Neue . Skulptur . Weimar . 2016 . Biennale Weimar - Holzdorf . Anna Franziska Schwarzbach . Andreas Theurer . Juli - September

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Profil, Weimar, 2. Juli 2016, 18.00 Uhr

Liebe Anna Franziska Schwarzbach, lieber Andreas Theurer, liebe Elke Gatz-Hengst, sehr geehrte Damen und Herren,

es gelingt selten so gut wie in diesem Jahr, daß die Skulptur . Weimar im öffentlichen Raum zeitgleich durch eine Ausstellung beider beteiligter Künstler hier in der Galerie flankiert wird. 2009 war es der Fall mit Werken von Karien Vervoort und Thomas Lindner, 2011 mit zwei Galerieausstellungen, einmal Köpfe von Beate Debus und anschließend Werke von Timm Kregel. 2016 ist es Elke Gatz-Hengst wieder gelungen - passend zu den Werken im Stadtraum und im Park des Landgutes Holzdorf präsentiert sie uns Kleinplastiken und Papierarbeiten von Anna Franziska Schwarzbach und Andreas Theurer. Sie holt damit Werke zweier Künstler nach Weimar, die schon jetzt ein großes Lebenswerk vorzuweisen haben.

Anna Franziska Schwarzbach wurde 1949 in Rittersgrün im Erzgebirge geboren und wuchs in Schwarzenberg auf. Nach dem Abitur mit Berufsausbildung studierte sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Architektur und begann mit 23, in einem Büro zu arbeiten, das mit dem Bau des Palastes der Republik beauftragt war. Nach zwei wandte sie sich in Abendkursen wiederum in Berlin-Weißensee der Portraitplastik zu und ist seit 1977 in Berlin als freiberufliche Bildhauerin tätig.

Wieder also - wie hier zuletzt 2011 mit Beate Debus - ist es der Kopf, der uns dieses Jahr in den Exponaten der Skulptur . Weimar begegnet, als typologische Studie, als Portrait, als Büste: Anna Franziska Schwarzbach ist eine Meisterin dieses Fachs. Eines schwierigen Faches. Wir hatten an dieser Stelle schon mehrfach die Gelegenheit, die Geschichte des Portraits und der Büste in der Kunst des 20. Jahrhunderts revue passieren zu lassen: Anhand der bis zur völligen Reduktion der Formen abstrahierten Arbeiten von Hans Joachim Albrecht 2007, anhand der flächigen Gesichter in den Steinköpfen Anne Kathrin Altweins 2010: Seit Künstler wie Picasso die überindividuellen Totemmasken indigener afrikanischer Völker für sich entdeckt hatte, seit Künstler wie Brancusi Köpfe aus Drahtgeflecht und Blechplatten konstruiert hatten, um den großen Emotionen Rodinscher Köpfe zu entkommen - seitdem ringt die Bildende Kunst um das Ziel und um die Möglichkeit der skulpturalen Darstellung von Kopf, Gesicht und Portrait: Was eigentlich kann darstellbar werden? Welchen Aspekt einer Persönlichkeit greift man heraus, um die Person am treffendsten zu charakterisieren? In welchem Alter stellt man sie dar? Mit welchem Gesichtsausdruck? Nach vielleicht welchem Vorbild? Diesen sehr grundsätzlichen Problemen hatte sich Franziska Schwarzbach zu stellen, als sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Medailleurin 2010 eine Martin-Luther-Medaille gestalten sollte. Sie entschied sich für den jungen, eigentlich noch katholischen Mönch in der frühen Beseeltheit reformatorischer Glut.

Medaille ist ein gutes Stichwort - Anna Franziska Schwarzbach ist in diesem Metier sehr prominent, auch preisgekrönt und so bestens vertraut mit dem, was das Wort "Charakter" im griechischen ursprünglich meinte: Charaktér war der obere Prägestempel in der antiken Münzprägung, und schon in der Antike übertrug man den Begriff Charakter vom prägenden Werkzeug metaphorisch auf den geprägten "Charakter"-Kopf.

Anna Franziska Schwarzbach gestaltet Münzen und Medaillen, aber auch Büsten, Portraits und typisierende Figuren und hält so Charaktere für die Nachwelt fest. Ob das beispielsweise Albert Einstein - und zwar als Albert und als Einstein, als Kind und älterer Herr in zwei Gestalten - ist oder die Physikerin Lise Meitner, deren lebensgroße Figur seit zwei Jahren im Ehrenhof der Humboldt-Universität zu Berlin steht und so die erste starke Generation von Frauen in der Wissenschaft sichtbar macht. Viele Arbeiten Schwarzbachs zeigen uns aber auch die klassische Büste, die immer schon der Abbildung, der Dokumentation wichtiger Persönlichkeiten diente, mit dem Ziel, diese Personen in Erinnerung zu halten. Franziska Schwarzbachs Köpfe erfüllen zum Teil tatsächlich genau diese ganz klassische Funktion - wir werden morgen anhand der Skulpturen im Außenraum über den Kopf Rostropovichs und Marianne Brandts, aber auch die nur in Kopf und Gesicht wirklich ausformulierte Skulptur von "Fritz als Baby" sprechen.

"Fritz als Baby" ist wiederum ein gutes Stichwort, denn ein Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens von Franziska Schwarzbach war tatsächlich das Einfangen der sich so schnell wandelnden Physiognomie der Kinder. Die Darstellung ganz konkreter Individuen ist aus dem Schaffen Franziska Schwarzbachs nicht wegzudenken. Es geht ihr in ihrer Arbeit um das Typische eines individuellen Charakters wie um das Charakteristische eines allgemeinen Typus. Hier in der Galerie sehen wir kleine Figuren einer ganzen Familie von Kleinwüchsigen. Nicht nur die starke Persönlichkeit kleinwüchsiger Menschen aus ihrem Bekanntenkreis war dabei das, was Schwarzbach darstellen wollte, sondern es ist eine ganz bestimmte Familie, deren ergreifendes Schicksal uns in diesen zum Teil in Bronze, zum Teil in Blei, Eisen oder Porzellan ausgeführten Plastiken begegnet: Es ist die Familie des rumänischen, kleinwüchsigen Juden Shimshon Ovitz, der 1944 mit seinen 14 Kindern nach Auschwitz deportiert wurde und mit seiner Familie das Lager überlebte. Anna Franziska Schwarzbach nutzt die Skulpturen, um dieser Familie und jedem ihrer Mitglieder ein Denkmal zu setzen. "Vor Zwergen", so zitiert Franziska Schwarzbach im Katalog ein japanisches Sprichwort, "vor Zwergen muß man sich tief verneigen."

Das Werk von Andreas Theurer, um damit zum zweiten Künstler dieser Ausstellung zu kommen, das Werk von Andreas Theurer ist sehr vielgestaltig. 1956 in Göppingen geboren, studierte er ab 1977 Bildhauerei an der Stuttgarter Kunstakademie bei Alfred Hrdlicka. Eine Ergänzung zu dessen expressivem Essentialismus war 'saubere' Realismus von Jürgen Weber, bei dem Andreas Theurer zwischen 1983 und 88 Assistent an der TU Braunschweig im Institut für Elementares Formen im Fachbereich Architektur war. Nach einer Phase der freiberuflichen Tätigkeit und der Lehraufträge an der UdK Berlin ist Andreas Theurer seit 1993 als Professor an der Hochschule Anhalt in Dessau tätig. Unter seinen Auslandsaufenthalten wirkt die Gastdozentur in Kabul, Afghanistan vor 14 Jahren künstlerisch bis heute nach.

Wir werden morgen in Holzdorf Skulpturen aus den 80er und 90er Jahren sehen, von denen die älteren sehr ausdrucksstarke Physiognomien zeigen, die jüngeren ganz in die Flächigkeit abstrahierte Figurenpaare im Dialog. Wir sehen am Beginn der Schillerstraße seine marmorne "Europa", werden hier in der Galerie aber eher mit seinen Ausflügen in die Konkrete Kunst bekannt gemacht. Wir sehen kleine Acrylarbeiten aus Wellpappe und Sand, die in einer sehr ruhigen und zurückhaltenden Farbigkeit von braun, weiß und schwarz die Wirkung der Farbflächen und der Strukturen ausloten, die die Wellpappe als Schraffur mit ins Bild bringt. Die Werke "Double Vision II" und "Der relative Raum" geben schon in ihren Titeln einen Hinweis auf einen spielerischen Umgang der betreffenden Kunstwerke mit dem Phänomen der Räumlichkeit. "Der relative Raum" führt uns in puncto räumlicher Wirkung schlicht als Trompe-l'œuil, als optische Täuschung hinters Licht - und zwar gleich auf zweierlei Weise. Das Kunstwerk steht uns auf den ersten flüchtigen Blick hin scheinbar als geöffneter Würfel gegenüber, dessen Bauplan wir ja alle aus den Faltanleitungen für Kinder kennen. Dann stutzen wir: Es ist gar kein geöffneter Würfel, den wir sehen, sondern zwei benachbarte Seiten einer Kiste kommen uns entgegen, zwei weichen nach hinten vor uns zurück - der vorgebliche Deckel des Würfels befindet sich in der Mitte zweier je halber rechtwinkeliger Kisten. Hier ist in der Dreidimensionalität durchexerziert, was uns M.C. Escher in seinen verwirrenden Bildern vor Augen führt: Das mögliche Hin- und Herspringen von Vorder- und Hintergrund in der perspektivischen Zeichnung. Aber Moment - wie steht es in Theurers Pseudowürfel eigentlich mit der Dreidimensionalität? Das Werk ist bei einer Höhe mal Breite von 24x26 cm schlanke 11 cm tief. Hier werden wir also ein zweites Mal getäuscht: Obwohl das Kunstwerk zweifellos ein dreidimensionales Objekt ist, stellt es den Raum, den es vortäuscht, nicht realiter her, sondern tut so, als wäre es ein Bild, das zur Erzeugung von Tiefenwirkung auf die Kunstgriffe perspektivischer Zeichnung zurückgreifen müßte. Eine unglaublich hintersinnige und witzige Spielerei mit Raum und Perspektive, Erwartungshaltung und Sehgewohnheiten des Betrachters. Es ist dieses Experimentieren mit Formen und Material, das Andreas Theurer immer wieder fasziniert.

Ich möchte abschließend noch auf die drei kleinen Plastiken "Verhüllt I-III" hinweisen. Sie scheinen ebenfalls der Konkreten Kunst zuzurechnen - als Inszenierung gegenläufiger Strukturen, als verschiedene Versuche zu überlappenden, sich öffnenden Flächen. Und doch sind es abstrakte Figuren, reduziert aus der Darstellung dreier verhüllter Frauengestalten. Andreas Theurer rechnet sie seinen vielen starken Frauen zu, die er immer wieder dargestellt hat. Und an diesem Punkt können wir morgen nahtlos anknüpfen - mit Betrachtungen zu Theurers "Europa", zu seiner "Cassandra", zu Schwarzenbachs "Marianne Brandt" und zu ihrer "unbekannten Prominenten", der Oberhofmarschallin Benedikta Margaretha Freifrau von Löwendal, die mit der Gründung eines Eisenwerkes in Lauchhammer 1725 als Unternehmerin die Industrialisierung der Niederlausitz betrieb.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar