„Gemälde und Skulpturen von Gaetano Fiore und Sybille Nänzi Reichert“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Glasbau des Rathauses der Stadt Boxberg, 26. Mai 2000

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Generation ICH“ – unter diesem Motto subsumiert ein großes deutsches Zeitgeistmagazin in seiner aktuellen Ausgabe die überindividuellen Auswirkungen der Individualisten-Revolution vor gut dreißig Jahren: „Die 68er regieren und ihre Kinder gründen Unternehmen“ – so der provokative Aufmacher der Titelgeschichte, der die Inversion einst hehrer gesellschaftlicher Ideale einer Jugendbewegung postuliert.

Es ist nur wenige Heft-Nummern her, da war einem Kern der 68er-Bewegung, nämlich dem Feminismus, ein ähnliches Urteil gesprochen worden: In einem Interview derselben Zeitschrift mit Germaine Greer, einer Feministin der „ersten Stunde“, wurde die These entfaltet, zwar lohne sich weiter für die Würde und die Rechte der Frauen zu kämpfen, aber „die Frauenverachtung nimmt zu“. Die ganze Frau – es gebe sie nicht und könne sie strukturell in einer nach wie vor von Männern dominierten Gesellschaft nicht geben, so das bedauerliche Fazit des jüngsten Buches der Interviewten, Greer. – Ein Fazit, mit dem Sybille Nänzi Reichert sich nicht abfinden kann und will.

Mit Sybille Nänzi Reichert stellt die Stadt Boxberg eine Künstlerin aus, deren Arbeiten ohne den Hintergrund der gesellschaftlichen Hemmnisse und Deformationen weiblicher Lebensmöglichkeiten nicht zu verstehen sind. In immer neuen Konstellationen und Ausformungen läßt ihre Kunst Frauenfiguren entstehen – Gegenbilder zu den Stars und Sternchen der Mode- und Medienwelt, deren überschminkte Münder Foto für Foto tapfer über ihre Kunstkörper aus Magersucht und Silikonimplantaten hinweglächeln.

Ehrlicher ist es da, wirkliche Kunstkörper zu schaffen und offen als solche zu deklarieren: Verkörperungen selbstverwirklichter weiblicher Identitäten, zu sich selbst gekommener Frauengestalten – wehrhaft und weich, munter und mutig, zugleich offen und in sich ruhend – und selbstverständlich in ihrer Würde unantastbar. Taubenmarie oder Windsbraut heißen sie, diese wünschbaren Frauengestalten, diese von Nänzi geformten Kunst-Figuren, die sich der virtuellen Natürlichkeit der medialen Welt entgegenstellen. Der Rückgriff auf „Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, ist dabei durch der Betitelung der Werke unüberhörbar: Ja, es gibt sie noch, unsere unverwüstlichen Träume von magischem Wissen und übernatürlicher Seelenkraft, von zauberischer Wirkmächtigkeit und der spezifischen Autorität eines selbstbestimmten weiblichen Lebens.

Es ist kein Zufall, daß uns Namen aus Märchen- und Sagenstoffen in den Figuren Sybille Nänzi Reicherts wiederbegegnen. Denn mit dem Puppenspielen fing es an. Mit dem Puppenspielen als Mädchen, mit dem An- und Ausziehen, Verkleiden und Kostümieren der kindgerechten oder fraulichen Kunstkörper. Mit den Szenarien, in die ein spielendes Kind seine Puppen stellt, mit der Sprache, die ein Kind für seine Welt erfindet, mit deren Stimmen und Worten, Orten und Begegnungen, Abenteuern und inneren Erfahrungen war der Grundstein zum künstlerischen Programm Sybille Nänzi Reicherts gelegt.

Die traditionelle feministische Theorie beklagt bekanntlich, wenn Mädchen mit Puppen spielen. Wird doch im Puppenspiel nur das Erziehungsziel erkannt, die Mädchen früh in ihre später als Frauen zu erfüllenden Rollen einzuüben: in das fürsorgliche Helfen und Bemuttern.

Doch die Tradition des Welt-Erfindens mit und durch Puppen birgt eben auch einen subversiven Kern: Wenn ein Mädchen mit Puppen spielt, wenn sie Figuren erfindet und Rollen verteilt, dann spielt sie eben nicht notwendigerweise nur nach, was sie bereits erlebt und gesehen hat. Wer Rollen nachspielen soll, kann auch neue Rollen erfinden. Wer durch das Puppenspiel den Zusammenhang von Kleid und Charakter begriffen hat, wer in Bekleidung und Verkleidung als Möglichkeit erfaßt hat, inneren Zuständen einen äußerlich sichtbaren Ausdruck zu verleihen, der kann beginnen, das Spiel zu überschreiten und neue Lebenswelten in einer plastischen Kunst der Figuren zu entwerfen.

So ist die raumgreifende Gestik der Windsbraut ebenso Programm wie etwa die ausgestellten Hände des Häwi Mädel (II): Die Figuren, die Nänzi schafft, stehen fest mit beiden Beinen auf dem Boden – wörtlich oder metaphorisch verstanden. Die Körpersprache der abweisenden, ausgestellten Hände macht dabei dem Betrachter begreiflich: Sieh dich vor, ich werde mich wehren – gegen Zuschreibungen, gegen Zumutungen, gegen Zustände, die ich nicht ertragen kann oder will. Da ist sie: die „ganze Frau“ – da wäre sie, in solchen Figuren, zum Leben erweckt – unüberhörbar laut wie die Wucht ihrer grellbunten Körperlichkeit, unüberhörbar leise wie die präsente Wachheit ihres geistigen Ausdrucks.

Nicht gegen die führenden Trends der zeitgenössischen Kunstszene gearbeitet, sondern schlicht abgekoppelt von den herrschenden Diskursen geben die Figuren Nänzis Zeugnis von der ungeheuerlichen Willenskraft der Künstlerin, der Welt, wie sie erlebt wird, zu trotzen. Indem sie den Figuren Raum gibt, zu ent-stehen, gibt die Künstlerin sich selbst Raum, ganz individuellen Ausdruck für Verletzungen, Schmerz, Lust und Begehren zu finden.

Es ist diese Eigenständigkeit des künstlerischen Ausdrucks, dieses Fehlen eines wie auch immer gearteten vorgefertigten konzeptionalistischen oder naturalistischen Programms, das der Meisterschülerin des Berliner Kunstprofessors Joachim Schmettau in den letzten Jahren immer wieder Förderstipendien eingetragen hat.

Am 17. März 1962 hier in Boxberg geboren, zieht Sybille Reichert, genannt Nänzi, 1983 nach Berlin. Auf autodidaktischem Wege entwickelt sie ihre Puppen-Figuren weiter, an denen sie seit 1981 arbeitet. Praktika unter anderem am Schillertheater und der Deutschen Oper Berlin sowie einer Bildgießerei lassen sie professionelle künstlerische Erfahrungen sammeln, bevor sie 1985 zur Künstlergruppe „Gras fressen“ hinzustößt. Modellierkurse an der Europäischen Akademie Trier schließen sich 1986-89 an, und 1990 kann Nänzi ein Studium an der Hochschule der Künste Berlin in der Bildhauerklasse von Professor Schmettau aufnehmen. Nachdem sie 1995 die Absolventenprüfung mit besonderem künstlerischen Erfolg ablegt, ernennt Schmettau sie 1996 zu seiner Meisterschülerin. Symposien in Oronsko, Polen 1994 und im ehemaligen Sperrgebiet Wünsdorf erweitern den künstlerischen Horizont ebenso wie die Arbeit im Heimatmuseum und im Puppenmuseum Neukölln. Seit einem halben Jahr arbeitet Nänzi neben ihrer freischaffenden künstlerischen Tätigkeit als Bühnenbild- und Kostümassistenz im Theater Saalbau Neukölln, Berlin.

Das Puppen-Herstellen ist für Nänzi der Übergang vom Kinderspiel zur Kunst. Feste Szenarien werden nun, in dieser Kunst, nicht mehr entworfen. Die Figuren werden nicht mehr festgelegt auf Erfahrungen, Orte und Stimmen, die ihre Schöpferin für sie erfindet. Was bleibt, ist das Identitätsangebot, das Identifikationsangebot, das die zum Teil extrem individuell stilisierten, zum Teil aber auch sehr puppenhaft-typisierten Figuren ausstrahlen. Was aus dem Puppenspiel herübergerettet ist in die Kunst, ist das Rollenerfinden, Bildererfinden, Gesten des Ausdrucks Erfinden, das die im Konzept so homogene, im Detail so heterogene Kunst Nänzis auszeichnet.

Mit ihren Bezügen zu einer „Ästhetik des Häßlichen“, die ihr von dem Kunsthistoriker Bernhard Kerber bescheinigt werden, durchbricht die Kunst Sybille Nänzi Reicherts die Selbstreferentialität und Selbstdefensivität der herrschenden ästhetischen Diskurse. Die Weiblichkeitsmodelle von Marilyn Monroe und Brigitte Bardot sind in den Medien noch immer nicht abgelöst worden. Im Gegenteil: Die Ideale der vor allem nach Oberweite taxierten Frauengestalten werden in Bildschirm-Figuren wie Lara Croft, dem Spielzeug der Internet-Generation, munter fortgeschrieben. Hiergegen setzt Nänzi ihre so neuen, so alten Skulpturen, Figuren, die - zum Teil selbstgenügsam, zum Teil aggressiv oder zumindest wehrhaft – vor allem eines ausstrahlen: Selbständigkeit und ein Selbst-Bewußtsein des ganz besonderen, ganz spezifischen Wertes der eigenen Person und ihrer Körperlichkeit. Aus der Reaktion gegen verletzende Zustände der Gesellschaft kann so neue Aktion und eigenständiges Leben erwachsen.

Die Frauenbewegung – in Sybille Nänzi Reicherts Kunst wird sie weitergedacht, hier wird weitergekämpft für die von Ina Deter einst besungene „Hälfte der Welt“: mit künstlerischen Mitteln für ein freieres Leben – freier von vorgeformten Rollen und ihren Repressionen, freier von struktureller Gewalt und vor allem freier von Angst.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers