„Komm’S rin - könn’Se rausgucken“: Nänzie. Figuren/Collagen

Rede zur Ausstellungseröffnung

Erfurter Kunsthaus, 12. September 1997

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mit dem Puppenspielen fing es an. Mit dem Puppenspielen als Mädchen, mit dem An- und Ausziehen, Verkleiden, Kostümieren der Puppen. Mit den Szenarien, in die ein spielendes Kind die Puppen stellt, für die es Sprache erfindet und Stimmen, Worte und Begegnungen, Orte und innere Erfahrungen.

In der traditionellen feministischen Theorie – mittlerweile kann man ja auch in Bezug auf die feministischen Gesellschaftstheorien schon von Traditionen sprechen – wird es bekanntlich angeklagt, das Mädchen-Mit-Puppen-Spielen-Lassen: Es sei nur zu dem einen Ziele da, heißt es bei den Hard-Linerinnen, die später von den Frauen zu erfüllenden Rollen schon bei den Mädchen einzuüben: die Fürsorge und das Hilfeleisten.

Doch die Tradition des Welt-Erfindens mit und durch Puppen birgt einen kreativen, und zum Teil auch einen revolutionären Impuls. Wenn ein Mädchen mit Puppen spielt, wenn sie Figuren erfindet, spielt sie eben nicht notwendig nur nach, was sie bereits erlebt und gesehen hat. Wer Rollen nachspielen soll, kann auch neue Rollen erfinden. Wer durch das Puppenspiel den Zusammenhang von Kleid und Charakter begriffen hat (das Stichwort ”Kleider machen Leute" erwähnte die Künstlerin selber, als sie mir heute diese Hintergründe ihrer Kunst anvertraute), wer die Möglichkeit der Bekleidung und der Verkleidung begriffen hat, inneren Zuständen einen äußerlich sichtbaren Ausdruck zu verleihen, der kann beginnen, das Spiel zu überschreiten und neue Lebenswelten in einer plastischen Kunst der Figuren und der scheinbaren Ready-Mades zu entwerfen.

Diese Überschreitung hat Nänzie, deren Plastiken das Erfurter Kunsthaus ab heute für vier Wochen zeigt, vollzogen. Sie hat sie so weit vollzogen, daß die Herkunft ihrer Kunst aus dem Puppenspiel und dem Puppen-Machen nur noch in wenigen Arbeiten sichtbar ist – und wohl nur sichtbar ist, wenn man von dieser Herkunft weiß.

Am 17. März 1962 wird Nänzie als Sybille Reichert in Boxberg an der Umpfer – zwischen Heidelberg und Würzburg – geboren. Das nächste, was ich von ihr weiß, ist, daß sie ab 1983 in Berlin lebt, am Schillertheater hospitiert, 1985 Mitglied der Künstlergruppe ”Gras fressen" wird und zwischen 1986 und 1989 an Modellierkursen der europäischen akademie Trier teilnimmt. In diese Zeit – 1987 – fällt ihre Aufnahme in der Bundesverband Bildender Künstler. sie wird Mitglied in der Künstlergruppe Deadline, hospitiert 1990 an der Deutschen Oper Berlin und absolviert ein Praktikum in der Bildgießerei bei Noack in Berlin. 1990 immatrikuliert sie sich im Fach Bildhauerei bei Professor Schmettau, deren Meisterschülerin sie 1996 wird, an der Hochschule der Künste Berlin. Weitere Praktika in Gipsformerei und Bildgießerei an den Staatlichen Museen Berlin und noch einmal bei Noack schließen sich der Immatrikulation an. Die Teilnahme am Studentischen Symposium im Zentrum der Polnischen Skulptur, Oronsko, bringt die erste Ausstellung ihrer Werke im Ausland mit sich. Daneben war Nänzie unter anderem bei der letztjährigen Messe im Frauenmuseum Bonn zu sehen, wo Tely Büchner und damit das Erfurter Kunsthaus auf ihre Kunst aufmerksam wurde.

Das Puppen-Herstellen war für Nänzie der Übergang vom Kinderspiel zur Kunst. Feste Szenarien werden nun, in dieser Kunst, nicht mehr entworfen. Die Figuren werden nicht mehr festgelegt auf Erfahrungen, Orte und Stimmen, die ihre Schöpferin für sie erfindet. Was bleibt, ist das Identitätsangebot, das Identifikationsangebot, das die zum Teil extrem individuell stilisierten, zum Teil aber auch sehr puppenhaft-typisierten Figuren ausstrahlen. Was aus dem Puppenspiel herübergerettet ist in die Kunst, ist das Rollenerfinden, Bildererfinden, Gesten des Ausdrucks-Erfinden, das die im Konzept sehr homogene, im Detail so wahnwitzig heterogene Kunst Nänzies auszeichnet.

„In der Abenddämmerung“ hat Nänzie die Götterdämmerung betitelt, in der sie vor dem Hintergrund eines kulturhistorischen objet trouvé Bilder von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ in ihrer Historizität zeigt und neue Bilder der Weiblichkeit in der Kunst entwirft. (Die heute gültigen Bilder von „Männlichkeit“ zu entwerfen, hat ihr die Werbung und das amerikanische Kino bereits vor Jahrzehnten abgenommen). Den Hintergrund von „In der Abenddämmerung“ nehmen Abbildungen griechischer Statuen ein, auf denen diverse Adonis- Gestalten und Bacchanten im griechischen Ideal von harmonischem Körperbau und harmonischer Körperhaltung präsentiert werden. Den heutigen Betrachter verblüfft eine Darstellung, die einen männlichen Gott mit lasziv hinter dem Kopf verschränktem Arm und wiegendem Körper zeigt: Es ist eine der klassischen Gesten der Ergebenheit – die Arme hebt, wer sich ergibt – wie sie in einer so geschmeidigen Ausprägung derzeit ausschließlich der weiblichen Körpersprache vorbehalten ist. Den harmonisch-wiegenden Bewegungsabläufen, dem lasziv-ergebenen Gestus, den die Bilder der Statuen ahnen lassen, stellt Nänzie vier Gipsfiguren von Frauen gegenüber. Um genau zu sein: Nur inhaltlich stellt sie die Frauenfiguren den Götterstatuen gegenüber. Räumlich stellt sie sie im plastischen Kunstwerk davor, was eine zeitliche Ordnung andeuten kann: Die Frauenfiguren sind uns historisch näher als die griechischen Gottheiten. Es kann aber auch eine Wertigkeit implizieren: Die Frauenfiguren sind für uns, in unserer Zeit wichtiger. (Diese Wertigkeit könnte auch der Tatsache ablesbar sein, daß die Gipsfiguren für uns wirklich greifbar sind, die Statuen hier im Werk nur als Abbildung existieren.) Vier Frauenfiguren jedenfalls, die vor allem Selbständigkeit ausstrahlen, zum Teil Selbstgenügsamkeit demonstrieren, zum Teil Aggression oder zumindest Wehrhaftigkeit. Die Bilder typisch weiblichen Verhaltens, wie sie für unsere Mütter noch sehr verbindlich galten, werden in „In der Abendämmerung“ perfiderweise durch antike männliche Figuren dargestellt, von denen sich moderne Entwürfe von Weiblichkeit abheben.

Immer wieder spielt Nänzie in ihren Kunstwerken mit kunst- oder kulturhistorisch tradierten Begriffen, Figuren und Symbolen, um das Bekannte zu unterlaufen und durch die verblüffenden Effekte ihrer tabuverletzenden Kunst neue Möglichkeiten von Ausdruck und Verhalten erkennbar zu machen. „Miss Europa“, ein Kunstwerk, das in seinem Namen alle langbeinigen Schönheiten zwischen „Miss Germany“ und „Miss World“ abruft, „macht die Stiere wild“: Miss Europa, ob Schönheitskönigin oder nicht, ist nicht mehr das verführte und verführbare Mädchen, das sich wider Willen und sogar ohne ihr Wissen mit dem göttlichen Zeus in Stiergestalt paaren muß. Wir haben hier ein Gesicht vor uns, das die Puppenmaske wie eine dunkle Brille nach oben in den Haaransatz geschoben hat, um klarer sehen zu können, wem es begegnet. Ihr eines Auge fehlt der „Miss Europa“. Fehlt es ihr, wie dem Kopf der Nofretete? „Es schaut nach innen“, sagt die Künstlerin selber. Vielleicht ist es aber auch – wie das Auge des germanischen Gottes Wotan – verkauft worden, als Preis für göttliche Weisheit.

Ein anderes Auge Gottes, das Auge, das als Symbol des jüdisch-christlichen Gottes Jahwe in ein Dreieck gemalt in der Kunstgeschichte auftaucht, erscheint bei Nänzie um 180° gedreht, zur Vulva aufgerichtet, im Dreieck, das auch den weiblichen Schoß symbolisiert, auf der Figur der „Amazone“ im oberen Stockwerk, und nochmal in „Unser Geheimnis“, dem Pastell, das die Amazone abbildet. Auch hier finden wir, gepaart mit der Ästhetik von archaischer Stammeskunst, bekannte Symbole verkehrt und für neue Lesarten freigegeben.

Nur scheinbar widersprüchliche Attribute werden in der Figur der „Lady Zahnbürste“ kombiniert. Die Krone der Freiheitsstatue spiegelt sich über einem taucherbebrillten Gesicht in sich selber, die abgewandten, aber entblößten Brüste und ein Dildo über Bergsteigersocken offenbaren ein höhnisch gef’ärbtes Bild einer derzeit proklamierten neuen Freiheit, deren Charakter durch die Fotografie am Rücken der „Lady Zahnbürste“ vollends bestimmt wird: Dort klebt die aus den Printmedien bekannte Abbildung einer virtuell zu allem bereiten, nie aber leibhaftig greifbaren Cybersex-Partnerin.

Ich möchte es bei diesen Anregungen möglicher Lesarten von Nänzies Kunst belassen und sie nicht länger von der eigenen Betrachtung und Assoziation abhalten. Ich wünsche Ihnen einen interessanten Abend und der Ausstellung ein gutes Gelingen: Zumal die derzeitigen Ausstellungen ohne offizielle finanzielle Basis zustande kommen und einzig und allein auf der Privatinitiative der Kunsthausfrauen, vor allem Tely Büchners, beruhen! Das sollte man durchaus im Hinterkopf haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker