Neue . Skulptur . Weimar . 2018 . Beate Debus und Thomas Röthel

Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Landgut Holzdorf, 1. Juli 2018, 11.00 Uhr

Liebe Beate Debus, lieber Thomas Röthel, liebe Elke Gatz-Hengst, sehr geehrte Frau Schmidt, sehr geehrte Damen und Herren,

gestern abend haben wir in der Galerie Profil bereits einige Werke der beiden Künstler der diesjährigen Neuen . Skulptur . Weimar, Beate Debus und Thomas Röthel, kennengelernt: mehrere "Drehungen" und eine kleine "Schwingung", vor allem aber Papierarbeiten von Thomas Röthel, Farbholzschnitte und den "Schattentanz" von Beate Debus. Vielleicht haben auch Sie bereits Spaziergänge durch die Stadt genutzt, um in der Schillerstraße, auf dem Goethe- und dem Herderplatz und ums Wittumspalais herum weitere große Skulpturen beider Künstler anzuschauen. Nun treffen wir uns hier an einem geschichts- und kulturträchtigen Ort, um weitere Skulpturen für den Außenraum zu betrachten.

Zum dritten Mal, und das heißt seit 2014, ist das Landgut Holzdorf Partner und Mitveranstalter der Biennale Neue . Skulptur . Weimar. Wir freuen uns immer wieder, daß die Entscheidung damals so gefallen ist, denn eine Skulpturenausstellung bereichert diesen in Wiederentdeckung und Rekonstruktion befindlichen Park in so sinnvoller Weise - war er doch vor knapp 100 Jahren mit Statuen so berühmter Meister wie Constantin Meunier und Auguste Rodin ausgestattet.

Der Unternehmer Dr. Otto Krebs, der das bereits im 13. Jh. (1271) erstmals erwähnte Gut 1917 erwarb, ließ Haus und Park mit ausreichenden Finanzmitteln umgestalten - und er tat es in einer Weise, die die Grenzen von Innen und Außen durchlässig machte und Haus und Park gleichsam ineinanderschob: Das Haus wird zum Park hin durch große Fensterflächen bestimmt und das Parkett ist mit Blumenintarsien verziert. Lange Listen kursierten unter den Bediensteten mit genauen Anweisungen, wo wann welche Pflanze im Haus aufzustellen sei. Umgekehrt war der Park von Kultur bestimmt: Der Landschaftsgarten wandelte sich unter der Ägide von Franz Wirtz - einem Schüler von Hermann Mutesius - zur architektonisch geformten Fortsetzung der Bebauung. Das Gartenhaus oberhalb des Badesees diente den Klavierkonzerten von Krebs' zweiter Frau, der damals berühmten Pianistin Frida Kwast-Hodapp. Den Skulpturen kamen verschiedene Funktionen zu: Einige schmückten den Park, wobei der Staudengarten beispielsweise so angelegt wurde, daß er das "Eherne Zeitalter" (Lâge d'airain") von Auguste Rodin, einen auf eine Lanze gestützten Jüngling, regelrecht inszenierte. Bäume, Beete und Rasenflächen wurden zur Bühne für die Skulpturen. Anders im Fall von Meuniers "Sämann" (Un semeur), der sofort sichtbar draußen vor dem Verwaltungsgebäude aufgestellt war. Hier sollte die Figur den Landarbeitern programmatisch den Wert der eigenen Arbeit vor Augen führen. Durch die sich balgenden Knaben an der Brücke oder die liegenden Skulpturen "Mann" und "Weib" des Weimarer Bildhauers Josef Heise am Badesee erfüllte sich eine dritte Funktion der Skulpturen, denn diese Figuren sollten den Park regelrecht beleben und bewohnen. Daß Krebs in Briefen vom "Manetzimmer" oder dem "Signaczimmer" spricht, seine Räumlichkeiten also nach der dort gehängten Kunst benennt, unterstreicht ein weiteres Mal, welche Rolle die Bildende Kunst und die Musik im Leben dieses erfolgreichen Unternehmers spielte.

Das Landgut Holzdorf also - der perfekte Ort für eine wechselnde Skulpturenausstellung. Wechselnd, denn nachahmen kann man die damalige figürliche Kunst ja nicht. Ganz andere Kunst ist es, die heute entsteht und die dennoch mit den alten Werken und vor allem mit dem Gartenensemble in einen Dialog treten kann.

Beginnen wir mit den fünf Arbeiten des Metallbildhauers Thomas Röthel, dessen "Drehung" wir gestern in der Galerie eingehender betrachtet haben. Röthels meterhohe stehende oder meterbreite liegende Stahlskulpturen sind nicht auf bestimmte Plätze bezogen oder für bestimmte Räume geschaffen, sondern entstehen als freie und absolute Formen in der Vorstellung des Künstlers. Wir haben gestern ein Werk kennengelernt, in dem viele schmale Stahlstreben sich durch die Drehung und das Wegziehen des oberen von zwei Stahlquadern dehnten und auseinanderzogen. Die Kunst dabei war vor allem, diesen Zug nicht "auf Biegen und Brechen" ins Werk zu setzen, sondern das Brechen eines eventuell schon zu weit erkalteten Werkstoffs zu verhindern. Die Gratwanderung zwischen dem zu hoch erhitzten und daher zu weichen Stahl einerseits und der bereits zu weit heruntergekühlten Materie andererseits ist die Kunst in jeder solchen Schmiede- oder Metallarbeit. Doch so schön der rotglühende Stahl anzuschauen ist und so beeindruckend das Werden eines solchen Kunstwerks sein mag - Thomas Röthel ist kein Performance-Künstler. Er setzt nicht den Entstehungsprozeß seiner Arbeiten in Szene, sondern präsentiert dem verblüfften Publikum jeweils das fertige Werk.

Ich hatte gestern erwähnt, daß das Aufeinander-Bezogen-Sein zweier identischer Grundformen die meisten Werke von Thomas Röthel bestimmt. In der Stadt haben Sie vielleicht bereits die Werke mit dem Titel "Balance" gesehen - auf dem Herderplatz die Grundform einer Wippe oder Schaukel mit zwei aufeinandergestapelten, gegeneinander verschobenen Bögen; am Schillerhaus ein Werk, bei welchem die Biegung der Stahlplatten noch weiter getrieben ist, auf bestimmt 135°. Wieder sind zwei, in diesen beiden Fällen wirklich identische Werkteile ineinandergeschoben.

Was ich gestern in der Galerie sagte, bezog sich zunächst auf die Stahlquader, die in der "Drehung" über dem Gewirr aus Stahlarmen auseinandergezogen erscheinen und sich nun im rechten Winkel, der obere Quader ausladend, gegenüberstehen. Christiane Weber hat in unserer Lokalzeitung vom Samstag geschrieben, daß das Werk (in seiner großen Ausführung auf dem Theaterplatz) die Schwerkraft außer Kraft zu setzen scheint. In der Tat scheint die Hälfte der Plastik über den Schwerpunkt hinaus verschoben, so daß man ein Stürzen des Werkes befürchten möchte. Der Sturz passiert aber nicht. Die korrespondierenden Stahlquader sind hier eben doch nicht ganz gleich, sondern der untere um so vieles länger und damit um so vieles schwerer, daß er die ganze Skulptur aufrecht hält.

Eine Art Grundform dieser Arbeit scheint hier im Park zu stehen: Das Werk, in dem zwei Stahlquader um 270° gegeneinander verdreht sind, das aber mit drei waagerechten Schnitten in den Stahl auskommt. Das reizvolle, aber auch skandalisierende an diesen Arbeiten ist die scheinbare Leichtigkeit, mit der die Verformung des Stahls daherkommt. Man sieht ja die Hitze nicht mehr, die den Stahl weich und formbar gemacht hatte. Gedreht wie ein Tuch, mit der weichen, schmeichelnden Silhouette eines biegsameren Materials sehen wir die scharfen Linien der Stahlplatten in eine organische, fließende Form gebracht. Nichts ist gerissen, nichts ist gebrochen. Gehorsam hat sich der Stahl dem Formwillen des Künstlers gebeugt. Faszinierend auch in "Stahl gebogen", bei welchem die Biegung der Stahlplatten tatsächlich 180° erreicht. Nur zwei horizontale Einschnitte bis zur Mitte haben ausgereicht, um die Verformung zu ermöglichen. Eine Vorform des Werks scheint uns in der "Schwingung" zu begegnen, wo die korrespondierenden Hälften weniger verbogen, aber wiederum gedreht sind und sich im stumpfen Winkel gegenüberliegen.

Dieselbe Verblüffung wie alle diese Arbeiten löst das Werk "Schichtung" oben auf dem Weg am Eingang aus. Wenn ich richtig sehe, sind hier vier Stahlwinkel über Eck aufeinandergelegt. Durch eine Erhitzung rutschen die Ebenen so ineinander, daß die Stahlplatten sich übereinander schmiegen wie ein Stapel Handtücher oder wie die Seiten eines über lange Zeit falsch gelagerten Buches. Die Stahlwinkel, die eigentlich Freiräume lassen sollten, legen sich ineinander wie Lagen von Papier. Wir haben das Gefühl einer Art optischer Täuschung: Der Inbegriff des 'Stahlharten' wurde weich und formbar.

Die Archaik im Schaffensprozeß solcher Werke gehört zu den Besonderheiten, die Thomas Röthel nun schon über zwei Jahrzehnte hinweg an seiner Arbeit zu fesseln und zu begeistern vermögen. Es ist die Zähmung der unbeugsamen Materie durch die zivilisatorisch so grundlegenden Mittel Feuer und Werkzeuggebrauch - beides lebensgefährlich und doch die Voraussetzung aller menschlichen Kultur. Und auch die archaische Anmutung des rasch sichtbar alternden Materials gehört zu den Dingen, die Thomas Röthel an seinem Werk faszinieren. So ist es letztlich die Erinnerungstiefe der Kunst, die Röthels Schaffen antreibt: die Tatsache, daß der Mensch Kunst macht, eben seit er Mensch ist. Die durch die Zeiten hinweg wiederkehrenden Motive und Fragestellungen, wie wir das auch bei den "Köpfen" von Beate Debus gleich sehen werden, macht anschaulich, was Thomas Röthel aus seiner künstlerischen Position heraus reflektiert: daß, was da Kunst macht, eben doch seit Tausenden von Jahren der gleiche Mensch ist.

Von Beate Debus sind einige Exemplare der Werkreihe der "Köpfe" ausgestellt, die ich gestern schon kurz erwähnt hatte. Anhand des "Schattentanzes" war deutlich geworden, wie Beate Debus von Skulptur zu Skulptur um die Darstellung von Bewegung im Raum ringt: Bewegung und Gegenbewegung, die aus unterschiedlichen charakterlichen Dispositionen der Menschen heraus die soziale Interaktion bestimmt. Korrespondierende Bedürfnisse, polare Kräfte und gegensätzliche Bewegungsimpulse tarieren in den Tänzen einander jeweils aus. Wie die Tanzskulpturen ohne Köpfe auskommen - als Reduktion der Körper auf die Gliedmaßen, also unseren - wie man so schön sagt - "Bewegungsapparat", so konzentriert sich die Werkreihe der Köpfe eben genau auf den Körperteil, der unsere Bewegungen steuert und von dem, als Sitz der Psyche, die Emotionen ausgehen, die die soziale Interaktion am Laufen halten.

Der Kopf hat Künstler seit langem interessiert. Und dabei meine ich nicht die antiken Büsten, die dem Totengedenken dienten. Ich meine Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, die in der Renaissance bzw. in der ganz Frühen Neuzeit den Kopf bereits seziert haben. In einer "mathematischen Klärung der Proportionen", wie Erwin Panofsky es genannt hat, brachten beide Künstler alle nur denkbaren - und tatsächlich eben auch die nur denkbaren - Ansichten des Kopfes aufs Papier. Den Linien eines regelmäßigen Gitternetzes eingeschrieben, überträgt Dürer damals den Kopf vom Profil in die Frontalansicht und weiter in eine Ansicht von unten quasi durch die Wirbelsäule hindurch - und zwar keinen Totenschädel, sondern einen Kopf mit Haut und Knorpel, Nase und Ohren. Bereits Dürer also hat unmöglichen Blickpunkten den Weg geebnet - beispielsweise dem Blick auf den Kopf, wie er sich einer Sicht durch den Körper hindurch entlang der Wirbelsäule darstellen würde. Die Frühe Neuzeit beschränkt sich also nicht nur auf ihre Suche nach der möglichst genauen, objektiven Beschreibung der Körper. Nein, auch der unmögliche visuelle Ort wird hier schon gedacht und bildnerisch ins Werk gesetzt. Das Bewußtsein, daß die äußere Hülle der Körper nur auf Basis der Kenntnis des Innenlebens optimal wiedergegeben werden kann, daß zur Darstellung eines Bewegungsverlaufs also die Kenntnis des Verborgenen, der Muskelverläufe, der Gelenke und der Anatomie des Bewegungsapparates, unabdingbar ist, dieses Bewußtsein ging schon vor 500 Jahren Hand in Hand mit der Er-findung und Sichtbarmachung des nicht Sichtbaren.

So un-heimlich im doppelten Sinne des Wortes treten uns die Verformungen in den Werken der "Köpfe"-Reihe von Beate Debus gegenüber. Un-heimlich im Sinne von nicht verborgen - aber auch nicht geheuer. In geöffneten Schädelräumen und verschobenen Augenpartien, die unseren Blick gespenstischerweise gleichwohl zu erwidern scheinen, treiben diese Kunstwerke die künstlerische Öffnung des Schädels in ungeahnter Weise weiter voran. In entstellten Formen und segmentierten, ja sezierten Gesichtshälften wird die innere Erregung, die der Ursprung unserer äußeren Bewegungen ist, für uns nach außen gekehrt. In der überstarken Wölbung der Skulptur "Kopfraum" kommt der zum Bersten volle Kopf in den Blick. Es ist der Kopf eines, der sich nicht nur "Gedanken macht". Beate Debus scheint ein Sprachbild visualisiert zu haben, das Sprachbild dessen, der "sich den Kopf zerbricht". Die Skulptur "Kopf mit Einblick" läßt auch an diese Metapher denken - während der "Kulissenkopf", scheinbar nach allen Seiten blickend, seine ungerührt-aalglatte Maske und Miene behält.

Auch für die "Köpfe" wird, wie wir das bei den "Tänzen" gesehen haben, der neueste Entwurf an der Wand vorgebildet (Arbeiten aus dieser Reihe sind auch in der Galerie vorrätig, aktuell ist eine gehängt - nach weiteren bitte nachfragen). Zweidimensional in Kohle- oder Kreidezeichnungen oder schon dreidimensional in flachen Wandreliefs oder Holzcollagen werden die neuen Skulpturen der "Köpfe" vorbereitet. Wie die "Tänze", so sind auch die "Köpfe" häufig zweifarbig schwarz-weiß gefaßt, also abgeflämmt und mit Schlämmkreide geweißt, um die Bewegung zweier widerstreitender Argumente im Abwägungsprozeß des Denkens sichtbar zu machen. (Im Außenraum wiederum als Variante von schwarz und bronzefarben.)

Als sich Siegmund Freud, der Psychoanalytiker, vor gut hundert Jahren ebenfalls in den Köpfen seiner Patienten auf die Suche nach dem Sitz und dem Ursprung des Denkens machte, kam er beim Nicht-Denken, beim Unbewußten heraus. Das Unterbewußte, das ist mittlerweile common sens, steuert, für den Denkenden selber nicht ergründbar, das Rhizom unserer Assoziationsketten und regt unsere Denkräume an.

Wie im einzelnen die Nerven und Synapsen mithilfe all der Adern und Zellmembranen im Gehirn unser Denken ausführen, weiß ich nicht - weiß vielleicht bisher noch niemand. Aber im Werk von Beate Debus kann man sehen, wohin der Versuch, das Unbewußte zu denken, führt: Die logische Folge dieses Versuchs, das Unbewußte zu denken, ist nämlich, das Unsichtbare zu visualisieren, wie die "Köpfe" es, beinahe akribisch wie in einer Versuchsreihe, durchdeklinieren. "Kunst", so sagte bekanntlich schon Paul Klee, "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Die Kunst von Beate Debus spürt nicht nur äußeren Bewegungsmustern nach (in den "Tänzen"), sondern auch den Ursprüngen der äußeren Bewegung in einer inneren. Sie rührt damit an alte und doch immer noch ungelöste Fragen und ich möchte mit einer Feststellung des französischen Kunsthistorikers Georges Didi-Huberman ("Schädel sein" S. 30) schließen. Er schreibt: Künstler können "durch Verschiebung der Blickpunkte, durch Umkehrung der Räume, durch Erfindung neuer Beziehungen, neuer Kontakte, die wesentlichsten Fragen [der Menschheit] verkörpern, und das ist viel besser, als zu glauben, man könne sie beantworten".

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar