„Thomas Nicolai – ‚Konstruktionen’“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunsthaus Erfurt, 24. Oktober 1997

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„La nature est un temple ou de vivants piliers / Laissent parfois sortir de confuses paroles;“ - „Die Natur ist ein Tempel, in dem lebendige Säulen von Zeit zu Zeit verwirrende Weisungen ausgeben“: Mit diesen Versen beginnt ein Gedicht – das Gedicht „Correspondances“ – aus der Sammlung Les Fleurs du Mal von Charles Baudelaires.

Dieses Gedicht steht auf der Schwelle der künstlerischen Strömungen von Romantik – die liegt hinter ihm – und Symbolismus – der liegt vor ihm – und beschreibt die Natur als Reflex göttlichen Lebens, beschreibt die synästhetische Wahrnehmung von einander korrespondierenden Farben, Gerüchen und Tönen als Weg, in die Realität göttlichen Lebens einzutauchen. Dem Künstler – für Baudelaire natürlich zunächst dem Dichter – fällt in der Welt die Aufgabe zu, den Menschen die Korrespondenzen von Natur und Überirdischem Sein vor Augen zu führen.

Ich finde, das Gedicht paßt sehr gut zu dem Anliegen, das Thomas Nicolais heute eröffnetes Gesamtkunstwerk ausstrahlt. Ganz explizit machen dieses Anliegen seine essayistisch-literarischen Texte in dem begleitenden Katalog deutlich: Der Seerosengenerator etwa hat die Aufgabe, auf die von den Menschen im Alltagstrott unbemerkten Intelligenzen nichtmenschlicher Lebensformen aufmerksam zu machen, uns zu verdeutlichen, daß „alle Welten als ineinandergreifende Teile im Kreislauf einer viel größeren Organisationsform aufgehen“. Die Rosenhofkapelle ist eine atmende Maschine, deren Inneres als „Herz“ und dieses wiederum als „magischer Menschen-Gewissens-Generator“ bezeichnet wird. Regenwasser wird über das Laubdach der isoliert von anderen Gebäuden zu errichtenden Rosenhofkapelle in zwei gegenüberliegende „Herzkammern“ geleitet. Diese Kammern sind innen asymmetrisch ausgekleidet, so daß sie sich bei ihrer Füllung durch Regenwasser wie zwei gleichsinnig aufgeladene und darum sich abstoßende elektrische Pole gegeneinander verdrehen und entladen, entleeren. Ein sich sonst für Menschen unbemerkbar vollziehender zyklischer Vorgang wird durch die atmende Maschine überdimensioniert sichtbar gemacht: Die Rückführung des Regens in die Erde.

Wie ein Mönchskloster, so sagt der Katalog, der die künstlerischen Intentionen Nicolais sprachlich ausformuliert, wie ein Mönchskloster soll die Rosenhofkapelle einzeln und einsam stehen, um dem zufällig auf sie stoßenden „Wanderer“ Raum für Kontemplation und Einsicht in die Zyklen des natürlichen Funktionierens zu schenken. Der Rosenhofkapelle liegt ein Missionsgedanke zugrunde, der im Kern dem Missionsgedanken gleicht, der auch die Spätromantiker und die symbolistischen Poeten umtrieb und der in Baudelaires eingangs zitiertem Gedicht zum Ausdruck kommt: Der Künstler ist es, der befähigt und berufen ist, den Menschen die Korrespondenzen von Natur und Überirdischem Sein vor Augen zu führen.

Aber – und das ist entscheidend, um Nicolais Kunst nicht als bloß romantische Kunst mißzuverstehen: Die Formulierung, der künstlerische Ausdruck dieses Missionsgedankens ist modern. Als Kind unserer Zeit macht Nicolai zeitgenössische und zeitgemäße Kunst.

Ich weiß nicht, wem ich Thomas Nicolai hier überhaupt noch vorstellen muß, aber der Vollständigkeit halber sei seine Biographie in Kürze umrissen: Ende Juni ‘64 in Erfurt geboren, macht er 1983 Abitur, dient bis 1985 in der Armee und schließt bis 1991 die Arbeit in verschiedenen Berufen an. Er sammelt Erfahrungen unter anderem in den Erfurter Museen, im Schauspielhaus Erfurt, in einer Elektronikfabrik und als Vater eines 1989 geborenen Sohnes. Anfang ‘92 verbringt er vier Monate in London und ist seit 1993 freischaffend als Künstler tätig. Was in der im Katalog abgedruckten tabellarischen Biographie für den 2. September 1993 als „Landung eines Engels auf den Erfurter Domstufen“ ausgewiesen ist, meint Nicolais Ausstellungsbeteiligung an einem Projekt der temporären Kunst im öffentlichen Raum, zu der der hier im unteren Raum ausgestellte „Engel“ von einem Hubschrauber auf dem Plateau zwischen den beiden Treppenteilen der Domstufen abgesetzt wurde. Ein Studienaufenthalt in Kolumbien schließt sich 1994 an, dann Arbeitsstipendien des Landes Thüringen, eines für Literatur und eines für Druckgraphik. Der Zuschlag für das Denkmal des unbekannten Wehrmachtdeserteurs – Stelen auf dem Petersberg – bringt Thomas Nicolai 1995 in die regionalen Schlagzeilen. 1997 gewährte ihm die Stiftung Kulturfonds ein weiteres Arbeitsstipendium. Einzelausstellungen zeigten Arbeiten von Thomas Nicolai bisher unter anderem in Erfurt, Weimar, Gera und Kassel, Ausstellungsbeteiligungen außerdem in Frankfurt/Oder, Halle, Meiningen, London und in Santafé de Bogotà, Kolumbien.

Thomas Nicolai, wie gesagt, macht zeitgenössische und zeitgemäße missionarische Kunst: Indem ich die nichtgebauten Konstruktionen von Thomas Nicolai schildere, deren Baupläne und Modelle wir ab heute hier studieren können, wird ein Aspekt deutlich, der die Kunstwerke Thomas Nicolais von der Naturromantik des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Man kann, um es bildlich zu sagen, nicht hinter das Ereignis „Eiffelturm“ zurück: 1889 zur Pariser Weltausstellung gebaut, ist die Stahlkonstruktion des Eiffelturms zu einem Symbol des technischen Zeitalters geworden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde diese Technik so dominant im Leben der sogenannten „westlichen Zivilisation“, daß die Kunst heute immer mit der Technik rechnen, gegen sie angehen oder sich mit ihr arrangieren muß.

So stellt Thomas Nicolai die Strategie des Baudelaire-Gedichtes auf den Kopf: Anstatt uns das Blätterdach einer Allee oder die Baumstämme einer aufbrechenden Lichtung als Säulen eines Tempels zu verkaufen, plaziert Nicolai seine Stahlkonstruktionen in ein dickes Bett aus gefallenen Blättern. Der verblüffende Effekt durch die Zusammenführung des Widersprüchlichen bleibt erhalten: Oder waren Sie nicht freudig überrascht, eine Vernissage mit dem Titel „Konstruktionen“ zu besuchen und ihre Füße in raschelndem Herbstlaub wiederzufinden?

Die Erkenntnis des Spiegels von Natur und Kultur ist weiterhin vorhanden. Aber das Verhältnis von Spiegel und Gespiegeltem hat sich umgekehrt. Wie die Photographie eines sich in einem sehr, sehr stillen See spiegelnden Schlosses häufig nicht entscheiden läßt, was der See und was der Himmel, was das Schloß und was sein Spiegelbild ist, so lenkt die Kunst Thomas Nicolais die Richtung der Schritte auf dem Weg zur Erkenntnis des Überirdischen um. Nicht mehr die Natur und ihre Kultivierung sind der Ausgangspunkt des erkennenden Erlebens einer höheren, alles umfassenden göttlichen Ordnung, sondern über den Weg der technischen Konstruktion führen die imaginären Bauten Thomas Nicolais uns zur Natur und ihren Kreisläufen zurück. Eine Maschine, die wie das organische Leben der Natur, der Tiere und des Menschen ihren einzigen Zweck in sich selber trägt, ist Nicolais Antwort auf die auf blinde Effektivität ausgerichtete Funktionalisierung unserer Lebenswelt. Seine Kunst reibt sich nicht im von vornherein verlorenen Versuch auf, die Technik zu ignorieren oder gegen die Technik in seiner Kunst anzugehen. Vielmehr – und viel wirkungsvoller – treibt er die Technik über sie selbst hinaus. In der nichtfunktionalen Maschine verliert die Technik ihre beherrschende und zerstörende Macht und wird, wie ein böser Traum – der Traum von Babel – still in den mächtigeren Zyklus überirdischer Realitäten integriert.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker