 26. Juni 1956 in sein Tagebuch: "Prüfung bestanden. Lächerlichkeit des Ganzen. Trotzdem bin ich sehr froh über das äußere Ergebnis. Ruhig - schon mit dem Keim des Unzufriedenseins in der Zufriedenheit."
Oesers eigentliche Freunde scheinen immer die Schriftsteller gewesen zu sein, deren Werke er - als Sohn eines Buchhändlers und das heißt wohl auch eines belesenen und bibliophilen Mannes - sein Leben lang in erstaunlichen Mengen konsumierte und exzerpierte, was ihm an Lebensweisheiten zur Klärung der eigenen Situation hilfreich war.
Ein Grund für die Rückkehr nach Nordhausen war also sicherlich auch, daß ihn in Berlin nichts hielt. Und Geldsorgen. Denn auch wenn in den 50er Jahren hin und wieder ein Bild in einer Ausstellung gezeigt wird, hat er nicht viele Aufträge oder Verkäufe zu verzeichnen. Was sich natürlich zur völligen Katastrophe auswächst, als er aufgrund des Schicksalsschlages vom Juli 1959 für Monate wie gelähmt ist. Aber auch aus der früheren Zeit lesen wir wiederholt von den bedrängten Verhältnissen - so kann er aus Platzmangel nicht zwei Stilleben nebeneinander aufbauen, um parallel an verschiedenen Werken zu arbeiten und der gedrückten Stimmung zwischen fertigem Werk und nächstem Projekt zu entkommen. Sein Atelier in Berlin mißt etwa 8qm, und vor dem ohnehin kleinen Fenster nimmt ein Baum das Licht, so daß er häufig nur wenige Stunden arbeiten kann, in denen er aufgrund der Lichtverhältnisse überhaupt die Farben richtig mischen und beurteilen kann. Dann auch das Problem, daß er keine Arbeitsmaterialien kaufen kann: "Ich kann nicht weiterarbeiten, weil mir Material fehlt." (4. Dezember 1958)
Über Jahre gleichen sich die Einträge, in denen er Muschelbilder malt, dann wieder übermalt, immer dieselben Stilleben, mit deren Form er ringt, Farbe wieder von der Leinwand kratzt etc. In frappierender Weise wird m.E. das langwierige Abarbeiten an einem kaum variierten Motiv in einem Tagebucheintrag vom 3. März 1959 deutlich, in dem es heißt: "Nehme die Flasche aus dem Stilleben heraus (versuchsweise)". Kai Uwe Schierz spricht von dieser Zeit Oesers als von einer "permanenten schöpferischen Krise".
Oeser hat ein unkorrumpierbares Gespür für Qualität - wir haben schon gehört, daß sein eigenes Urteil über die eigenen Arbeiten völlig unabhängig vom Urteil beispielsweise seines Lehrers ist. Er besitzt - oder sollte man sagen: leidet unter einem Gespür für Qualität, die nach dem Ende des lernbaren künstlerischen Handwerks und Kanons aus einer Wahrhaftigkeit der Empfindung entspringt. Dann, nur beim "ehrlichen Ausdruck" intensiver Empfindungen, können Kunstwerke entstehen, die vor seinen Augen Gnade finden. Er findet diese teilweise im Museum - auch hier hat er viel auszusetzen - und teilweise, und dies sind große Glücksmomente, in der eigenen konzentrierten Arbeit. Verbessern und nachträgliches Arbeiten an fertigen, nicht ganz gelungenen Bildern scheint ihm zwecklos, da die ursprüngliche Empfindung, aus der das Werk fließen muß, erloschen und verflogen ist und es ein Herumdoktern am Formalen bleiben muß, wenn man an einem Teil des Bildes nachkorrigiert. Im Gegenteil: Die Gefahr besteht, daß man noch das zerstört, was vielleicht an einem Werk gut war. Es bleibt nur, und das beschreibt Oeser oft und oft in seinen Tagebüchern, es bleibt nur das Übermalen, Überstreichen, Auslöschen, Abkratzen.
