„Sakrale Bildräume. Prof. Klaus Nerlich“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Augustinerkloster Erfurt, 6. August 2010, 16.00 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Fotografien Klaus Nerlichs empfangen uns hier im Erfurter Augustinerkloster – und lösen sicherlich auf den ersten Blick Irritation aus. „Sakrale Bildräume“ ist die Ausstellung überschrieben. Fotografien von Sakralbauten haben wir also erwartet – aber was sehen wir? Ist es der Blick in ein Kaleidoskop? Oder in eine Wahrsagerkugel? Sind hier Reptilien fotografiert? Oder einfach nur das Kruzifix über einem Altar – durch Bildbearbeitung ein bisschen aufgepeppt?

Nein, nein, nein, nein. Alles das trifft nicht zu. Was also sehen wir? Wir sehen auf den Bildern die Innenräume verschiedener Kirchen aus halb Europa. Doch statt uns die gewohnten Gestaltungshöhepunkte einer Kirche mit seinem Objektiv herauszupicken – Altarbild, Strahlenkranzmadonna, Orgelprospekt, Chorraum – spürt Klaus Nerlich in seinen Bildräumen der Entstehung von Raumeindrücken nach. Pro Kirche entstehen deshalb in der Rundumschau um die 50 einzelne Fotografien, die den gesamten Kirchenraum von der Apsis bis zum Westportal, vom Chorraum bis zur Orgelempore, quer durch die Vierung, vom Boden bis zum Deckengemälde, die Pfeiler entlang bis hinauf zum Kreuzrippengewölbe dokumentieren. Auf dem Computer werden diese perspektivisch isolierten Blicke zu einem einzigen Bild zusammengesetzt. So treten Grundgerüste von zum Teil hoher Symbolik im Bild hervor: So etwa das Kreuz als Grundriss von Saint Patricks oder des Petersdomes. Hier liegt bereits eine der künstlerischen Leistungen dieser Fotografien: Daß Kirchen in ihrem Grundriss die Gestalt des Kreuzes nachbilden, wissen wir im Prinzip. Dies aber in einer nur auf dem Wege der Kunst zu erreichenden Evidenz vor Augen zu führen, ist eine bemerkenswerte Besonderheit dieser Arbeiten. Wir werden auch auf die Symmetrien und Spiegelachsen aufmerksam, die im Sakralbau auf die göttliche Ordnung der Schöpfung verweisen. Denn durch die zum Teil exakten Entsprechungen etwa der Kirchenschiffe wirken manche Bildräume wie der eingangs erwähnte Blick in ein Kaleidoskop. Dennoch ist stets die ganze Kirche abgebildet, ohne Dopplungen und ohne Spiegelungen.

Die eigentliche Besonderheit der Bildräume von Klaus Nerlich freilich ist das hinter den Bildern stehende künstlerische Erkenntnisinteresse. Denn die Bildräume versuchen, das menschliche Sehen nachzuempfinden: Wenn wir sehen, sehen wir ein noch kleineres Feld genau und scharf, als es das Objektiv einer Kamera fokussieren kann. Dennoch haben wir – in einem Raum, in einer Landschaft, auf einem Platz oder in einer Gruppe von Menschen – den Eindruck, alles um uns herum – das ganze Blickfeld – wahrzunehmen. Was wir aber wahrnehmen, ist als ein aus unzähligen Einzelbildern entstandener Gesamteindruck immer erst die Leistung unseres Gehirns. Sie wissen: Das Gehirn dreht zunächst um 180° die Bilder, die falsch herum auf unserer Netzhaut erscheinen. Sodann werden einzelne fixierte Punkte zu einem Gesamteindruck zusammengesetzt. Ein Raum „wirkt auf uns“, wie wir dann auch sagen. Dabei selektiert das Auge auch, bemerkt bestimmte Farben zuerst, bestimmte Formen mit Vorliebe, und bekannte Gestaltungsschemata werden rascher erfasst.

Wichtig für das Sehen ist auch der Gleichgewichtssinn im Ohr. Mithilfe des Vestibularorgans kann unser Gehirn in jedem Augenblick die Richtung der Schwerkraft bestimmen und so unserer Perspektive auf einen Raum Rechnung tragen. Dadurch „kippen“ Gebäude, an denen wir aufschauen nicht, wie das auf Fotografien der Fall ist, die wir an einer Fassade empor aufgenommen haben. Bei der Umschau in einem Raum oder im Wald ordnet unser Gehirn die perspektivischen Bilder zu einem Raumeindruck.

Das Thema „Bildräume“ beschäftigt Klaus Nerlich seit etwa zwei Jahren. Wie Sie wissen, ist er mit einer Augenärztin verheiratet, so daß sich in den „Bildräumen“ tatsächlich wissenschaftliches, künstlerisches und handwerkliches know-how auf überaus glückliche Weise verbinden und ergänzen. Daran dürfte auch Frau Dr. Nerlich ihren Anteil haben. Das Thema jedenfalls packte Klaus Nerlich nach einer Naturfotografie, als er aus einem Krater heraus ans Tageslicht fotografierte und die entstandenen Bilder am Computer zu einem Panorama zusammensetzte. („Panorama“ heißt ja übrigens einfach „alles sehen“, griechisch pan – alles; horama – das Sehen, der Anblick – „Panorama“ also „der ganze Anblick“.) Anfangs läßt Nerlich nach der Überlagerung der Perspektiven die Bilder als Einzelfotos stehen: Ecken und Kanten bleiben, untereinander transparent, auf schwarzem Hintergrund sichtbar und geben dem Gesamtbild die Gestalt eines ungeschliffenen Minerals. Obwohl sie auf faszinierende Weise 100 Farben spiegeln, kommen diese Bilder eher sperrig daher, ein wenig störrisch, ungeglättet. Klaus Nerlich vervollkommnet seine Arbeiten mit der Zeit mehr und mehr. Er schleift gewissermaßen die Diamanten, die er Natur und Architektur abringt und fängt unseren Blick in neuen, überirdisch-gekrümmten Räumen (Sie wissen, daß Albert Einstein immer davon sprach, daß die Gravitationskraft den Raum krümmt. Wie auch immer man sich das vorzustellen hat – wenn man die Bildräume von Professor Nerlich betrachtet möchte man sagen: Ach so! Klar – der gekrümmte Raum! Sehen wir hier etwa die Welt, wie sie wirklich ist?) Die Entstehung der mehrdimensionalen Räume jedenfalls hinterlässt mittlerweile im Bild keine Spuren mehr. Keine Einzelbilder sind mehr zu unterscheiden, die Illusion des neuen Raumeindrucks ist perfekt, wir können eintauchen in völlig neue Dimensionen der Weltwahrnehmung.

Machen wir nun einen kurzen Ausflug in die Welt der Fotografie jenseits dieser Arbeiten hier. Der Ausflug soll wirklich ganz kurz sein, denn viel Interessantes ist in der Welt der Bunten Bilder leider nicht zu holen: Die Jahrbücher des Bundes Freischaffender Fotodesigner (BFF) etwa zeigen auf jährlich 500-750 Seiten eine große Anzahl städtischer Fotografien, jedoch immer die nur allzu bekannten Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, die Skyline einer Megalopolis. Unerschöpflich scheinbar auch das Thema Mode und Erotik sowie Versuche, das Ausgegrenzte sichtbar zu machen: Behinderung und Krankheit, Kindheit und Alter, das Häßliche, das Dicke oder das gar zu Dünne, Armut, Fremde, andere Kulturen. Daneben natürlich eine Unzahl fotografierter Autos – und hier ist tatsächlich der einzige Punkt, an dem die Überlagerung von Bildern, wie wir sie in der Kunst von Klaus Nerlich sehen, zu finden ist: Zur Darstellung von Bewegung und Geschwindigkeit wird Unschärfe und Bildüberlagerung genutzt, sowie zur Erzeugung gänzlich inhaltsleerer changierender Farbflächen.

Wo ist außer bei Klaus Nerlich die Kunst in der Fotografie? Die Juroren des BFF-Award bedauern denn auch den Stand der fotografischen Kunst, die es beispielsweise 2010 nicht zuließ, einen Ersten Preis im Wettbewerb des BFF zu vergeben. „Mir fällt auf“, so klagt beispielsweise einer der Juroren in seinem Statement zur Preisverleihung, „wie wenig freudig die Bildwelt geworden ist, und wie trist teilweise komplette Kategorien des BFF- Jahrbuchs aussehen. Vielleicht“, so sinniert er weiter, „vielleicht haben wir es hier mit einem Ausdruck von Zeitgeist zu tun – was nicht gerade für unsere Zeit spräche.“ Welch grundstürzende Erkenntnis! Zur Nachbearbeitung von Bildern am Computer äußert sich ein anderes Mitglied der Jury: „Die Postproduktion an sich ist ja nichts Neues – nachgearbeitet wurde auch in der Dunkelkammer schon, das ist nur durch die digitalen Werkzeuge viel einfacher und weitreichender geworden. Doch anstatt diese Möglichkeiten in Fantasie und Kreativität umzusetzen, machen viele Fotografen ihre Bilder bloß technisch unangreifbar, und damit gleichzeitig seelenlos.“

Es hat doch ganz den Anschein, als sei der Foto-Award des Bundes Freischaffender Fotodesigner nur zu retten, wenn sich Klaus Nerlich endlich einmal mit seinen Bildräumen um den ersten Preis bewirbt. Seit 1991 hat Klaus Nerlich eine Professur für Gestaltung am FB Architektur der FH Erfurt inne. Er fotografiert also frei von Erfolgsdruck auf diesem Gebiet. So kann er sich denn auch getrost dem Zeitgeist widersetzen und z.B. Sakralbauten thematisieren, die von spirituell reicheren Zeiten künden. Seinen Arbeiten liegt kein Antrieb zugrunde außer dem genuin künstlerischen. Und das sieht man Bildern eben an.

Denn selbstverständlich sind auch die „Bildräume“ ohne Bildbearbeitung undenkbar: Die Bildgrößen müssen genau angepasst und die Einzelperspektiven in die Winkel des Gesamtbildes hinein verzerrt werden. Doch die Bildbearbeitung erschöpft sich nicht in der Brillanz und handwerklichen Perfektion des fertigen Werkes. Bei aller Detailgenauigkeit gehen die Bildräume über die bloße Dokumentation der Sakralbauten hinaus. Statt der Abbildung finden wir die Neuschaffung von Räumen. An die Stelle der informierenden Dokumentation ist die inspirierende Illusion getreten. Das objektivierte Sehen macht dem subjektivierten Schauen Platz.

Der Schriftsteller Elias Canetti hat in seiner großen anthropologischen Studie „Masse und Macht“ die atavistische Wirkung des Aufschauens in Kirchenräumen beschrieben. Die Wurzel der Sakralbauten sieht er im dichten Wald:

Der Wald ist „zum Vorbild der Andacht geworden“, heißt es da. „Er zwingt den Menschen aufzuschauen, dankbar für seinen überlegenen Schutz [dem Blätterdach]. Das Hinaufschauen an vielen Stämmen wird zu einem Aufschauen überhaupt. Der Wald baut dem Kirchengefühl vor, dem Stehen vor Gott unter Säulen und Pfeilern. Sein gleichmäßigster und darum vollkommenster Ausdruck ist die Wölbung des Doms, alle Stämme in eine höchste und untrennbare Einheit verflochten.“

Soweit Elias Canetti. Die „Bildräume“ Klaus Nerlichs erheben uns, indem wir sie auf uns wirken lassen, aus der Tristesse des Alltäglichen wie des Grotesken. Wir erkennen nicht einzelne, fixierte Punkte, die wir auf ihre informationelle Verwertbarkeit zu überprüfen und verstandesmäßig zu verarbeiten gewohnt sind. Vielmehr geraten wir ins Staunen über die in den Sakralbauten veranschaulichte Größe Gottes. Die „Sakralen Bildräume“ erheben uns in ihrer Veranschaulichung des Erhabenen.

Vielen Dank!

 

 

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar