Mit Farbe. Friedrich Rittweger und Sabine Rittweger

Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Zahnarztpraxis Dr. Süß, Saalfeld, Freitag, 15. November 2019, 18 Uhr

Sehr geehrte Frau Dr. Süß, liebe Frau Rittweger, lieber Herr Rittweger, sehr geehrte Damen und Herren,

das Ehepaar Sabine Rittweger und Friedrich Rittweger sind nicht nur als mutige Gründungsmitglieder der Thüringer Sezession "D 206" bekannt, einer unabhängigen Künstlergruppe, die sich 1990 als Gegenentwurf zu den staatlichen Verbänden zusammenfand. Die beiden 1953 in Erfurt bzw. 1946 im Kreis Hildburghausen geborenen Künstler studierten beide Anfang bis Mitte der 70er Jahre an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sie stehen seit Jahrzehnten für eine Malerei, deren stetige Weiterentwicklung und Qualität u.a. 2014 durch die Vergabe des Kunstpreises der artthuer an Sabine Rittweger honoriert wurde.

Beide Künstler haben ältere und neuere Arbeiten für diese Ausstellung herausgesucht. Ich möchte zunächst etwas über Friedrich Rittwegers Werke zu sagen und mit den beiden Plastiken beginnen.

Friedrich Rittweger stellt lebensgroße Figuren auf, die aus kleinen Formaten hervorgegangen sind. Drahtgestelle sind hier mit Zeitungspapier umwickelt worden. Der Titel macht uns stutzig: "Germania" und "Marianne". Germania und Marianne sind die weiblichen Symbolfiguren Deutschlands und unserer französischen Nachbarn. Moment mal - das sollen Symbole der beiden Kulturnationen, der beiden wirtschaftlich starken Länder sein, die gemeinsam Kerneuropa bilden? Eine Provokation! Denn Friedrich Rittweger hat sie in Zeitungspapier ausgeführt. Das ist interpretationsfähig wie jeder Handgriff, wie jede Entscheidung, die ein Künstler zum Material, zu Form und Inhalt eines Werkes trifft. Die Figuren provozieren aufgrund der Diskrepanz von intendiertem Inhalt und dem Material, das zur Ausführung gewählt wurde. Man möchte sich fassungslos abwenden, wie jemand so etwas machen kann. Nationale Symbole pflegen doch vergoldet zu sein - oder wenigstens aus Marmor gehauen. Jedenfalls haltbar und wertvoll wie die Kronen und Amtsketten, mit denen man staatliche Würdenträger ausstattet, repräsentativ wie deren Amtssitze in Schlössern oder Rathäusern. Und nun - Zeitungspapier! Der Inbegriff des Vergänglichen - Goethe hat einmal gesagt, wenn man die Zeitung der vergangenen Woche liest, weiß man, wie man seine Zeit vertan hat -, der Inbegriff des Vorläufigen, des Schnellfabrizierten, des Marktschreierischen und Sensationslüsternen, das für überschaubares Geld oder sogar kostenlos allmorgendlich in unseren Briefkästen und zum Teil dann sofort im Altpapiercontainer landet. Aus diesem Stoff webt Friedrich Rittweger nicht einmal die Kleidung, sondern die Körper tradierter Nationalsymbole. Und auch noch hohl: Die Skelette aus Draht sind nur ummantelt. Das ist starker Tobak. Was soll das heißen? Hat der Begriff der Nation jede Substanz verloren? (Die Figuren sind hohl.) Hat er jeden Stolz verloren, jeden Wert und jede Belastbarkeit? Bei Rittwegers laveden Figuren ist man ja froh, wenn sie nicht umfallen. Sind die Nationen zu Schlagzeilen verkommen, zu politischen Parolen, die man ausspielt wie ein Trumpf-As, wenn es gerade in den Spielverlauf paßt? Dient die Idee der Nation nur noch dazu, um gewissermaßen die "Weihnachten-im Schuhkarton"-Pakete nach Rumänien auszupolstern? Oder als Lockfeuer im heimeligen Kachelofen? Die Figuren stammen jedenfalls aus dem Jahr 2006. Sie waren Rittwegers Beitrag zu dem Jahr, in dem Thüringen unter dem zweifelhaften Titel "Rendez-vous mit der Geschichte" der verlustreichen Schlachten bei Jena und Auerstedt gegen Napoleons Heer im Jahr 1806 gedachte.

Soviel zu den Figuren. Friedrich Rittweger zeigt außerdem Landschaftsmalerei. Um besser sehen zu können, wie wenig Form und Inhalt auch hier selbstverständlich sind, möchte ich ganz kurz und kursorisch die Entwicklung der Landschaftsmalerei revuepassieren lassen. Im Mittelalter gibt es keine Landschaftsmalerei. Die Landschaft ist symbolträchtige Umgebung in Heiligendarstellungen (Maria im Paradiesgarten mit Rose, Lilie, Erdbeere, Granatapfel), in Renaissance und früher Neuzeit dann der typisierte Blick aus dem Fenster (Fluß, Weg, Hügel, Stadt). Die niederländische Malerei im 17. Jahrhundert beginnt, den Menschen zur Staffagefigur in einer individualisierten Landschaft zu machen, die auch häßlich und verregnet sein darf. Der Himmel nimmt meist großen Raum im Bild ein. Das Wetter dient nämlich der Darstellung der Gestimmtheit des Kosmos. Man bildet die Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos ab (Gewitter und Schiffbruch). Dann gibt es die Zeit der mythologischen Darstellungen in heroischer Landschaft. Der Mensch soll vor der Erhabenheit der Natur erschauern - 18. Jh. Im 19. Jh. revolutioniert sich auch das, und zwar tatsächlich durchaus maßgeblich in der Weimarer Malerschule. Die Kunst soll nicht mehr ein erhabenes Gegenbild zum Alltagsleben sein, sondern ebendieses Alltagsleben zeigen - Naturalismus. Man beginnt, die Arbeit des einfachen Volkes abzubilden, Schäfer und Schafherden, Hirtinnen und Viehherden, vermodderte Wege mit Pfützen, einfache Behausungen und Kuhställe, Dörfer, nicht Schloßhöfe und Frauen bei der Kartoffelernte oder beim Ährenlesen. Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach war empört - aber es sollte sich als die Kunstrichtung erweisen, die sich durchsetzte.

Nun können wir schauen, wie wir Friedrich Rittwegers Arbeiten verstehen möchten. Heute steht schließlich alles zur Verfügung. Was finden wir wieder? Paradiesgärtlein fällt weg, Blick aus dem Fenster auch. Erhabene Natur - nicht wirklich. Die Werke stehen in der Tradition der impressionistischen Landschaftsmalerei, die Stimmungen einfängt. Zum Teil findet sich eine expressionistische Verfremdung der Farben. Jedenfalls aber finden wir den Blick für den Alltag der Menschen. "Slivoviz" zeigt eine Gruppe von Leuten auf einer Wiese, man trinkt, lehnt sich an den Baum, sitzt im Gras. Sommerstimmung. Muße. Urlaub. Geselligkeit. Eigene Erlebnisse während eines Künstleraustauschs nach Bulgarien stehen hier im Hintergrund, die Gruppe mußte sich damals den Weg auf die Wiese erst mit der Sense freimähen. Das Gemälde ist in Öl ausgeführt und mehrfach übermalt worden, bis es seine endgültige Gestalt erlangt hatte.

Die Scheunen oder Produktionsanlagen in "In der Nähe von Tambow" würde die Idee des Naturalismus aktualisieren, die Arbeitswelt der Menschen im Landschaftsbild darzustellen. Nicht mehr Herden und Ställe machten diese Arbeitswelt in der DDR der 80er Jahre aus, sondern Autos und Großanlagen.

Schneller gemalt und jeweils ein einmaliger Wurf sind die Aquarellbilder "Täler und Höhen", "Heide", "Am Wald", "Champagne". "Bergland" und "Roter Himmel" sind stark atmosphärisch geprägt. Hier ist die Farbe des Lichts zu den Randzeiten des Tages eingefangen. Die Sonne geht unter. Himmel und Berg scheinen in Flammen zu stehen. Hier könnte man vielleicht sogar auch an eine Ausdeutung des Wetters denken. Mit dargestellt wäre dann eine Korrespondenz der Stimmung der Natur und des Menschen.

Die Aquarelle wirken wie flüchtige Skizzen. Häufig sind sie auch nach Entwürfen gearbeitet, die auf Autofahrten in den Skizzenbüchern Friedrich Rittwegers festgehalten wurden. Aber die Bilder sind selbstverständlich nach allen Regeln der Kunst konstruiert - gelernt ist gelernt. Achten Sie auf die Betonung des Quadrats in den rechteckigen Formaten - durch den Kirchturm im Bild "Champagne", durch das Haus in "Am Wald".

Lassen Sie uns nun die Arbeiten Sabine Rittwegers studieren.

Wenn ich richtig sehe, treiben die Künstlerin derzeit zwei Themenfelder um: Einerseits Tisch und Stuhl. Tisch und Stuhl sowohl als Gegenstände als auch als sich überlagernde Flächen im geschlossenen Raum, als Interferenzen der Flächen mit ihren eigenen Schatten und was dergleichen graphische Experimentierfelder mehr sind - häufig dann auch fotografisch umgesetzt, was für diese Ausstellung hier ausgespart wurde. Andererseits treibt sie das Spannungsfeld von Bewegung und Stillstand um, also Menschen zwischen Menschen und Dingen im Stadtraum.

Beim Themenkomplex Tisch und Stuhl gibt die Erarbeitung der großen Formate durch die Künstlerin wichtige Hinweise, worauf es dieser Kunst ankommt. Sabine Rittweger skizziert gern auf kleinem Blatt, was sie in Metergröße und größer ausführen möchte. Die kleinen Formate lassen wenig Raum für Überflüssiges im Bildraum. Sie zwingen die Malerin, sich wirklich auf das Wesentliche in der Darstellung zu beschränken - und mehr darf auch das große Format nicht zeigen. In einem Ausstellungsfaltblatt hat sie hierzu einen Text des russischen Avantgarde-Autors Daniiel Charms herausgesucht, der in seinen Texten durch groteske Übersteigerungen die Absurdität von Verhaltensweisen und Lebensumständen herauszuarbeiten pflegt. Sein Text "Die richtige Art, sich mit Gegenständen zu umgeben" entwirft das Tableau einer Inneneinrichtung, in welcher die Dinge derart aufeinander bezogen sind, daß sie sich in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit untereinander ad absurdum führen: Ein Stuhl ist ein Stuhl. Ein Tisch dazu, damit der Sitzende dennoch etwas tun kann - gut. In dem Moment aber, in dem man beginnt, für den Tisch ein Deckchen zu fordern, das nur sinnvoll ist, wenn es die Wasserränder einer darauf stehenden Vase verhindern soll, die Vase wiederum nur sinnvoll ist, wenn darin ein Blümchen steht, beginnt ein Rattenschwanz von Accessoires, die sich wie ein Rahmen nur gegenseitig halten. Das ganze System bricht zusammen, entfernt man ein einziges Element.

Von daher rührt die strenge Reduziertheit und Nacktheit mancher Bilder von Sabine Rittweger. Ich denke an die Siebdrucke. Sie dokumentieren die Suche der Künstlerin nach dem wirklich notwendigen, in sich ruhenden, in sich perfekten Gegenstand, nach dem Gegenstand, der aus sich heraus sinnvoll ist. Nach dem Gegenstand, der nicht nur über sich hinaus auf andere Gegenstände verweist, aus deren Koexistenz er seinen Daseinszweck ableitet. Es ist die Suche nach dem unabgeleiteten Gegenstand. In meinen Augen ist das auch der Grund, warum die Stühle und Tische dann zum Teil selber so fehlerhaft und schäbig in den Bildern erscheinen: Durchgesessene Polster, abgeblätterter Anstrich: Nicht die äußere Gestalt macht die Perfektion dieser Dinge aus, sondern ihre innere Notwendigkeit im Raum. Um diese Notwendigkeit leichter sichtbar zu machen und dem Betrachter sicherer zu erschließen, greift Sabine Rittweger zu den genannten Kunstgriffen in der malerischen Ausführung.

Diese Suche nach der Reduziertheit ist nicht als Einmischung in die praktische Lebensführung jedes Einzelnen zu verstehen und will keine Hinweise zum Schöner Wohnen geben. Es geht in der Kunst um die Welt, die mit den Bildern entworfen wird. Deren Perfektibilität wird gesucht.

Anders sieht es in den malerischen 'Schnappschüssen' aus, die Sabine Rittweger bei ihren Berlinbesuchen aufs Papier bannt. Natürlich gibt es auch unter diesen Bildern Arbeiten, in denen die Leidenschaft für die graphischen Bausteine von Fläche und Linie mit der Künstlerin durchgehen: Bilder von den Beinen der Menschen in einem Demonstrationszug etwa. Oder Bilder von den Beinen der Menschen, die ihre Rollkoffer über die großen Flächen vor den Check-In-Schaltern im Flughafen Tegel ziehen. Dann auch Straßenszenen, die kleine Prüfungen unserer Wahrnehmungsmuster sind: Wann erkenne ich ausgestellte Beine als festen Stand, wann als Oszillieren im Stillstand der Langeweile, wann als Moment im Verlauf einer kontinuierlichen Bewegung?

In der Mehrzahl der skizzenhaft hingeworfenen Zeichnungen und Malereien aber wird nicht wie im Atelier konstruiert, sondern möglichst authentisch eingefangen, was die Künstlerin an zwischenmenschlicher Interaktion auf Straßen und Plätzen der Großstadt beobachten kann. Hier kann nicht reduziert werden, wenn dies den Dokumentarcharakter solcher Momentaufnahmen beeinträchtigen würde. Wie ein kleines Archiv typischer Situationen und Konstellationen des Alltagslebens bilden die festgehaltenen Beobachtungen für die Künstlerin selber das Anschauungsmaterial soziologischer Studien. Das Getriebensein der Menschen, das Aneinander-vorbei-gehen und -leben, das Hetzen und Laufen. Die Langeweile und der Stillstand auf der anderen Seite, das Warten, das nicht wirklich Zeit der Muße und der Erholung, sondern nur das auslaugende Pendant der Eile ist.

Straßenszenen andererseits, in denen der Platz im Straßencafé oder die Unterhaltung in der bepflanzten Baumscheibe deutlich macht, wie Menschen sich ihre Umgebung im Stadtraum erobern oder zurückerobern. Eindrucksvoll schildert Sabine Rittweger ihre Erlebnisse auf dem Tempelhofer Feld kurz nach der Schließung dieses geschichtsträchtigen Flughafens. "Die Fläche gehörte plötzlich Leuten", sagt sie, Skater erprobten die Asphaltflächen für ihre Künste und Anwohner bauten kleine Gärtchen aus Bretterkisten.

Alltagsleben möchte Sabine Rittweger beobachten und anhand ihrer Bilder reflektieren. Kleine Erlebnisse, die eigentlich gar keine sind, die wir vergessen, noch während sie sich vollziehen. Mit einem weiteren Aperçue von Daniiel Charms möchte ich diese kurze Werkeinführung abschließen. Es lautet:

"Begegnung. Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen Mann, der soeben ein polnisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles."

Vielen Dank.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar