„Otto Niemeyer-Holstein. Werke aus 60 Jahren“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Foto: Ingeborg Finkbein

Galerie Finkbein Gotha, 29. November 1998

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Vernissage, die Sie heute erleben, eröffnet eine Ausstellung, die mit Fug und Recht ein „kulturelles Ereignis“ genannt werden darf.

Denn ein ganzes Jahr lang hat Herr Finkbein an ihrer Realisierung gearbeitet, über Umwege die Nachlaßverwaltung kontaktiert und verhandelt, bis vor wenigen Wochen die ersehnte Zusage der zuständigen Stellen hier in Gotha eintraf. Erst vor kurzem war wirklich klar, daß eine Ausstellung aus den wenigen heute noch zum Verkauf stehenden Werken Otto Niemeyer-Holsteins in der Galerie Finkbein stattfinden kann.

Das Œevre Otto Niemeyer-Holsteins ist beinahe vollständig im Besitz verschiedener Museen. Über die größten zusammenhängenden Bestände verfügen dabei ein Sohn des Künstlers sowie das Gedenkatelier in Lüttenort bei Koserow auf Usedom, einem Grundstück, das Niemeyer-Holstein seit 1933 besaß und seit 1939 auf dem Rückzug vor dem nationalsozialistisch dominierten offiziellen Kunstbetrieb als Erstwohnsitz bewohnte. Ein großer Teil des Werkes aber liegt nach einer Schenkung durch den Künstler auch bei der Kunsthalle Rostock, die seit 1983 etwa 100 Gemälde und Aquarelle sowie fast das gesamte graphische Werk Niemeyer-Holsteins besitzt.

Zum Verkauf stehen nur noch sehr wenige Arbeiten des im hohen Alter von 88 Jahren verstorbenen Niemeyer-Holstein, so daß keine Galerie in Deutschland ihn als Künstler vertreten darf. Die Initiative Wolfgang Finkbeins hat für Thüringen eine Werkschau möglich gemacht, die es in ganz Deutschland wahrscheinlich so schnell nicht wieder geben wird. – Wer also etwas kaufen möchte, kann dies bis zum 15. Januar hier tun, dann wohl erst einmal wieder nicht, denn alle Arbeiten müssen nach Ende der Ausstellung zurück in den Nachlaß.

Es wurde Otto Niemeyer nicht in die Wiege gelegt, daß er Maler werden sollte. 1896 in Kiel in den Haushalt eines Juraprofessors hineingeboren, schien eine akademische Karriere vorgezeichnet, die mit der Einschreibung in die naturwissenschaftliche Fakultät der Kieler Universität 1914 hätte beginnen können – hätte sich Otto Niemeyer nicht, wie so viele seiner Alters- und Leidensgenossen, noch vor dem Abitur freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Mit der Realität dieses Krieges konfrontiert, erleidet Otto Niemeyer im Trommelfeuer der polnischen Front nahe Warschau einen solchen psychischen Schock, daß er als 50% Kriegsversehrter 1915 aus dem Militärdienst entlassen und in verschiedenen Kliniken behandelt wird. Das Rote Kreuz vermittelt ihm 1916 den Aufenthalt im Tessin, der bald zu den Freundschaften mit dem Maler Otto Wyler und dem Schriftsteller Werner von der Schulenburg führt.

Wyler leitet Otto Niemeyer in der Malerei an, bevor die Bekanntschaft mit Alexej von Jawlensky 1918 den künstlerischen Schaffenstrieb in Otto Niemeyer weiter beflügelt. 1919, 23jährig, tritt Niemeyer der Malschule Arthur Segals in Ascona am Lago Maggiore bei und darf sich an einer ersten Ausstellung in Zürich beteiligen. Auf Anraten seines Freundes Werner von der Schulenburg holt Otto Niemeyer seine Heimat in seinem Namen ein und nennt sich Niemeyer-Holstein. Wo er Werke signiert, tut er dies von nun an meist mit den Initialen NH oder ONH.

Studien bei Kurt Witte an der Kunstakademie Kassel und erneut bei Arthur Segal, nun in Berlin, sowie zahlreiche Bildungsreisen auch noch aus der DDR heraus schließen sich an. So besucht Niemeyer-Holstein nicht nur die Bauhaus-Woche in Weimar, anläßlich derer er Paul Klee kennenlernt, sondern Paris und Florenz, Jugoslawien und Italien, wiederholt Skandinavien, Bulgarien, die CSSR und die Sowjetunion, Chile und – als Abschluß einer langen Seereise durch den Suezkanal und das indische Meer – sogar China.

Die Früchte dieser Erfahrungen sind in den verschiedenartigsten Landschaftsbildern dokumentiert, aber leider – in den Museen. Zwei Aquarelle aus dem Jahr 1924 allerdings sind hier zu sehen, Ascona und Tessin. Diese Bilder dokumentieren die erste künstlerische Heimat Niemeyer-Holsteins – und zwar „künstlerische Heimat“ im doppelten Sinne: Sie zeigen die Landschaft und die Stadt, in der Niemeyer-Holstein zur Kunst fand, und sie zeigen eine Handhabung des künstlerischen Materials, die verdeutlicht, warum man das Frühwerk Niemeyer-Holsteins in die Tradition des Fauvismus stellt: Die Farbe dient nicht mehr dazu, einen Bildraum von einem Fluchtpunkt her, auf einen Fluchtpunkt hin perspektivisch zu organisieren, sondern sie dient der rhythmischen Strukturierung der Fläche des Bildes.

Das Gesamtwerk Otto Niemeyer-Holsteins umfaßt Stilleben und Stadtansichten, Portraits und viele weibliche Akte, Reisebilder und – vor allem – immer wieder seine Heimat: das Meer. Den Meerdarstellungen kommt das Bild Düne hier am nächsten. Stilistisch tritt das Problem der Faktur, der haptisch-visuellen Struktur der Farbe, immer wieder als zentrales Anliegen des Künstlers in den Vordergrund seiner Malerei: Nicht nur das nachträgliche Auskratzen scharfer Konturen nutzt Niemeyer-Holstein, um der Binnenstrukturierung von Bildern neuartige Nuancierungen zu verleihen. Bis in seine späten Arbeiten hinein greift Otto Niemeyer-Hostein immer wieder auf eine Malweise zurück, die der Farbfläche einen Eigenwert diesseits der perspektivischen Erzeugung des illusionistischen Bildraums zugesteht. Im heftig-impulsiven Farbauftrag seiner Meeresbilder von 1960 – Beispiel Düne – spielen Licht und Farbe immer noch dieselbe Hauptrolle, die Niemeyer-Holstein ihnen bereits in seinen großflächig ausgeführten Stadtansichten und Intérieurs der frühen 30er Jahre zuerkannte. In der ständigen Bemühung um eine nuancenreiche, stimmungsvolle Wiedergabe von Lichteffekten, ja im V ersuch der Darstellung des Lichtes selber (Casa Beata!), der immer wieder die Arbeiten Niemeyer-Holsteins durchzieht, könnte der Einfluß des Lehrers Arthur Segal im Werk Niemeyer-Holsteins sichtbar geblieben sein.

Die Frauenportraits die wir hier sehen und für die der Künstler auch in den 70er Jahren zum Teil noch auf Techniken des Pointillismus zurückgreift, fangen atmosphärische Stimmungen in den duftigen, ausfransenden Tupfen einer formauflösenden Farbgebung ein.

Auffällig im Werk Niemeyer-Holsteins, insbesondere in der für diese Ausstellung hier getroffenen Auswahl aus dem Werk, ist die Reihe von Portraits und weiblichen Aktdarstellungen, die den gesamten Gesichtsraum scheinbar unausgeführt im Verschwommenen belassen. Auf die Gruppe dieser Arbeiten. möchte ich ein wenig näher eingehen. Formal verdeutlichen sie noch einmal, was ich gerade als Wesensmerkmal der künstlerischen Arbeit Niemeyer-Holsteins hervorgehoben habe, nämlich die Bedeutung, die er der Arbeit mit der Farbe und dem Farbauftrag verleiht: Farbe soll eher Stimmungen widerspiegeln als Formen wiedergeben. Vom ungestüm-pastosen bis zum sparsamsten Farbauftrag besitzt die Faktur, die Sprache des Farbauftrags einen eigenen Wert und macht über das konkrete Sujet hinaus eigene Aussagen. In der Faktur wird die Stimmung des Bildes deutlich. Identische Sujets werden dadurch differenziert. Die Sprache des Farbauftrags kann die inhaltliche Aussage des Bildes verstärken, sie kann aber auch gegenläufig sein und der primären Bildaussage widersprechen.

Dies alles betrifft die formale Seite u.a. der vielen Frauenportraits und Frauenakte, deren Gesichtszüge von Niemeyer-Holstein nicht ausformuliert worden sind.

Diese Gesichtslosigkeit hat jedoch auch eine andere Komponente, die man als inhaltliche Seite dieser Gemälde interpretieren kann: Die gesichtslosen Frauenakte könnten für ein gesichtsloses, gewissermaßen ‚phylogenetisches’, animalisches und naturhaftes Begehren stehen. Die in den Gesichtern ausformulierten Darstellungen würden demgegenüber ein individualisiertes, kulturell überformtes Begehren ausdrücken. Die gesellschaftliche Form dieses individualisierten Begehrens oder der Liebe ist die monogame Entscheidung für eine Person.

Die monogame Entscheidung soll angeblich nicht die stärkste Seite des Künstlers Niemeyer- Holstein gewesen sein. Neben den beiden Ehen, die er einging, hatte er angeblich auch die eine oder andere Geliebte unter seinen Aktmodellen. Man sollte aber eine Interpretation seiner Darstellungsweise nicht aus der Biographie herleiten, weil man sich dabei allzu leicht in Klischees vom typischen Bohémien verfängt.

Die Reflexion der kulturellen Produktion von Gefühlen – ich fühle nur das bewußt, was mir in meiner Kultur als Gefühl deutbar erscheint und verständlich werden kann – das kulturelle Hervorgebrachtsein von Gefühlen, von Gebräuchen, ja sogar der eigenen Selbsteinschätzung eines Menschen ist ein Thema, das die Philosophie, die Ethnologie und die Soziologie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchzieht. Gefühle, heißt es demnach heutzutage, sind ebenso kulturell überformt wie die Sitten und Gebräuche ‚zur äußerlichen Anwendung’. Anders sah man dies zu Beginn unseres Jahrhunderts, als Philosophie und Künste von Freuds Entdeckung des Unbewußten durchdrungen waren. Vom Unbewußten, also von innen her, sollten demzufolge die verdrängten Triebe das Bewußtsein des Menschen steuern. Eine berühmte Schrift Siegmund Freuds heißt Das Unbehagen in der Kultur. Sie stammt aus dem Jahr 1924 und Freud legt darin sein Verständnis eines Widerstreits von kulturell hervorgebrachter Sitte einerseits und individuell ureigenstem, triebhaft gesteuertem Gefühl andererseits thesenhaft dar.

So geht mein Blick auf das Werk Otto Niemeyer-Holsteins, was eine inhaltliche Interpretation seiner zahlreichen Frauendarstellungen betrifft, in eine ähnliche Richtung. In der unterschiedlichen Behandlung des Gesichts, das in jedem Fall fur. Individualität steht, kann Niemeyer-Holstein die unterschiedlichen Deutungsweisen unterschiedlicher, möglicherweise ambivalenter Gefühle zum anderen Geschlecht künstlerisch durchspielen. Formal bewältigt er dies wie gesagt durch die Variation der Farben und der Faktur.

Mit diesen Deutungsansätzen möchte ich Sie nun in die Ausstellung schicken. Ich wünsche Ihnen interessante Stunden und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers