„Armin Müller-Stahl. Lithografien“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunsthandlung in der Marktstraße, Erfurt, 8. Dezember 2004, 19.00 Uhr

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie zur Ausstellung von Lithografien Armin Müller-Stahls hier in der Kunsthandlung Marktstraße. Wir sehen uns umgeben von Tusche- und Graphitzeichnungen, deren Stil letztendlich auf die Generation Picassos zurückgeht (Picasso ist jedenfalls der Gewährsmann von Armin Müller-Stahl selber, wenn er sich seiner eigenen ästhetischen Maßstäbe versichert, das geht aus Aufzeichnungen hervor). Auffallend ist, dass der Großteil der Blätter nicht nur signiert ist, sondern mindestens auch seinen Titel in sich trägt – dies gilt vor allem für die Blätter aus der Reihe „Night on Earth – Day on Earth“, die im Kontext des gleichnamigen Kinofilms 1991 entstanden. Armin Müller-Stahl verlieh in diesem Film einem New Yorker Taxifahrer Gestalt. Den Zeichnungen sind aber häufig noch weitere Textteile beigegeben, die wie das Motto eines barocken Emblems die Zeichnung erklären oder zumindest ergänzen. Wir müssen nicht bis in voraufklärerische Zeiten zurückblicken, um auf solche Zusammenstellungen und gegenseitigen Erläuterungen von Text und Bild zu stoßen. Wir alle kennen sie aus dem Alltag, denn auch Werbeanzeigen und Plakate funktionieren nach diesem Prinzip: Ein Text ist Ausgangspunkt eines Bildes, das den Text veranschaulicht, häufig aber auch ohne den Text nicht verständlich wäre. In diesem Sinne sind auch in den Zeichnungen von Armin Müller-Stahl die Texte unerlässlich. Sie reichen von den erwähnten Filmtiteln bis hin zu ganzen Gedichten oder volkstümlichen Reimereien (sie können durchaus auch von Müller-Stahl selber stammen, das müsste man von Bild zu Bild genau recherchieren) wie dem Vierzeiler „Das ist das Gute an der Dummheit“. Die Relevanz des Wortes für das Bild ist auch der Tatsache abzulesen, dass die Bildtitel häufig wie ein Incipit (wie ein Zeilenanfang eines Liedes oder einer kirchlichen Epistel) einfach den ersten Wörtern der Textzeilen entsprechen (Sie kennen das aus Volksliedern: Macht hoch die Tür ist der Anfang der ersten Liedzeile und verleiht dem ganzen Lied den Titel. Alle Vögel sind schon da etc.) Beispiele sind aus der Reihe Night on Earth „This city is not a concrete jungle“ (... „it ist a human zoo”) oder “There’s no more sophistication“ (…”in New York than in any other city of the world“). Es wirft ein erhellendes Licht auf die Bildende Kunst des Wortmannes Müller-Stahl, dass die Zeichnungen doch häufig wie Studien zu wortgebundenen Situationen wirken, mit denen Müller-Stahl sich in jedem neuen Drehbuch auseinander zu setzen hat.

Was sage ich. Der Mann des Wortes Müller-Stahl: Eigentlich ist er ja Musiker, nämlich Geiger. Armin Müller-Stahl wurde am 17.12.1930 als drittes von letztendlich fünf Kindern in Tilsit geboren und wuchs mit einer kurzen Unterbrechung in Prenzlau auf. Im Alter von sechs Jahren erhielt er von seiner Mutter eine Geige und seinen ersten Musikunterricht und hat das Musikstudium im Alter von 23 Jahren tatsächlich erfolgreich abgeschlossen. Parallel zu diesem Studium freilich hatte er begonnen, Schauspielunterricht zu nehmen und eben auch bereits zu malen. Ab 1953 ist er Mitglied des Ensembles der Berliner Volksbühne. Der Brotberuf als Schauspieler steht damit fest. Müller-Stahl heiratete im Alter von 43 Jahren eine Ärztin und hat einen Sohn, der derzeit schon in die Fußstapfen des Vaters tritt und in Filmen mitwirkt. Armin Müller-Stahl ist mittlerweile in über 400 Filmen zu sehen. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1979 gehörte er schon zu den populärsten Schauspielern der DDR (vergleichbar wohl nur noch mit Manfred Krug) und hatte es 1974 für seine Rolle in Jakob der Lügner bereits zu Auszeichnungen und einer ersten Oscar-Nominierung gebracht (andere folgten). Für seine Darstellungen in Filmen wie Oberst Redl oder Lola erhielt er jeweils den Bundesfilmpreis. Ganz oben im Filmgeschäft angekommen aber ist ein Schauspieler heutzutage ja erst, wenn auch US-amerikanische Produzenten auf ihn aufmerksam werden. Auch dies geschieht bei Müller-Stahl bekanntlich Mitte der 80er Jahre. Er lebt heute eine große Zeit des Jahres in Los Angeles. Einen großen Popularitätsschub verlieht ihm in Deutschland zuletzt seine Darstellung des Thomas Mann in Breloers dokumentarischem Film über Die Manns (2000). Das Buch Rollenspiel liegt unten zur Einsicht aus. In einem erzählerischen Zwischenraum zwischen Tagebuch und Kurzprosa reflektiert Müller-Stahl hier sein Leben während der Dreharbeiten zu den Manns und gibt den Texten auch Zeichnungen bei. In der Regel sind dies übermalte Seiten von bereits durchgespieltem Drehbuchtext, der wie ein Palimpsest hinter den Zeichnungen aufscheint und in Teilen lesbar bleibt.

Was den Menschen Armin Müller-Stahl aber vor allem auszeichnet, wird beim Überfliegen seiner Biografie sehr schnell klar: Es ist eine beispielhafte innere Unabhängigkeit, Beharrlichkeit und ein offenbar unerschütterlicher Glaube an sich selbst. Er bricht die Oberschule 1948 ab und zieht nach Westberlin um, scheitert aber bei der Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Musikhochschule. Die Konsequenz, die Müller-Stahl zieht, ist der private Geigenunterricht bei Prof. Mahlke und eine weiter Aufnahmeprüfung am Sternschen Konservatorium. Dieser zweite Versuch gelingt und das Studium wird wie erwähnt erfolgreich beendet. Der Schauspielunterricht, den er ab April 1951 genießt, endet im August desselben Jahres mit einem Hinauswurf aus der Staatlichen Schauspielschule. Man bescheinigt ihm einen Mangel an Begabung. Konsequenz: Er nimmt privaten Schauspielunterricht, ist wenig später festes Ensemblemitglied einer Berliner Bühne und in den 90er Jahren international einer der bekanntesten, wenn nicht der bekannteste deutsche Schauspieler. Aber Müller-Stahl bleibt innerlich weiterhin unabhängig. Obwohl er hohe Gagen erzielt, steht er immer wieder auch in Außenseiter-Projekten vor der Kamera – und schafft sich innere Freiheit von seinem Hauptberuf auch immer durch andere künstlerische Tätigkeiten: Nach wie vor hat er die Violine stets griffbereit – vorgestern betrat er die Bühne des DNT zur Herbstlese mit der Geige in der Hand - , und immer wieder ist es auch der Zeichenstift, der Armin Müller—Stahl in Skizzen oder ausgearbeiteteren Werken – auch in anderen Techniken wie Öl auf Leinwand – seine Gedanken zu ordnen und sein Leben und seine Eindrücke zu reflektieren hilft.

Armin Müller-Stahl scheint eine Gestalt zu sein, sagen wir: wie Goethe, ein genialer Dilettant im besten Wortsinne dessen, der alles versucht aus Freude an der Sache. Was in den Zeichnungen jedenfalls immer wieder auffällt, ist die ungeheure Belesenheit und kulturelle Beschlagenheit des Künstlers, die ihn befähigt, durch Auseinandersetzung mit konkreten künstlerischen Vorbildern oder Ikonographien des kulturellen Gedächtnisses wirklich bemerkenswerte Bildende Kunst zu schaffen, die auch einen wissenschaftlichen Diskurs nicht zu scheuen hätte: Die „Urfaust“-Mappe, beispielsweise, die hier in Einzelblättern zum Verkauf steht, nimmt auf ein Vorbild Bezug, das in den 80er Jahren Verbreitung fand: Die große Ausgabe des Ersten und Zweiten Teils der Tragödie, mit Bildern von Bernhard Heisig im Teil I und Max Beckmann im Teil II. Die Ausgabe wurde 1982 vom Leipziger Reclam-Verlag für die Büchergilde Gutenberg hergestellt, und bis in den Duktus der Strichführung hinein scheint mir ein kunstwissenschaftlicher Vergleich der Heisigschen und Müller-Stahlschen Fassungen lohnend zu sein. Blatt 5 der Mappe, die „Melancholie des Faust“, ruft thematisch unweigerlich das große Vorbild von Dürers Melencholia ab, das in der Kunstgeschichte schon zahlreiche Rezipienten gefunden hat. Totenkopf und Sanduhr sind hier die gängigen Symbole der Vergänglichkeit, die den Ausgangspunkt der Niedergeschlagenheit des mit gesenktem Kopf sinnierenden Menschen im Vordergrund bildet. Müller-Stahl reduziert diese Symbole auf den Totenschädel, wodurch dieser zum Sinnbild des wissenschaftlich analysierenden und sezierenden Faust wird, der bekanntlich „Ach! Medizin“ studiert hat. Der niedergedrückte, von Wissen übersättigte Faust übersieht die lebendigen Boten des Himmels, Engel die ihn umgeben, die Hand Gottes, die den Totenschädel berührt. In seinen Erläuterungen gibt Hans-Dieter Sommer dem Bild die „Gretchenfrage“ bei, das heißt die Verse aus dem Faust, die dessen Verhältnis zur Religion, zur „Rückbindung“ an Tradiertes und Altgewusstes berühren. Blatt 6 derselben Mappe, „Licht und Finsternis“ betitelt, zeigt einen lesenden Faust, der an einer Brille rückt. Durch die Art, wie der Lichteinfall einer Kerze das Gesicht des Faust erhellt, schafft Müller-Stahl es, dass Faust als auf einem Auge blind erscheint. Das ist sprichwörtlich und wird durch den beigegebenen Text noch einmal unterstrichen: „Flieh auf, hinaus ins weite Land, und dieses Buch von Nostradamus eig’ner Hand, ist es dir nicht Geleit genug?“ – Was er tut, statt wirklich hinaus zu gehen und sich für die Welt zu öffnen, ist, ein Buch zur Hand zu nehmen und sich wieder hinzusetzen, sich wieder alles nur anzulesen und zu denken.

Vor allem aber halte ich Müller-Stahl für einen Meister des Physiognomischen. Der Griesgram in „Hingabe und Verlust“ (Blatt 15) oder der Teufel (oder ist es die alte Marthe) in „Mephistofeles Rex“ (16), die klagenden Frauen (18). Dieses Blatt ist phantastisch: Die Frauen, die klagen („quid sum miser tunc dicturus“) und sich fürchten vor dem Jüngsten Gericht, die aber nicht beten – betende Hände sind geschlossen – sondern ihre Hände anschauen, ob sie sich auch nicht die Hände schmutzig gemacht haben: Das ist grandios gelungen, wenn man sagt, es ging darum, die Bigotterie des Volkes zu zeigen und die Kritik an der Amtskirche (nicht am Spirituellen oder Übersinnlichen, Religiösen! Aber an der Amtskirche) einzufangen, die ja einen nicht unbeträchtlichen Teil von Goethes „Faust“ ausmacht.

Ein Zitat von Armin Müller-Stahl wollte ich an den Schluß meiner Worte stellen, ein Zitat, das den Stellenwert des Zeichnens für den psychischen Gesamthaushalt des Schauspielers, aber auch für seine konkrete Arbeit in der Verkörperung von Charakteren verdeutlicht. Es ist ein Zitat aus der Zeit der Dreharbeiten zu der Dokumentation Die Manns. Die Physiognomien der Brüder Heinrich und Thomas Mann, so hält Müller-Stahl fest, verrieten ihren jeweiligen Platz in der Familie. „Es ist die innere Triebkraft, die Aufwärtsbewegung, die Thomas Mann auszeichnet. Ich versuche, ihn mit einem Strich zu zeichnen. Es funktioniert nicht. Man muß ihn stricheln, von unten nach oben, der Mund, die Nase, die Augenbrauen, alles will nach oben, erst so entsteht Ähnlichkeit. Anders bei Heinrich. Ihn kann man mit einem Strich zeichnen. Bei ihm geht alles abwärts. Der Mund, die Augenbrauen gehen nach unten. [...] Durch das Zeichnen lerne ich beide besser kennen.“ So sind denn auch die Skizzen zu den Musikern (Miles Davis etwa) oder zu Karl Valentin zu verstehen: als Annäherung an Menschen, die den Menschen Müller-Stahl interessieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Cornelie Becker-Lamers, Weimar