Philip Oeser (+ 3.1.2013). Worte zur künstlerischen Würdigung

Trauergottesdienst am 9. Januar 2013

Weimar, Kapelle auf dem Hauptfriedhof

Liebe Frau Müller-Krumbach, sehr geehrte Trauergäste,

ich lernte Philip Oeser 1996 kennen, als ich für die Erfurter Galerie Johannesstraße eine Ausstellung des D 206 im Mainzer Landtag zusammenstellte. Aus dieser Begegnung hat sich ein mehr oder weniger regelmäßiger Briefwechsel ergeben, denn schon Ende der 90er Jahre war Philip Oeser phasenweise immer wieder so krank, daß er nicht arbeiten und keine Atelierbesuche empfangen konnte. Beinahe 15 Jahre lang hat er seine Kunst - und wir reden hier von Arbeiten wie dem Apokalypse-Zyklus oder der Reihe von Prägedrucken - seiner Krankheit abgetrotzt. Er müsse fast ständig liegen, schrieb er mir am 4. Oktober 1998, und weiter: "Schlimm für mich ist, daß ich - wie es jetzt aussieht - wohl kaum jemals wieder einigermaßen unbehindert werde arbeiten können. Die Bilder in meinem Kopf werden nicht nach außen können." Die Bilder, die er sich in einer unermüdlichen Lektüre erarbeitete, wenn er gerade nicht arbeiten konnte.

"Die Bilder werden nicht nach außen können": Erkennen Sie das Motiv wieder, das über ein Jahrzehnt später im Rahmen seiner Arbeit an dem Uhland-Gedicht "Ein Abend" in der Kunst wieder auftaucht? "Die Bilder fliehn die Erde, da wußt ich nicht wohin", eine Arbeit, an der Oeser in den Jahren zwischen 2001 und 2005 immer wieder gefeilt hat, thematisiert eine ähnliche Angst des Künstlers, seine Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks zu verlieren.

Welche Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks hatte Philip Oeser? Für eine Würdigung seiner künstlerischen Tätigkeit scheint mir grundlegend, daß er durch die traumatischen Ereignisse um den Tod von Frau und Kind kurz vor dem Mauerbau von West-Berlin wieder nach Nordhausen zog und so eine künstlerische Laufbahn in der DDR zu gestalten - vielleicht muß man fast sagen: durchzustehen - hatte. Von Beginn an waren seine Arbeiten materialzentriert, d.h. er malte oder zeichnete beinahe nichts, sondern schuf Monotypien aus welkenden Rosen, geknüllten Blättern, verkohltem Holz, später immer wieder Schneckengehäuse, Textschnipsel. Text vor allem in allen Variationen: als handschriftlicher Tagebucheintrag, Poststempel, verschwimmend oder spiegelverkehrt, übermalt oder durch bewußte Lagerung auf dem feuchten Fensterbrett verrottet. Und darin immer wieder herauspräpariert einzelne lesbare Botschaften, die dann zur Deutung des Werkes herangezogen werden können.

"[D]as Arbeiten nach einer 'Idee' [ist] sehr untypisch für mich", teilte Oeser mir brieflich am 10. Februar 2003 mit. Als Ausgangspunkt seiner Arbeiten benennt er im folgenden "Fundstücke, Papiere, andere Dinge, oder: das Gefühl, einen neuen Ansatz zu brauchen. Hier etwa diese Abfolge: das Gefühl, weiter weg vom 'Virtuellen', das Material - das Papier, in jeder Form, vom feinsten Bütten bis zum 'Abfall' - wieder sprechen zu lassen. Prägung als Grundgedanke. [...] Dann: Gegensätze suchen (Spannungen). Fundstück­fragmente einbauen [...] Gliederung schaffen [...]. Der [Werk]Titel ist immer das letzte." (ebd.)

Einfach hatte Philip Oeser es in der DDR damit nicht, deshalb tarnte er sich eine ganze Weile als Restaurator. Im Westen, meine ich, wäre er mit seinen Collagen und Plasti­ken aus objets trouvés weniger aufgefallen, doch das Auffallen war hier in Thüringen und gerade nach der Wende natürlich auch seine Chance.

Die Spur der Vergänglichkeit, aber darin eben positiv auch das Gewesene, die Schich­ten der Geschichte, sichtbar zu machen, bilden m.E. das A und O von Oesers Kunst. Das A und O, den Anfang und das Ende. Aus der biblischen Offenbarung hat Philip Oeser diese Buchstaben der Selbstbezeichnung "dessen, der auf dem Thron sitzt" entnommen und führt sie in seinem eigenen Apokalypse-Zyklus wie ein musika­lisches Thema vielfältig durch. Nicht verwunderlich, denn es paßt wie kaum eine Chiffre für das Werk Oesers selbst. Alpha und Omega als Anfang und Ende des griechischen Alphabets sind ja Anfang und Ende einer Welt, die Text ist. Genau dies beschreibt die biblische Offenbarung, die wiederholt das Weltgeschehen als in Buch­rollen aufgeschriebenes, ja: vorgeschriebenes kennzeichnet. Und so übersetzt Oeser denn auch in ganz organischer Fortführung seines eigenen vorangehenden Werkes den Text der Offenbarung mithilfe ebendieses Textes selbst in die neuen Bilder.

Wichtig auch hier wieder Dürer, der nicht nur mit seinem Holzschnittzyklus zur Apo­kalypse, sondern auch mit seiner "Melancholie"-Darstellung, mit "Ritter, Tod und Teufel", mit "Adam und Eva" als Bildzitat in ganze Reihen von Oesers Blättern einge­gangen ist.

Vergleicht man aber Dürers Apokalypse mit der Oesers, so fällt ganz grundsätzlich auf, daß Oeser konsequent auf die Übernahme der Heilsvisionen der Offenbarung verzichtet. Keine Strahlenkranzmadonna, kein Himmlisches Jerusalem, kein: "Seht, ich mache alles neu!" Wie geht das? Untersucht man die Apokalypse als Textsorte, so zeigt sich, daß die Heilsbotschaften untrennbar von den Katastrophen­schilderungen sind. Apokalypsen sind Texte, die den Untergang der alten Welt als Voraussetzung der prophezeiten besseren Welt in Szene setzen. Bei Oeser geht alles in Flammen auf. Und in der Tat heißt es in seinem Exposé zur Apokalypse, daß der Bibeltext "in seiner Aktualität der geschilderten [...] Ereignisse die Arbeit am Zyklus nachhaltig gefördert, ja: gefordert" habe. Alles geschieht längst, wie es geschrieben steht - inklusive der ausbleibenden Umkehr von uns Überlebenden aller weltweiten Katastrophen.

Kein Trost also. Kein Heil. Keine Hoffnung. Oeser - der Pessimist, der Misanthrop, der Melancholiker? Nein, das ist es nicht. Nicht eigenes Leid, nicht eigene Schmerzen bringen ihn zur Fokussierung auf das gnadenlose Schicksal, sondern die Erfahrung der Wirkung des Bösen am Inbegriff der Unschuld - also der Tod des neu­geborenen Kindes und dessen Mutter, die sterben mußte, weil sie Leben weitergege­ben hatte, schlägt sich ein halbes Jahrhundert nach ihrem Durchleben noch einmal in Oesers Kunst nieder.

Seine Kunst ist phasenweise immer wieder davon bestimmt, die Geschichte aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, das Geschehene also gewissermaßen mit den Augen der Toten zu sehen. Gelebtes Leben, Tagebücher - durchaus auch eigene - stellen neben kulturellen Zeugnissen ein wichtiges Fundament der Texte dar, die im Werk Oesers immer wieder in vielfältigster Verfremdung auftauchen. Die Spiegelschrift, das hat er mir 2003 bestätigt, kann dabei, wenn der Kontext es zuläßt, als Blick der Toten gedeutet werden - der Spiegel als Zugang zum Jenseits, der Blick aus dem Spiegel als Blick der Toten, die so im Kunst­werk selbst noch einmal zugegen sind.

1998, das habe ich jetzt in Oesers Briefen an mich wiedergefunden, muß ich ihn gefragt haben, ob er nicht im Kulturstadtjahr 1999 seines 70. Geburtstages in einer besonderen Retrospektive gedenken wolle. Am 4. Oktober 1998 schrieb er mir darauf­hin: "Ich hatte zwischendurch daran gedacht, Auszüge aus meinen Tagebüchern (in­zwischen etwa 200) zu veröffentlichen, um ein bißchen Wirbel zu machen und etwas Zeitgeschichte vorzuzeigen. Aber auch dazu fehlt mir jetzt noch der nötige kontinuier­liche Wille [...] Was also zu meinem 1999er Jubeltag geschieht oder nicht geschieht, damit möchte ich mich in keiner Weise befassen." Und bereits am 1. Februar 1998 hatte er formuliert: "Ausstellen werde ich jedenfalls wohl nicht im nächsten Jahr. Es ist auch meine Ermüdung gegen solche Vorzeigungen, die Masse dieser Erscheinun­gen im ganzen gesehen ["Es ist ein so mit Ereignissen überfrachtetes Jahr"; ebd.], der Hang zum Spektakulären sowohl als auch die Überbewertung jedes dilettantischen Quarkes, die mich zurückhalten."

Meines Erachtens ganz typische Oeser-Sätze, die einen weiteren Aspekt der Wirk­­möglichkeit seiner Kunst aufzeigen: War doch die Möglichkeit seiner künstlerischen Wir­kung immer bestimmt durch seine große persönliche Bescheidenheit wie durch seinen unglaublichen Perfektionismus, seinen Qualitätsanspruch, der seine akribische, jedes Werk immer wieder reflektierende Arbeitsweise begründete. "Sie sehen: Alles ist mir unter den Händen, wie es zu gehen pflegt, kompliziert, vielschichtig, vielseitig deutbar geworden. Es ist auch immer das 'Unbewußte' im Spiel", heißt es brieflich am 10. Februar 2003.

Zum 70. kam keine Retrospektive zustande, und auch 2009, im Jahr seines 80. Ge­burtstages, zeigte die Galerie Profil neue Arbeiten. Auch wir werden nun also, wenn wir sein Lebenswerk sichten, es mit den Augen des Toten zu sehen versuchen müssen.

"Unser Arzt tut sein Möglichstes, die - oft fast unerträglichen - Schmerzen (aber der Mensch kann viel aushalten, solange er nicht allein ist) durch schon mehrfach erhöhte Opioid-Dosen zu lindern. [...] Meine liebe Frau hilft, so gut sie kann", schrieb Oeser mir am 2. August 2010. Wir wissen, daß er auch jetzt nicht allein ist, sondern in der Erlösung von seinen Schmerzen nun leibhaftig das Himmlische Jerusalem schaut, das er uns als Künstler nicht zu zeigen vermochte.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar