Out fo the Box. Kunstankäufe des Landes Thüringen 2024
Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Thüringer Landtag, Erfurt, 18. November 2025, 17 Uhr
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Künstlerinnen und Künstler, sehr geehrte Gäste,
Werke von 46 Künstlerinnen und Künstlern sind ab heute im Landtag zu sehen. Aus so vielen unterschiedlichen Handschriften eine harmonische Schau zu gestalten, war das eine. Darüber eine Laudatio zu konzipieren, das andere. Ich habe mich wochenlang mit dem Gedanken getragen, wie meine heutige Rede aussehen könnte, da sich mein übliches Vorgehen verbietet, eine Person und ihr Schaffen genauer vorzustellen und ein oder zwei Werke erschöpfend zu interpretieren. Der Gedanke lag nahe, über die Thüringer Kunst als solche zu sprechen. Der Plan scheiterte an der Tatsache, daß es "Thüringer Kunst" nicht gibt. Historisch unter anderem einfach deshalb, weil es ja Thüringen viel zu lange nicht gab, sondern einen Schwung selbstbewußter kleiner Fürsten- und Herzogtümer, mit deren Herrschaft sich die Einwohner denn auch identifizierten. So gab es seit 1860 die Großherzoglich-Sächsische Kunstschule Weimar, kurz Weimarer Malerschule genannt, die für die Entwicklung der impressionistischen Landschaftsmalerei von großer Bedeutung war und mit Namen wie Liebermann und Böcklin, von Lenbach und von Kalckreuth verbunden ist. Sie trug letztlich dazu bei, daß Walter Gropius 1919 - da gab es Thüringen dann ja schon bald - das Bauhaus in Weimar gründete. Doch niemand würde all dies als Thüringer Kunst bezeichnen. Viel zu überregional und international waren Studierende und Lehrende, viel zu international wurden die Ideen des Bauhauses weitergetragen. Kunst ist ein internationales Phänomen, seit die Schnurkeramik den europäischen Kontinent eroberte, und das verstärkt sich derzeit noch immer mehr.
Und so gibt es denn Kunst in Thüringen, aus Thüringen und für Thüringen, nach diesen Kriterien muß die Jury für den Ankauf neuer Werke für die Sammlung des Freistaats auswählen - und ich möchte eben doch alle hier zu sehenden Exponate und ihre Schöpferinnen und Schöpfer wenigstens erwähnen und ganz grob einordnen, bevor wir im Anschluß zu einer ausführlicheren Führung durch die Ausstellung aufbrechen. Dann haben Sie einfach schon einmal ein paar Ideen, wonach Sie in der Ausstellung suchen möchten.
Die Gäste zuerst: Kunst für Thüringen hat der Sammlung des Freistaats die Serie "Aschebücher" von Hannes Möller beschert, aus der wir ein Exemplar zeigen. Es sind keine überarbeiteten Fotografien, sondern in einer Gouache-Aquarelltechnik geschaffen, die Asche der beim Brand der Anna Amalia Bibliothek 2004 am stärksten beschädigten Bücher enthält.
Bei Kunst aus Thüringen fällt einem der Steinbildhauer Stefan Böhm ein, der unterschiedlichstes Gestein, meist aus Thüringen, so bearbeitet, daß Schönheit und Charakter des Steins optimal zur Geltung kommen. Oben sehen wir einen Schiefer aus Lehesten. Da ist Timm Kregel, der als Gabe der Landschaft filigrane Gebilde aus ebenfalls meist heimischen Baumstämmen heraussägt. Da ist Peter Zaumseil, der eine aus seinen Holzschnitten stammende Formensprache der reduzierten Figürlichkeit in die Acrylmalerei überträgt und in wahrhaft leuchtenden Farben Landschaftsbilder seiner Heimat schafft. Mit der Thüringer Urelle fingiert Ludwig Laser ein kulturelles Crossover, da er uns eine heimische Maßeinheit in einer japanischen Töpfer-Technik vorstellt, nämlich dem keramischen Rakubrand. Heimat, Erinnerungsschichten, Verdrängung und Familiengedächtnis stehen auch immer im Hintergrund der übermalenden Arbeiten von Erik Buchholz.
Die Holzskulptur von Annekatrin Lemke, die Lichtinstallation von Cornelia Erdmann, das Weiße Quadrat von Susanne Worschech, der Rote Strich von Johannes Gräbner, die Papier-Objekte aus zerschnittenem Ausstellungsplakat von Volker Regel, die messingbeschlagene Stahlskulptur von Thomas Lindner, ja sogar die Gobelins der Textilkünstlerin Christiane Schill gehören der Bandbreite einer weiterentwickelten Konkreten Kunst an. Von Fall zu Fall entstanden aus - ich zitiere jetzt die genannten Künstlerinnen und Künstler - einem Interesse an den "Beziehungen zwischen Farbe, Form, Struktur und Licht", einer Rauminstallation zu "Linien, Licht und Konvergenzknoten", einer Werkreihe zu den Inneren Kräften - "Inner Forces" - dem Arbeiten "mit, nicht gegen den Zufall" und der Suche nach einem Gegengewicht zu figürlichen Wandteppichen, vereint diese Werke eine Zurücknahme des individuellen künstlerischen Gestaltungswillens hinter die Inszenierung von Linien und geometrischen Formen, von Licht und Farbe und speist sich bei Worschech und Gräbner auch durch ein Vertrauen auf die Kraft des künstlerischen Materials und eine Balance von Chaos und Ordnung. Letzteres bildet sogar eine Brücke zu den Zeichnungen Sophie von Hayeks, die die Ordnung ihrer akkuraten Lineal-Schraffuren gezielt aleatorisch stört.
Entsteht bei einem ersten raschen Blick in die Ausstellung der Eindruck, unpolitische figürliche oder ungegenständliche Kunst dominiere, so täuscht das, wie die nähere Auseinandersetzung zeigt. Tatsächlich hat fast die Hälfte der hier gezeigten Werke ihren Antrieb aus der Sorge um unser gesellschaftliches Miteinander. Schon bei Susanna Hanna ist die Frage, ob der auf das Abbild eines Vulkanausbruchs genähte Ausschlag eines Seismographen tatsächlich nur die Kraft der Natur vor Augen führt - oder ob sie auch vor der Gefährdung des Menschen warnt, der diese Kräfte der Natur nicht hinreichend achtet. Ihren Linolstempeldruck "Übertier" - eine Anspielung auf "Übermensch" - schuf Sibylle Reichel als "Appell an die Politik zu Demut vor dem, was viel größer ist, als unsere nur menschliche Welt." Bewußt gesellschaftspolitische Einmischung trieb Ekkehard Franz zu seinem Ölgemälde "Wachsen und Bauen" an. Die kräftige Farbigkeit - oder sollte man sagen: das aggressive Rot - des fensterlosen Baus, den die winzigen Staffagefiguren sich gleich einer Trutzburg errichtet haben, verdrängt die mild verblauende Natur. Unser Streben nach höherem Lebensstandard, will Franz sagen, setzt die falschen Prioritäten. In vollends dystopischer Anmutung und schwarz-weiß-Optik inszenieren die Videos von Annegret Haas die Technik der modernen Fortbewegung: "Urban speed". Und auch Nina Lundström thematisiert in ihrer Videoschleife "Tikkum Olam" unser Angewiesensein auf die Natur. Daß jede und jeder hier selber aktiv werden muß, symbolisiert sie in ihrer Verbindung mit einer einzigen Birke, an deren Bewegung sie den eigenen Körper koppelt. Rainer Jacob macht mit seiner Skulptur "vom Winde verweht" denn auch auf die Intelligenz der Tiere aufmerksam. Die Buchseiten seiner Holzskulptur bilden die Fraßspuren des tatsächlich "Buchdrucker" genannten Borkenkäfers ab, deren Verlauf auf die Intelligenz der Tiere schließen läßt. Durch ihre Übermalung von Landkarten schärft Bettina Schünemann uns ein, daß der Blick auf eine Landkarte die persönliche Erfahrung eines Landes nicht ersetzt. Ihr Werk "Maury" ist Teil der Serie "Map-Trap", die die gezielte Manipulierbarkeit von Kartenmaterial im militärischen Kontext thematisiert. Indem Schünemann die Karten übermalt, wird die Manipulation sichtbar und die Künstliche Intelligenz mit ihren eigenen Waffen geschlagen.
Frappierend deutlich wird die Bildhauerin Eva Skupin, die in der heutigen Ausstellung mit Radierungen überrascht. Unter Rückgriff auf die christliche Ikonographie und biblische Erzählungen unterfüttert sie u.a. die Darstellung der brutalen Auflösung einer Demonstration mit eindeutigem Sinngehalt. Der da verhaftet wird, erscheint als Bildzitat aus Michelangelos Erschaffung Adams - dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle. Der da verhaftet wird, heißt das, ist nicht nur der prototypische Mensch, sondern er ist unschuldig. Das bringt die Erzählung, der die Figur entnommen ist, mit sich.
Und es hat auch nichts von Innerlichkeit, wenn Rainer Marofke zu seiner Zeichnung eines mächtigen Baumes ein Eichendorff-Gedicht zitiert, das in das mindestens 500 Jahre alte Sprachbild einer immer auch politisch zu verstehenden Morgenröte mündet.
Explizit auch die Graphiken von Martin Max, denen Max erläuternd noch eigene Gedichte beigegeben hat. Wer Frank Naumann kennt, weiß, daß seine Ratte, die sich aus dem Staub macht - "Ab durch die Mitte" - ebenfalls Gesellschaftskritik formuliert - ebenso wie explizit das verzerrte Gesicht auf dem Typenportrait von Horst Sakulowski, ebenso wie Walter Sachs' "...auslöffeln!" und ebenso wie die einmaligen karikaturesken Figuren von Kay Voigtmann, beide Letztgenannten im Graphikkalender 2025 vertreten. Sven Schmidt ehrt mit seinen Energetischen Typen (hier: "Springer") Mut und Durchhaltevermögen der vielen Alltagshelden, von denen immer wie selbstverständlich erwartet wird, daß sie unsere Gesellschaft am Laufen halten.
Gewissermaßen automatisch politisch ist der Entwurf von Frauenleben in der "Katzenfrau" Tanja Pohls oder den "Lebenswegen" Gisela Eichardts. Von Eichardt sehen Sie die Seherin - eine Gestalt aus einer Zeit, die gesellschaftlich und religiös völlig anders strukturiert war und gänzlich andere Prioritäten setzte. Hierher gehört auch die Büste "Zwei Vögel" von Marion Walther, dem Werk einer ganzen Serie, die typisierten Frauenköpfen immer wieder andere Attribute beigibt, um sie als Wächterinnen der Menschheit auszuweisen. Hier ist es ein übergroßes Samenkorn, das für die Weitergabe des Lebens steht.
Heike Stephan hat in "Seide - Wind - Mensch" Fotografien aus dem Jahr 1983 nach 40 Jahren in die heutige Form gebracht. Heike Stephan, regimekritische Aktionskünstlerin der DDR, hatte sich 1983 bei Stotternheim aufs freie Feld in den Wind gestellt, eingehüllt in 100 qm Seide. Die Vogelgestalt, die die Stoffbahnen ihrem Körper verleihen, lassen die Assoziationen "frei wie ein Vogel", aber auch "vogelfrei" zu. Stefan Leyh thematisiert unter dem Titel "Boyz'n the wood" seine Kindheit auf dem Dorf. Im Zentrum inszeniert das Werk die Magie eines dunklen Waldes, in den hinein uns ein Lichtstrahl locken möchte. Den Vordergrund der Zeichnung aber bilden Stapel geschlagener Bäume. Die Magie der Natur tritt im Wortsinne hinter ihrer Nutzung in den Hintergrund.
Indem Susanna Hannas Serie "passer" das Vorbeigleiten von Landschaften im Fahren visualisiert, schlägt sie den Bogen zu einem der letzten Werke des 2023 verstorbenen Gerd Mackensen. Dessen "Fahrtenbuch" präsentieren wir im Eingangsbereich in der Vitrine ebenso wie Peter Schnürpels Bewegungsstudien "Nachtstücke". Druckgraphiken von Sylvester Mackensen - Steilküsten, also ebenfalls Naturszenarien - sind wiederum Bestandteil des Graphikkalenders.
Damit kommen wir wieder zu wohl tatsächlich unpolitischer Kunst, die auch im Bereich der Landschaftsdarstellung und auch in unserer Ausstellung zu sehen ist. So schuf uns Gerda Lepke, die Grande Dame unserer Ausstellung (Jahrgang 39) - schon 1999 einen "Wiesenausschnitt". Natur, Architektur, Straßenszenen und Musiker malt Michael Lenhardt. Architekturdarstellung, und zwar die Schaffung einer Raumillusion in der perspektivischen Darstellung romanischer Kirchenräume sind ein Arbeitsfeld von Elvira Franz, die dadurch die Meisterschaft der mittelalterlichen Baukunst in den Fokus rückt. Ihre Malerei der seriellen Farbverläufe setzt sie in ihrem "Portal im Licht" in einen romanischen Torbogen, um die Lichtbrechung in bunten Glasfenstern nachzuempfinden. Eine veritable Farbexplosion in Rot und Blau hat hingegen Roger Bonnard auf die Leinwand gebannt.
Horst Gröschel ist niederländischen Meistern auf der Spur und präsentiert sich uns als Harlekin in echtem "Rembrandt-Licht". Eine bewußte Anleihe in der Kunstgeschichte macht auch Enrico Freitag, der in seiner Serie der Selbstbildnisse Egon Schieles Ausdruck nachempfindet. Das gelungene Stilzitat zeigt den Künstler in nachdenklicher Pose und macht die Selbstzweifel der abgebildeten Figur in der ausgezehrten Körperlichkeit der Schieleschen Gestalten greifbar.
Noch einmal fotografische Arbeiten schließlich zeigen Gudrun Wiesmann und Marcel Krummrich. Krummrich arrangiert kunstvolle Stilleben, die er in einer Art hyperrealistischen Fotografie 'wirklicher als die Wirklichkeit' erscheinen läßt. Wiesmann, die von der Architektur her kommt, zeigt uns hier die Ansicht der Galerie des Verbandes Bildender Künstler auf der Krämerbrücke. Die beschlagenen Scheiben an einem kalten Winterabend verwandeln die Besucher einer Vernissage in Schemen. Wassertropfen und Farben verschwimmen zu äußerst reizvollen abstrakten Bildern.
Blüten der besonderen Art stellt Philipp Valenta in feinmotorischer Höchstleistung her. Es sind tatsächlich Blüten - aber mit Skalpell geschnitten aus internationalen Banknoten. Kunstvolle Arbeiten, die uns dennoch verstohlen zuzwinkern. Ebenso humorvoll sind die - ja - Zettel mit der Aufschrift "I helped an Artist". Käuflich zu erwerben, tut dieses Werk, was es verheißt - ein echt performativer Akt, den wir zum Motto unserer Ausstellung gemacht haben. Auch die Out of the Box hilft den Kunstschaffenden in, aus und für Thüringen.
Wir befinden uns im Thüringer Landtag, dem Ort des Souveräns, des Wahlvolkes. Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, Sie haben durch Ihre Haushaltsentscheidungen den Weg frei gemacht zum Ankauf all dieser Werke, deren Schau das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur ab heute ausrichtet. Beinahe die Hälfte aller Werke sind mehr oder weniger versteckte politische Stellungnahmen. Nicht einmal Naturdarstellungen spiegeln noch zuverlässig Innerlichkeit. Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, öffnen Sie die Augen, öffnen Sie Ihr Herz. "Der Maler ist das Auge der Gesellschaft", wie Horst Gröschel sagt. Kunstschaffende sind sensible Seismographen dessen, was ihre Mitmenschen erschüttert. Sie, sehr geehrte Abgeordnete, haben ein Mandat - von lateinisch mandare, anvertrauen. Wir alle haben Ihnen Stimme und Geld anvertraut. Nutzen Sie Ihr Mandat, um diese Stimmen zu vertreten.
Ich lade Sie zur Führung durch die Ausstellung ein, bei der Sie einen tieferen Einblick in die Intention der Werke erhalten werden. Ich danke Ihnen schon jetzt für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar




