"Der gläserne Pantoffel. Wolfgang Nickel. Märchen in Glas"
Rede zur Ausstellungseröffnung
Literaturmuseum Theodor Storm Heiligenstadt, Samstag, 20. November 2021, 15 Uhr
Dr. Haut, lieber Wolfgang Nickel, sehr geehrte Damen und Herren,
"Der gläserne Pantoffel. Wolfgang Nickel. Märchen in Glas". Am Titel der Ausstellung, die wir heute eröffnen, kann man eigentlich nur den Namen des Künstlers, Wolfgang Nickel, unkommentiert stehen lassen. Zum "gläsernen Pantoffel" können und werden wir Ihnen einiges erzählen - weil er nämlich ursprünglich gar nicht gläsern war - und mit dem Ausdruck "Märchen in Glas" stecken wir nicht nur sofort mitten in den inhaltlichen Aspekten der Kunstwerke. Wir stecken nicht nur sofort mitten im Märchenthema, sondern auch mitten in den Vorurteilen, mit denen das Genre zu kämpfen hat.
Denn "Märchen in Glas" könnte alles meinen. Längst - und das geht tatsächlich mindestens bis in die Goethezeit zurück - längst ist der Begriff Märchen oder das Märchenhafte zur Chiffre geworden für alles Phantastische und Phantasievolle, Willkürliche und Traumhafte, sogar für Geflunker oder eben einfach für das Schöne. In Wolfgang Nickels neuesten Arbeiten aber geht es tatsächlich um die Umsetzung inhaltlicher Aspekte bekannter Zaubermärchen in Glasarbeiten.
Mit dem zweifelhaften Image des Märchens möchte ich natürlich in meinen beiden Vorträgen - heute und am 1. Dezember - gründlich aufräumen. Zunächst aber möchte ich mich mit Ihnen der Arbeitsweise Wolfgang Nickels im allgemeinen und seinen neuesten Werken im besonderen zuwenden. Von Hause aus Maler und Grafiker - er studierte an der Burg Giebichenstein Halle bis zum Diplomabschluß -, verbindet Wolfgang Nickel seine Fähigkeiten seit über drei Jahrzehnten mit dem Arbeiten in Glas. Er schuf und schafft weiterhin großflächige Buntglasfenster für öffentliche Gebäude und Kirchen - zuletzt arbeitete er in St. Pankratius Westhausen -, er schafft Glasobjekte auch für den Außenraum, Tabernakel und Stelen und eben Glasbilder, die meist gerahmt als Wandschmuck dienen. Auf Kirchenfenstern wie in einer ausgedehnten Werkreihe zu Gedichten von Grypius bis Morgenstern brannte Nickel dabei auch lesbare Buchstaben ganzer Psalm- oder Gedichttexte in Glas. Mit feinen Pipetten wird farbiger Glasstaub oder werden Farbpigmente auf das Flachglas aufgebracht und jede Farbschicht gesondert eingebrannt. Die hier gezeigten Exponate erforderten beispielsweise je drei Brennvorgänge, die mit Abkühlungszeiten jeweils einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.
Für die Brennvorgänge war über lange Zeit viel Experimentierfreude, aber auch Frustrationstoleranz seitens des Künstlers gefordert, da Glas nach dem Brennen springen kann, Farben sich im Brennvorgang verändern und nur mit viel Erfahrung berechenbare Ergebnisse zu erzielen sind. Neben Buchstaben bringt Wolfgang Nickel auch entzückende Physiognomien und ganze Figuren auf Flachglas auf. Erinnert sei hier an die Paardarstellungen der "Lustgärten"-Reihe sowie an Marien- und ähnliche Figuren auf mittelgroßen runden Glasobjekten, wie sie zuletzt in der "Renaissance"-Ausstellung auf Schloß Wilhelmsburg Schmalkalden zu sehen waren. Und solchen Physiognomien begegnen wir eben auch in den "Märchen in Glas" wieder. Mehr noch: Die Kenntnis seines Gespürs gerade im Umgang mit der figürlichen Zeichnung der menschlichen Physiognomie hat mich bewogen, Wolfgang Nickel vor gut vier Jahren auf das Märchenthema 'anzusetzen'.
Nach den ersten Werken - also vor Jahrzehnten - empfand Wolfgang Nickel die Gefahr bei der Arbeit mit unbehandeltem Flachglas (einer Glasscheibe), daß die dritte Dimension im Kunstwerk nicht ausreichend zum Tragen kommen könnte. Die künstlerischen Experimente mit Glas, die dieser Erkenntnis folgten und bis heute folgen, beziehen sich daher u.a. auf die Oberflächenbehandlung und -manipulation des Glases, die nicht nur eine echte Mehrdimensionalität des einzelnen Kunstwerks hervorbringt, sondern die Illusion einer noch tieferen Mehrdimensionalität schafft, als ein wenige Zentimeter tiefes Werk sie tatsächlich realisieren kann.