10. Februar 1959: "Gestern Nessel gekauft und Flächen bespannt. Durch meine Müdigkeit angefangen, ein altes Bild (Kopf von 1958) zu "verbessern". Das ist blanker Wahnsinn. Schon deshalb, weil man, statt vom Erlebnis auszugehen, von der Bildwirkung ausgeht und damit letzten Endes alles zerstört."
Die Intensität der Empfindung, die das wahre Kunstwerk hervorbringt - wie ist diese zu erlangen und festzuhalten? Helmut Müller macht ja die Erfahrung, daß er in dem Moment, da er vielleicht am intensivsten empfindet, nämlich das dreiviertel Jahr nach dem Tod von Frau und Kind, überhaupt nicht arbeiten kann und auch vernichtet, was an Tagebuchaufzeichnungen in diesen Monaten entstanden ist. Nein: "Für den, der sich bemüht, seinem Inneren Ausdruck zu verleihen, ist Kunst nicht etwas Geisteswissenschaftliches, sondern etwas Körperliches wie ein Fingerabdruck" notiert er in sein Tagebuch.
Kai Uwe Schierz hat darauf hingewiesen, daß dieses Zitat den Weg aufzeigt, den die Kunst Philip Oesers seit ihrem Neubeginn in den 60er Jahren beschritten hat. Statt Fundsachen wie Muscheln, Flaschen, Federn etc. zu malen, läßt er die Dinge selber sprechen, zunächst in Materialmonotypien, Drucken und später, als er die Möglichkeit zu Kopiervorgängen hat, in den aus mindestens fünf-sechs arrangierten Schichten und Arbeitsschritten bestehenden Copygraphien. Das "objet trouvé" zum Sprechen zu bringen, wird zur zentralen Intention in Oesers Werk. Dabei wird das Objekt an sich zum Sprechen gebracht, in aller Schlichtheit gezeigt, als auch seine Möglichkeiten des Verweisens auf Anderes, seine symbolischen Konnotationen ausgelotet.
Der Umschlag zu dieser Schaffensperiode fällt mit dem Beginn von Helmut Müllers zweitem Leben nach seiner Rückkehr nach Nordhausen zusammen. Er kommt in einer Dachkammer seiner Schwiegereltern unter und kann in der "Windlücke", einem außerhalb gelegenen Häuschen, arbeiten. Und es ist die Arbeit, mit der Helmut Müller sich 1960 am eigenen Schopf aus dem Unglück zieht: "Aber zur Frage nach der Stimmung oder Affektlage des schreibenden, fassen wir es etwas weiter: des schöpferischen Menschen: Da scheint es mir auf der Hand zu liegen, daß ein solcher, selbst wenn er persönlich oder privat von einem geradezu lethargischen Pessimismus befallen sein sollte, durch die Tatsache, daß er arbeitet, aus dem Abgrund steigt. Das angefertigte Werk ist ein Absage an Zerfall und Untergang", lesen wir als Zitat von Gottfried Benn, den Oeser sehr schätzte, bereits am 5. Januar 1957 in Oesers Tagebuch.
Ein Schlag ins Kontor ist die Ablehnung des Verbandes Bildender Künstler der DDR im November 1960. Die Erfurter Abteilung hatte ihm geschrieben, seine Werke berechtigten "unbedingt" zur Aufnahme in den VBK, und nun kommt aus Berlin ein Schreiben, die Arbeiten Oesers entsprächen nicht "den künstlerischen Auffassungen, die der Verband in seiner ideologischen Konzeption vertritt." (4. November 1960) Nach den Kürzungen des Stipendiums, die Marlies Pape und Helmut Müller schon 1950 hinnehmen mußten, weil sie sich weigerten, der FDJ beizutreten, werden Oeser nun also erneut staatlicherseits Steine in den Weg gelegt. Und so sehr es ihn schmerzte, nach der Genehmigung seines Wohnsitzes in Westberlin Ende der 50er Jahre keine Passierscheine zur Heimreise zu erhalten (er kann anderthalb Jahre lang nicht nach Hause und vermerkt dies wiederholt in seinem Tagebuch), so sehr wird ihn seine Rückkehr in die DDR aufgrund der massiven politischen Repressalien angekommen sein.
Erfreulich aber zeitgleich mit dieser Ablehnung sein erster Kontakt nach Erfurt. Der vorhin erwähnte Besuch in Weimar, bei dem sich Oeser erinnert, wie er mit Marlies zusammen die Stadt gen Berlin verließ, dieser Besuch in Weimar steht im Zusammenhang mit der Bewerbung Oesers um eine Restauratorenstelle am Erfurter Angermuseum. Dr. Kunze, der damalige Museumsdirektor, war Oeser sehr zugetan, fachlich von ihm überzeugt und schätzte seine Kunst, er kaufte auch privat an. Die Wertschätzung war gegenseitig und Oeser war im Angermuseum tätig, bis er einige Jahre später als Chefrestaurator an die Staatlichen Kunstsammlungen Weimar wechselte. (Kunze war 1963 auf Druck des Rates des Bezirks aus seinem Amt ausgeschieden.) Obwohl Oeser untergründig beständig trauerte, nicht mehr genug Zeit für die eigene Kunst zu haben - es gibt Tagebucheinträge, die das formulieren -, erwarb er in der Restaurierung doch wohl auch Fertigkeiten, die ihm für seine künstlerische Tätigkeit nützlich waren. Und ganz unterbleiben mußte das eigene Kunstschaffen nicht: 1963 gehörte Oeser zu den Mitbegründern der Erfurter Ateliergemeinschaft, die in der Regel mit dem Namen Alfred Traugott Mörstedts verbunden wird, zu der aber neben Oeser auch Künstler wie Waldo Dörsch, Helmut Senf, Rudolf Franke, Johannes Sönnichsen oder Rainer Behrends gehörten.
Wie sieht nun Oesers Kunst aus (das Pseudonym Philip Oeser nahm Helmut Müller übrigens 1965 an)? Hatte er als ganz junger Mensch, in den Nordhäuser Zeichenzirkeln, mit dem klassischen Repertoire Selbstportrait, Portraitstudie, Stilleben in Öl aufgewartet und in der Drechselwerkstatt eine der figürlichen, an indigene Kunst erinnernden Holzskulpturen für die Einzäunung des Judenturms geschaffen, hatte er zehn Jahre lang mit dem malerischen Selbstausdruck gerungen, so läßt er nun in Materialdrucken und Monotypien die Dinge selber zur Darstellung kommen. Oder fingiert dies zumindest. Denn wenn Sie sich ein verkohltes Stück Holz vorstellen und wie es durch eine Druckerpresse wandert, dann bemerken Sie sofort, daß der fertige Druck nicht die plastische Maserung wird aufweisen können, die uns in den vielen Bildern der "Melancholie mit verkohltem Holz" mit Dürer-Zitat oder auch dem Troja-Memento begegnet. Das morsche, weiche Holz muß zuerst in einem stabilen Material abgegossen werden, das der Druckerpresse standhält. So ist bei aller Zurücknahme des subjektiven Ausdrucks die künstlerisch gestaltende Hand doch allenthalben unentbehrlich.
Seine Druckerpresse hat Philip Oeser sich übrigens selbst gebaut. Es gab sie nicht zu kaufen und außerdem hatte er kein Geld. So funktionierte er eine alte Wäscheschleuder um, deren zwei Walzen eigentlich zum Wringen von Wäschestücken konzipiert gewesen waren. Einer seiner Brüder (Oeser war der dritte von fünf Söhnen), Kunstschmied von Beruf, stellte ihm das Schwungrad her und heraus kam eine Maschine, mit der Oeser eigentlich Unmögliches fabrizieren konnte, nämlich Hoch- und Tiefdruck in einem einzigen Arbeitsgang (vgl. Troja-Memento.)
Wollen wir versuchen, eine Schneise in das 50 Jahre währende Kunstschaffen Oesers nach 1960 zu schlagen, so möchte ich besonders die Einflüsse von Musik und Literatur auf das Kunstschaffen Oesers hervorheben. Daß er in der Literaturgeschichte sehr umfassend bewandert war, habe ich schon erwähnt. Doch interessant ist auch, was er sich zur Musik am 7. April 1959 in sein Tagebuch notiert: "Das Punktuelle der Klaviermusik! Habe ich sie darum lieber als alle andere? [...] Auch der lang "angehaltene" Ton ist kurz, schwingt nur lange aus. Die schöne Einheitlichkeit guter Klaviermusik. Das bei den Bildern bedenken. Das wäre: WEISS in einem Farbton." In einer Zeit also, in der er noch hauptsächlich mit der malerischen Darstellung der Stilleben und Muschelbilder ringt, mit der Ausgewogenheit kontrastierender Farbflächen, aus denen er seine Bilder zusammensetzt, in dieser Zeit überträgt er in gleichsam synästhetischer Weise Klangvorstellungen in die Malerei, überträgt Toncharaktere auf Farbcharaktere. (Sie wissen, daß Kandinsky diese Synästhesien sehr weit ausgespielt hat, er sah Klängt und hörte Farben. In diese Richtung geht die Notiz Oesers im April 1959.) Als Oeser beginnt, Materialdrucke und Prägedrucke, Collagen und Assemblagen entstehen zu lassen, ist das "Punktuelle der Klaviermusik" weiterhin in den Werken zu finden. So sieht Kai Uwe Schierz diese Klangvorstellung Anfang der 60er Jahre in den "Dom-und-Severi"-Drucken umgesetzt, man könnte hier in der Ausstellung den "Rot-Blauen Harlekin" (1962) dazu zählen. Doch Oeser überträgt noch mehr aus der musikalischen in die bildkünstlerische Sphäre. Die Bauart eines Spiegelkrebsgangs oder Spiegelkrebskanons, dessen Beschreibung er aus Thomas Manns Dr. Faustus kennt, ist wiederholt in seinen Collagen zu finden: Im Apokalypse-Zyklus oder in den "Morbiden Fragmenten im Spiegel-Krebsgang I und II" (2002), das sind Prägedrucke mit Collagen. Der Spiegelkrebsgang in der Musik bezeichnet ein kompositorisches Prinzip, in dem Melodie gespiegelt wird (also Intervalle, die ursprünglich nach oben führten, nun nach unten geführt werden) und rückwärts gelesen (nach Art des Krebsgangs). Dieses kompositorische Prinzip findet sich in den Formreihen einiger Collagen Oesers wieder.
Noch wesentlicher aber als die Musik ist für Oeser die Einbeziehung von Schrift in seine Kunst. Denken Sie an die Tagebuch-Serie, an den Apokalypse-Zyklus (der hängt übrigens im Erfurter Augustinerkloster - wenn Sie einmal Gelegenheit haben, ihn anzusehen - es lohnt sich unbedingt!), an die Verwendung von Zeitungsausschnitten in seinen Werken oder an die regelrechte Inszenierung einzelner Verse von Rilke in der Kindheits-Serie (wo die Schrift wie in der Tagebuch-Serie durch Fotografien flankiert wird) oder von Uhland.
Die Schrift im Werk Oesers kann dabei sehr unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie wissen, daß es in der Bildenden Kunst heutzutage nicht unüblich ist, Schrift in ihrem schmückenden, ornamentalen Charakter in ein Bild einzubeziehen. Dies kann der Fall sein, wenn Schrift in einem Druck spiegelverkehrt erscheint und somit kaum lesbar ist. Ebenso vermute ich, daß die zum Teil nur in Satzfetzen sichtbare Sytterlin-Schrift von Tagebüchern bei Oeser eher die Funktion hat, die Idee der Aufbewahrung von Erlebtem in der Schrift abzurufen, als tatsächlich zur Deutung des Bildes unerläßliche Informationen in den Wörtern zu transportieren. So hat er mir auch für meine Arbeit zum Apokalypse-Zyklus bestätigt, daß die verwendeten Zeitungsausschnitte zwar unter thematischem Gesichtspunkt gesammelt wurden (ihm lag, wenn ich das richtig sehe, vor allem an den Themen Umweltschutz und Kinderschutz), aber unter ästhetischen Gesichtspunkten dann Verwendung in den einzelnen Bildern fanden. Zur Weiterverarbeitung in der Kunst war dann nicht wichtig, was genau in einem Artikel stand, sondern wie die Schrift angeordnet war (Schlagzeile etc.), wie das Blatt gealtert war, wie es sich verfärbt und verändert hatte.
Anders sieht die Sache bei den Bibelzitaten im Apokalypse-Zyklus aus. In den Blättern wird eine Luther-Bibel des Jahres 1831 verwendet, schöne lesbare Frakturschrift, die hier allerdings ebenfalls gespiegelt und kopfgestellt erscheinen kann. In diesem Fall vermute ich, daß das zu rasche Überfliegen des Textes vermieden werden soll, daß der Ehrgeiz geweckt wird, die Schrift zu entziffern (was durch den klaren Druck sehr gut möglich ist trotz der Spiegelverkehrungen) und daß das Umdrehen der kopierten Bibelseiten die Entschleunigung des Lesevorgangs erzwingen soll. Man soll die abgebildeten Psalmen oder Offenbarungstexte eben noch einmal ganz bewußt und wie zum ersten Mal zur Kenntnis nehmen, um besser zu begreifen, was dort steht. Also: Schrift nicht als Ornament, sondern als Träger einer Bildbotschaft.
Ganz unerläßlich zur Deutung des Bildes werden die inszenierten Verse von Uhland oder Rilke in den entsprechenden Drucken und Collagen. In dem Werk "Die Bilder flieh'n" nach dem Uhland-Gedicht "Ein Abend" wird durch die Umstellung und Verkürzung von Versen aus einer Klage um eine verstorbene Frau der Ausdruck der Angst vor dem Verlust der eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit. Im Grunde wird hier, in diesem Werk aus den Jahren 2001-05, das Trauma des Verlusts von Frau und Kind und der daraus folgenden Unmöglichkeit, künstlerisch zu arbeiten, im Prozeß der Veränderung des Uhlandgedichts ein letztes Mal aufgearbeitet. Und das ist natürlich nur durch Einbeziehung des Schriftsinnes zu ergründen. Schrift also in diesem Werk als wichtigster Bedeutungsträger.
In der Inszenierung von Fundstücken schließlich arbeitet Oeser ganz in der bildkünstlerischen Tradition. Oeser hat Dürer restauriert und wohl dadurch diesen besonderen Bezug zu dem Künstler, der uns in etlichen Bildzitaten in Oesers Werk begegnet. Ansonsten fällt immer wieder das Vanitas- oder Melancholie-Motiv ins Auge, etwa im verkohlten Holz, das einige Werkreihen dominiert. Hier müssen wir uns noch einmal vor Augen halten, daß der Tod von Frau und Kind nicht die erste desillusionierende Zerstörung von Lebensplänen des jungen Helmut Müller war. Im Bergwerk Mittelbau-Dora überlebte er wie Tausende von Einwohnern Nordhausens die Bombardierung seiner Heimatstadt, die Anfang April 1945 die Stadt in Schutt und Asche legte. Das Vaterhaus blieb zwar stehen, aber die Ausbildungsstätte Helmut Müllers beispielsweise wurde komplett ausgelöscht. Wie etliche seiner Altersgenossen mußte er in der Folge Jahre seines Lebens mit Aufräumarbeiten in der Stadt verbringen und darüber hinaus Fabriken für die russischen Reparationszahlungen demontieren. Eine Erfahrung von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, die einen das ganze Leben lang nicht mehr verläßt.
So ziehen sich die Symbole der Vergänglichkeit, der Eitelkeit, des vergeblichen Mühens und der ständigen Verwandlung und Metamorphose der Dinge wie ein roter Faden durch Oesers Werk. Muscheln als Ausdruck der Vergänglichkeit, aber auch der Pilgerschaft, Schneckenhäuser als Vanitasmotiv, verkohltes Holz oder sogar Spielzeug, verrottetes Werkzeug, alte Ziegel, vergilbte Fotografien, die vergangenes Leben festhalten und eben auf die Betonung des gelebten Lebens oder aber auf dessen prinzipielle Vergänglichkeit hin verwendbar sind sowie Geschriebenes, Geschriebenes und nochmal Geschriebenes sind die sich durch das Gesamtwerk ziehenden Gegenstände, die in thematisch unterschiedlicher Gewichtung immer wieder neu zueinander in Beziehung gesetzt werden.
Sie sehen, daß dabei auch die Materialdrucke inhaltlich hoch aufgeladen sind. Nehmen wir das Troja-Memento, das an das verkohlte Holz und zu den krummen, irgendwo herausgezogenen Nägeln eine Darstellung des Paris-Urteils zitiert und wie einen Denkzettel an das zerstörte Holz den Grund des trojanischen Krieges, den Raub der Helena, anheftet. Oder die phantastische Radierung "Das große Rasenstück bei Frankenhausen", das den letzten Blick eines im Bauernkrieg gefallenen Bauern zeigt. Als Waffe hatte er seine Sense, die nun stellvertretend für den Tod, dessen Symbol sie ist, dem Sterbenden als letztes vor Augen liegt. Das bildkünstlerische Motiv der Sense für den "Sensenmann" wird gleichsam auf seine reale Grundlage zurückgeführt.
Wichtig für Oeser ist, abschließend festgehalten, wie er mir 2003 brieflich mitteilte: "Das Arbeiten aus einer 'Idee' ist sehr untypisch für mich". Bilder werden nicht konstruiert, sondern sie wachsen unter den liebenden Augen des Künstlers, ihres Schöpfers, bis er ein Werk für fertig erklärt. Bis es gewissermaßen selbständig, allein lebensfähig ist und sich unter anderen Werken behaupten kann. Schließen möchte ich mit einem Beweis von Oesers Bescheidenheit, die während der Planung einer dann nicht durchgeführten Ausstellung zu seinem 70. Geburtstag 1999 zum Ausdruck kam. Am 4. Oktober 1998 schrieb er mir: "Was also zu meinem 1999er Jubeltage geschieht oder nicht geschieht, damit möchte ich mich in keiner Weise befassen." Und bereits am 1. Februar 1998 hatte er formuliert: "Ausstellen werde ich jedenfalls wohl nicht im nächsten Jahr. Es ist auch meine Ermüdung gegen solche Vorzeigungen, die Masse dieser Erscheinungen im ganzen gesehen, der Hang zum Spektakulären sowohl als auch die Überbewertung jedes dilettantischen Quarkes, die mich zurückhalten."
Wir danken der Stadt Nordhausen, daß sie nun, wo Oeser uns bei einer Ehrung seines Werkes nicht mehr in den Arm fallen kann, eine Ausstellung anläßlich seines 85. Geburtstages ermöglicht hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar