„Mechthild Oehler – Zeichnung und Installation“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunsthaus Erfurt, 14. April 2000, 20.30 Uhr

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

muß man Mechthild Oehler hier im Hause überhaupt noch vorstellen? Wir alle spiegeln uns doch in ihrer Kunst, sooft wir in die Galerie heraufkommen: Die an Daniel Burens Gestaltung des Weimarer Neuen Museums angelehnte Spiegelstreifenwand an der Stirnseite des Treppenaufgangs stammt von Mechthild Oehler.

Die Galerie im Kunsthaus Erfurt hat Mechthild Oehler kurz nach der Wende mitentdeckt, noch bevor sie sich selbst als freischaffend tätige Künstlerin bezeichnet. Die 90er Jahre hindurch ist Oehler besonders hier im Kunsthaus und zu den auswärtigen Kunsthausprojekten in Bonn und Berlin präsent. (Erinnert sei an die Mitgestaltung zweier Kunsthaus-Kataloge in den vergangenen Jahren). Doch auch andere Erfurter Projekte wie die zweite 5-Raum-Wohnung im Kulturhof Krönbacken oder die Ausstellungsreihe „Zusammen“ in den Erfurter Kirchen haben Mechthild Oehler rasch zu einer anerkannten Größe der Thüringer Kunstszene werden lassen. Als internationale Referenz kann sie auf die Beteiligung am Symposium Györ 1993 verweisen.

Einen Spiegel hält sie jedem vor, der in die Galerie heraufkommt. Um Spiegelbilder und Klieschees geht es auch in der Bilderwand der heute eröffneten Ausstellung. Das Hauptwerk in der oberen Etage konfrontiert uns mit einer eigentümlich angeordneten Reihe fiktiver Portraits. Wir unterscheiden Stereotypen unterschiedlichster Kulturen und Subkulturen, verschiedener Völker und Zeiten: Da blickt uns die Chinesin an neben der Frau in einer traditionellen afrikanischen Tracht, das mittelalterliche Burgfräulein neben der aufgedunsenen mondänen Matrone der Golden Twenties. In der brav gelegten Dauerwelle zweier Portraits finden wir ein typisches Kennzeichen der 50er und 60er Jahre wiedergegeben. Einige maskenhafte Gesichter, nur durch die Parallelität zu den Portraits überhaupt auch als solche erkennbar, erinnern an Figuren Außerirdischer, wie die Filmindustrie sie uns seit einiger Zeit nahe bringt.

Die Grundidee zu der Portraitreihe in dieser Anordnung – der geschlossenen Bilderwand mit den drei Durchgängen – liegt in der Ikonostase der griechisch-orthodoxen Kirchen. In diesen Kirchen finden wir eben solche Bilderwände, genannt Ikonostasen, die in genau festgelegter Anordnung ganz oben ein Bild Gottvaters, dann Bilder von Mariä Verkündigung, von Christus, den Evangelisten und bestimmten ortstypischen Heiligen zeigen. Die Gemeinde hält sich während des gesamten Gottesdienstes diesseits dieser Ikonostase in der Anbetung der Bilder auf. Die Durchgänge sind mit Türen verschlossen, deren Bilder besonders konkret das Heilsgeschehen darstellen: Die zentrale Tür, die geöffnet den Blick auf den Altar freigibt, zeigt den Kreuzestod Christi.

Der Kirchenraum vor der Bilderwand repräsentiert so das irdische Dasein, während der abgetrennte, vor Blicken geschützte Raum das jenseitige Leben im Himmlischen Jerusalem symbolisiert. Hier hält sich der Priester auf, während er den Gottesdienst zelebriert und Brot und Wein weiht. Mehrmals während des Gottesdienstes öffnen sich die drei Durchgänge und der Priester begibt sich in den Raum der Gemeinde. Die Durchlässigkeit beider Welten von Diesseits und Jenseits wird so im Laufe des Gottesdienstes hergestellt.

Es gab in der Geschichte immer wieder „Bilderstürmer“, Ikonoklasten, die gegen die Heiligendarstellungen und ihre Anbetung Front gemacht haben. (Zuerst bereits um 700 n. Chr., dann berühmt zur Zeit der Reformation durch diverse protestantische Richtungen.) Grund ist das Bilderverbot der Bibel: Du sollst dir kein Bild machen.

Was ist nun in Mechthild Oehlers Bilderwand von der Grundidee der Ikonostase geblieben? In ihrer Portraitreihe arbeitet sie typische Merkmale von Menschen unterschiedlichen Herkommens aus oder definiert – wie im Falle der „Außerirdischen“ – durch die Parallelität der Anordnung neue, uns unbekannte Merkmale als typisch. Sie zeigt die Bilder, die wir uns eigentlich nicht machen sollen, die aber unsere blick- und bildbetonte Kultur durchziehen und uns als Leitbilder aus Film oder stilisierter Realität vorschweben. In der Konfrontation des Betrachters – der Betrachterin: es sind ja alles Frauen – mit diesen Stereotypen hält die Portraitwand uns einen Spiegel vor: Wo sehen wir uns, worin erkennen wir uns wieder? Was spricht uns als Bekanntes an, was stößt uns ab, vielleicht nur, weil es uns unbekannt ist („die Außerirdischen“ zum Beispiel)? Haben wir fertige Schubladen, in die wir die Gesichter stecken und weitergehen, oder sind wir in der Lage, durch die Kostümierung von Schmuck, Kleidung und Frisuren, durch die Maskierung im verschlossenen Blick und im verschlossenen Mund hindurch einen Menschen zu erwarten? Wie detailliert sind wir überhaupt in der Lage, die Klischees zuzuordnen? Häufig müssen wir es bei so undifferenzierten Zuordnungen wie „Fernost“ oder „hm – Afrika“ belassen, um dann dennoch den Eindruck zu haben, wir hätten eine Vorstellung von der Kultur und Lebensweise, die sich mit dem jeweiligen Äußeren verbindet.

Drehen wir uns um. Der Rest des Raumes ist durch ein Baukastensystem gestaltet: Die auf der Bilderwand jeweils voll ausformulierten Frauenportraits blicken auf die markanten Umrisse männlicher Charakterköpfe. Doch alle drei Köpfe sind sprichwörtliche „unbeschriebene Blätter“, leere Formulare. Den fehlenden Rest finden wir an der Wand rechts. Das Sortiment an Augen, Nasen und Mündern, das hier aufgereiht ist, mutet wie ein Bogen aus Lavaters klassischer Sammlung der „Physiognomien“ an und lädt dazu ein, die leeren Portrait-Formulare zu Traummännern zu ergänzen. Die Stereotype, mit denen uns die Bilderwand konfrontiert, werden wir hier selber reproduzieren, wenn wir im Geiste die Gesichter vervollständigen.

Soweit zum oberen Raum. In der unteren Etage erwartet Sie das Kunstwerk „Schicksal verbindet“ in Gestalt einer riesenhaften Spinne, zwölf Lilien und einer Schale. Das Werk entstand für eine Ausstellung des Kunsthauses im Frauenmuseum Bonn zum Thema Schicksalsgöttinnen: „Die zwölfte Fee“. Daß die Konzeption nach der 12. der Dornröschen-Feen benannt ist, nicht nach der 13., macht die Intention der damaligen Ausstellung deutlich: Es sollten die positiven Konnotationen des Wortes „Schicksal“ in den Vordergrund treten können. Die 12. Fee ist Dornröschens „Schicksal“, indem sie in das Schicksal eingreift und es zum Besseren wendet: Schlaf statt Tod. In diesem Sinne ist die Schale zu verstehen, die unten bei der Spinne steht: Es ist eine Opferschale, durch deren Darbringung das Schicksal positiv beeinflusst werden soll.

Dornröschen trifft eine Spinnerin, an deren Spinnrocken sie sich sticht und in Schlaf fällt. Die Nornen und Parzen, Schicksalsgöttinnen der germanischen bzw. griechischen Mythologie sind Spinnerinnen, die das Schicksal des Menschgeschlechts als Gewebe arbeiten, das Netz halten oder einen Faden durchtrennen. So ist die Spinne, das Netzespinnen mit dem Schicksalsgedanken in der abendländischen Kultur schon lange verwoben und Mechthild Oehler hat eine Riesenspinne als Verkörperung des Schicksalsgedankens gebaut.

Es gibt noch ein interessantes Detail an der Spinne, nämlich ihren Glaskörper. Das Glas spiegelt die Umgebung der Spinne wider, als wollte sie das Schicksal jedes Betrachters auf sein eigenes Verhalten zurückwerfen.

Durch Filme wie „Tarantula“ ist die ekelerregende Riesenspinne zum Inbegriff des Bedrohlichen geworden. Daß solche negativen Konnotationen der Spinne mit den positiven kollidieren, versuchen die zwölf Blumen – weiße Lilien - abzufangen. Weiß als die Farbe der Reinheit und Unschuld verbindet sich hier mit der Lilie, die seit dem Hohenlied der Bibel eng mit dem Gedanken der Freundschaft und Liebe verbunden ist. Die emblematische Tradition des Barock hat die weiße Lilie zum Bild der reinen Liebe der Gottesmutter Maria gemacht.

Wie der Fluch der 13. Fee über Dornröschen durch das Eingreifen der 12. Fee relativiert wird, so relativieren die zwölf weißen Lilien die zwielichtige Gestalt der Spinne: Wirft uns der spiegelnde Glaskörper der Spinne beim Grübeln über unser Schicksal auf uns selbst als zurück – „jeder ist seines Glückes Schmied“ -, so verweisen die weißen Lilien auf die Reinheit göttlicher Liebe, die jederzeit erlösend in unser Schicksal eingreifen kann.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

Cornelie Becker-Lamers