Um die Eigenschaft des Glases auszunutzen, nicht nur durchsichtig zu sein, sondern auch Spiegelungen hervorzubringen, verformt Nickel nämlich das Flachglas vor Arbeitsbeginn zum Teil in einer eigens hergestellten Schamotteform zum flachen Relief. Die Glasplatten, Sie sehen das auch in den Sie umgebenden Werken - sind ein klein wenig wellig oder hügelig und besitzen Vertiefungen, die dem Lichteinfall je nach Position des Betrachters unterschiedlich begegnen. Um seinen Wandarbeiten die Mehrdimensionalität abzuringen, bezieht Wolfgang Nickel also das Licht in die Wirkung seiner Kunstwerke ein. Die Bilder werden schillernd und lebendig, neben die Farbigkeit tritt auch wieder das reine Licht als Reflexion sowie die Schwärze der Vertiefungen. Hinzu kommen die Überlagerungen von Motiven durch die Mehrfachbemalung des Glases, die beidseitige Bemalung des Glases und durch den Schattenwurf der Zeichnungen wie auch der Glasverformung auf den Rahmenhintergrund - also die Überlagerung der Zeichnung mit sich selbst in ihrem eigenen Schatten. Besonders gut sichtbar sind die Wellenlinien, deren Muster die Glasverformung auf den Rahmenhintergrund wirft, in "Der Schlaf", in "Nun wirst du Ruhe geben" oder auch in "Rotkäppchen und der Wolf". Im anderen Ausstellungsraum sehen Sie es besonders gut im Bild "Die alte Weide", dem "Nachen" oder "Blühende Wiese". Das rosafarbene Grundmuster in "Der Strauß" folgt der Reliefstruktur des Glases und Brüderchen und Schwesterchen stehen in einem großen Blumenmandala, das sich als Schatten auf dem Rahmenhintergrund noch einmal wiederholt.
Kurz: Wir haben es in den Glasbildern Wolfgang Nickels mit faszinierenden Werken zu tun, die Bildmotive besonders interessant machen und durch ihre Vielschichtigkeit (im Wortsinne) auf vielfache Weise interpretatorisch wirken können. Auch deshalb verfiel ich wie gesagt eines Tages vor gut vier Jahren auf die Idee, Wolfgang Nickel mit meiner Überzeugung über die Bedeutung bekannter Zaubermärchen zu konfrontieren, um ihn für dieses Thema zu gewinnen. Ich wußte damals gar nicht, daß er bereits Jahre zuvor einen Graphikzyklus zu den Märchen und Sagen Ludwig Bechsteins vorgelegt hatte. Aber dies bedeutete natürlich, daß meine Erläuterungen auf sehr offene Ohren stießen.
Wir vereinbarten in der Folge eine kleine Anzahl bekannter Zaubermärchen - das heißt eine kleine Anzahl aus den Märchen, in denen übernatürliche Kräfte in den Handlungsverlauf eingreifen: Dornröschen, Rotkäppchen, Aschenputtel - aber eben auch die Regentrude von Theodor Storm mit ihren vielen Anleihen bei den Grimmschen Märchen. Sich auch den Kunstmärchen Theodor Storms zuzuwenden, bot sich an, weil wir mit der Ausstellung nun hier im Literaturmuseum Theodor Storm zu Gast sind. Die Unterscheidung von Kunst- und Volksmärchen übrigens und vor allem die Frage, ob diese Unterscheidung überhaupt trennscharf getroffen werden kann, werden wir im Vortrag am Mittwoch übernächster Woche eingehender betrachten.
Zurück zu unserer gemeinsamen Arbeit: Wolfgang Nickel und ich vereinbarten die Beschäftigung mit ausgewählten Märchen. Ich arbeitete ihm Zitate zu, die ich für wesentlich für den Fortgang der Handlung oder für die Deutung des Märchens halte. Nickel arbeitete diese Zitate in Bilder ein. Oder er veränderte sie. In der Inschrift zu dem Bild, in dem Rotkäppchen sehr offen den eher schüchternen Wolf mustert, hat Wolfgang Nickel beispielsweise sehr deutend in das Zitat eingegriffen - wir werden darauf zurückkommen. Das Beispiel für eine Einarbeitung eines Originalzitates in ein Bild aber ist die Darstellung des Spinnrades mit dem Märchenzitat "Und der Wind legte sich" aus Dornröschen von Jacob Grimm. Und damit möchte ich in die konkrete Märchendeutung einsteigen.
[...]
Die folgenden Passagen, die neuartige Märchendeutungen vorlegen, sollen in ein Katalog-Buch von Wolfgang Nickel und mir Eingang finden und an deiser Stelle daher nicht vorab publiziert werden.
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar