Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille

Rede zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken von K.H. Bastian - B. Debus - M. Ernst - E. Franz - C. Hartung - M. Kühn-Leihbecher

Wandelhalle Bad Wildungen, Sonntag, 16. September 2018, 11.30 Uhr

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrter Herr Weller, sehr geehrte Damen und Herren,

"Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille".

Ein mystischer Ausstellungstitel und für die heutige Zeit ungewöhnlich. Schon der Titel hebt uns gänzlich aus dem Alltag, seiner Hektik und seinen Sorgen heraus. Er lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf das, was gezeigt werden soll - hier soll ganz offensichtlich nicht belehrt und nichts irgendwie umfassend dargestellt werden. Sondern er lenkt die Aufmerksamkeit auf den Entstehungsprozeß der Kunst, die wir hier sehen. Der künstlerische Schaffenstrieb ist das entscheidende für die Auswahl der hier gemeinsam ausstellenden Künstlerinnen und Künstler gewesen - das künstlerische Erkenntnisinteresse, das das Wesen der hier ausgestellten Werke bestimmt und eine Betrachtungsweise herausfordert, die nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern erkennen will, eine Betrachtungsweise, die bereit ist zu Kontemplation und zum Heraustreten aus der Alltagswelt.

Titel, Idee und Konzept der gesamten Ausstellung stammen von dem Weimarer Maler Karl Heinz Bastian. Vor drei bis vier Jahren begann er, Kolleginnen und Kollegen für ein gemeinsames Ausstellungsprojekt anzusprechen - Kolleginnen und Kollegen, die alle wie er selber auf dem Wege der Intuition zur Gestalt ihrer Werke finden. Künstlerinnen und Künstler, deren Schaffenstrieb ungetrübt ist von strategischen Überlegungen, ungetrübt vom Schielen auf den Kunstmarkt oder auf die Werke der Kollegen, ungetrübt vom Wunsch nach politischer Einmischung.

Nein - in der Ausstellung, die wir heute eröffnen, finden Sie sich ganz in der Welt der Bildenden Kunst wieder. Jedes Werk ist beseelt von seiner Suche nach Schönheit, nach Ausgleich und Balance. Die Künstlerinnen und Künstler gehören mehreren Generationen an, sie haben sich die unterschiedlichsten Materialien zu eigen gemacht - vom handgeschöpften Papier über Stoff und Japanpapier, Öl- und Acrylmalerei, Graphik und Prägedruck bis hin zu Schmiedearbeiten und den mächtigen Holzskulpturen von Beate Debus. Und doch eint all diese Künstlerinnen und Künstler der Kern ihrer Arbeitsweise - nämlich der sicherlich unbewußte Ansatz, nicht bei der Kritik an der Welt um sich herum stehenzubleiben, sondern ihr in der Kunst eine Gegenwelt an die Seite zu stellen - als Teil der Schöpfung, begabt mit schöpferischer Kraft, selber Welt zu schaffen.

Eine Ausstellung mit diesem Titel und allen beteiligten Künstlerinnen Künstlern war in diesem Jahr bereits im Wasserschloß Klaffenbach bei Chemnitz und im Kunsthaus Meyenburg Nordhausen zu sehen. Ich sage mit Absicht: Eine Ausstellung mit diesem Titel und allen beteiligten Künstlern, denn es ist für mich frappierend, wieviel der jeweilige Ausstellungsort zur Gesamtwirkung einer solchen Schau beiträgt. Die Wandelhalle Bad Wildungen ist zur Zusammenschau so vieler unterschiedlicher und doch korrespondierender Kunstwerke wie geschaffen. Da der Besucher beim Betreten des Nordflügels nicht nur auf eine Wand eines Ausstellungsraumes zugeht, sondern sich durch die Rundung des Bauwerks eine viel größere Fläche zeigt und Schritt für Schritt weiter erschließt, bieten sich hier unvergleichliche Möglichkeiten, Blickachsen herzustellen und die einzelnen Werke miteinander in Beziehung zu setzen. Verwandte Werke eines einzigen Künstlers oder einer Künstlerin bestärken sich gegenseitig. Wo Farbwahl, Technik und künstlerische Sprache einander ähneln, unterstreichen die Arbeiten ihre Wirkung untereinander und werden gewissermaßen noch besser zugänglich. So habe ich im Nordflügel versucht, doch ganze Werkgruppen oder zumindest Werkpaare einzelner Beteiligter zusammenzustellen, dann diese Werkgruppen zu kontrastieren und durch die ästhetische Interferenz der benachbarten Arbeiten einen Dialog zwischen den Bildern, Drucken und Skulpturen der verschiedenen Künstlerinnen und Künstler zu inszenieren. Eine bewußte Abfolge schwarz-weißer Prägedrucke oder handgeschöpfter Papierarbeiten mit starkfarbigen Malereien und Faltobjekten kann dabei die einzelnen Werkgruppen ebenso verstärkt zur Geltung bringen wie Farbkontraste, nach denen ich für die Hängung gesucht habe. Im Foyer sowie hier im intimeren Eröffnungsraum stehen Einzelwerke wie Visitenkarten für den möglichen Ausdruckswillen ihrer Schöpfer. - Soviel zunächst zur Konzeption dieser hiesigen Ausstellung, die sich durch die besonderen Räumlichkeiten der Wandelhalle eben so ganz von ihren Vorgängerinnen unterscheidet.

Sammeln wir nun einige Stichpunkte zum künstlerischen Verfahren der einzelnen Künstlerinnen und Künstler und den Deutungsmöglichkeiten ihrer Werke.

Marita Kühn-Leihbecher, Jahrgang 1944 und mit ihrem Mann in Kloster Mildenfurth unweit Gera zuhause, studierte an der renommierten Fachhochschule für Angewandte Kunst in Schneeberg und kommt ursprünglich von der Textilkunst her. Vor über 20 Jahren hat sie die Arbeit mit Papier für sich entdeckt. Sie schöpft selber Papiere, färbt sie ein und fertigt dann meist in einem weiteren Arbeitsschritt Collagen an.

Ihre Arbeiten gehören zu den Werken, die man ganz schlecht in Katalogen und auf Fotografien abbilden kann, weil ihr Reiz nicht nur in der Farbigkeit und der Ausgewogenheit der Formen im Bildraum besteht, sondern in der sichtbaren Haptik des Werkstoffs selber. Das Material ist hier in einer Weise Teil der Bildaussage, daß man die Werke wirklich leibhaftig in einer Ausstellung sehen muß, um sie richtig einschätzen und genießen zu können. Die teils filzartige, teils wollig-ausfransende, teils flusige, teils hartfaserig-glatte Oberfläche der unterschiedlichen Papiere wird nur direkt vor dem Werk sichtbar. Die unterschiedlichen Oberflächen rühren dabei von den diversen Ausgangsmaterialien her, die die Künstlerin in verschiedenen Pflanzen findet. Je nach Werkstoff, kommt sie denn auch zum Teil ohne Einfärbung aus: Der etwas taube Braunton, der einige Werke erdet (etwa "Öffnung"), rührt vom Ausgangsstoff Hanf her und verleiht etlichen Werken den neutralen Hintergrund für den Einsatz kräftiger Farben.

In anderen Werken werden Papierausschnitte in der Collage überlagert, Farbflächen und sekundäre Materialien wie Fäden scheinen durch das z.T. hauchfeine Papier hindurch - wie in der Arbeit "Membrane" gleich vorne im Ausstellungsraum. Die Materialbeschaffenheit des Papiers bestimmt die Künstlerin dabei im Prozeß des Schöpfens selber. Haptik, Stärke und damit mögliche Transparenz, Dichte und Farbe ihres Werkstoffs sind als Herstellung des Materials bereits Teil des künftigen Werkes. Form und Inhalt, Material und Werkaussage sind nicht zu trennen.

Von Cordula Hartung aus Meinigen, Jahrgang 1956 und seit 30 Jahren als freischaffende Künstlerin tätig, präsentiert unsere Ausstellung drei wichtige Zweige ihres künstlerischen Schaffens. Die starkfarbigen monochromen Arbeiten aus gefaltetem, ebenfalls selbst vielfach bearbeiteten Japanpapier habe ich bereits erwähnt. Hier färbt die Künstlerin Japanpapier, wachst es und entfernt das Wachs wieder, färbt erneut und faltet die Papiere zu dreidimensionalen Wandarbeiten von starker und schillernder Farbigkeit. Internationalen Rang bekleidet die Künstlerin auf dem Gebiet der Stoffarbeiten, des Quiltens. In diese Kunstrichtung gehören die sechs quadratischen Stoffarbeiten mit dem Titel "Überlagerung", die hier einmal als Paar und im Foyer einmal zu viert zusammen gehängt sind. In den "Überlagerungen" wird in aufgenähten und abgesteppten Stoffbahnen in jedem Werk eine neue Harmonie von Farben und Formen gesucht.

Zur dritten Werkgruppe, aus der wir die Arbeit "Zwischen den Zeilen" und die "Momente" im Nordflügel zeigen, gehören getropfte Bilder aus Lack auf Papier. In ihren gleichförmigen Reihen von Lackpunkten scheinen sie Sekunden in die Fläche zu tropfen. Mit der Gestalt der Lacktropfen assoziiere ich die Umsetzung der Sprache in die punktuellen und rhythmisierten Signale des Morsealphabets oder der Blindenschrift. Ich assoziiere eine stillgestellte Zeitlichkeit, die in sich zurückgebogene, rückbezügliche Linearität einer sprachlichen Botschaft, die man im zeitlichen Ablauf hören und doch in einem Moment begreifen muß, ich assoziiere den Verlauf einer Geschichte. Die kleinen Tropfengruppen bilden für mich die Morpheme eines unbekannten Codes. In ihrer immer wieder organisch abnehmenden Stärke lassen sie an die regelmäßigen Betonungen gebundener Sprache oder an das Atemholen der Erzählenden denken. Sie scheinen Momentaufnahmen - eben: "Momente" - der fließenden Bewegung von Zeit und Sprache zu sein.

Elvira Franz wurde 1951 in Bad Blankenburg in Thüringen geboren und lebt seit gut zehn Jahren in Quedlinburg in Sachsen-Anhalt. Sie studierte an einer der Künstlerschmieden der ehemaligen DDR, nämlich an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein in Halle und war schon seit 1976 freiberuflich tätig. Ihre intuitiv und mit oft langen schöpferischen Pausen im Arbeitsprozeß entstehenden Bilder zeigen gegeneinander verschobene Farbverläufe. In geometrisch angelegten, zum Teil mehrfach achsengespiegelten Flächen schneiden sich geschwungene oder ellipsoide Linien untereinander und lassen so viele Reihen kleiner Bildabteilungen entstehen. Diese kleinen trapezförmigen Flächen werden farblich derart abgetönt, daß sich in jeder Richtung ein organischer Farbverlauf von Feld zu Feld ergibt. Immer wieder mündet ein Farbverlauf in ein strahlendes, ja gleißendes Weiß, das von innen aus dem Bildraum hervorzuleuchten scheint und den Betrachter wie der Vorschein einer anderen Welt in seinen Bann zieht.

Die Arbeiten von Elvira Franz dürfen nicht mit serieller Konkreter Kunst verwechselt werden. Während Künstler wie Richard Paul Lohse etwa um die Mitte des 20. Jahrhunderts herum serielle Farbstudien nach mathematischen Regeln konstruierten, arbeitet Elvira Franz intuitiv. Bildfindung und Ausgestaltung ihrer Werke finden in der Kontemplation statt, die dem Betrachter die Werke auch wiederum erschließt. Elvira Franz inszeniert autonome Formen, die im Dialog mit und in Abgrenzung von ihrem bildnerischen Umfeld ihre spezifische Bedeutung erlangen. Farbton, Helligkeitswert und Sättigung stehen der Künstlerin als drei Parameter ihrer Verwandlungen und Farbrhythmen zur Verfügung. Bewußt unterlaufen die gegenstandslosen seriellen Bilder Elvira Franz' dabei die Kunstgriffe der Perspektive, um die gemalte Fläche wieder als Fläche erfahrbar zu machen.

Im Nordflügel rechts haben wir eine lange zusammenhängende Reihe von Werken Karl Heinz Bastians gehängt. Karl Bastian wurde 1938 in Nebra geboren und ist seit langem in Weimar zuhause, wo er als Restaurator bei der Klassikstiftung tätig war, daneben aber immer auch gemalt hat. Auch seine Werke könnte man auf den ersten Blick mit Konkreter Kunst verwechseln, doch auch für sie gilt, daß nicht Berechnung, sondern intuitives Formempfinden die Bildgestaltung bestimmt. Auch Karl Heinz Bastian inszeniert autonome Formen. Jedes seiner Kunstwerke sieht er dabei als Ausschnitt eines Schaffensprozesses - als zeitliche und räumliche Zäsur im ständigen Fluß des lebendigen Werdens und Sich-Entwickelns, als Teil einer größeren Gestalt. Seine Arbeiten können nach allen Seiten über den Bildrand hinaus weitergedacht werden. Sie sind Haltepunkte in einem Arbeitsprozeß, der immer wieder Neues, aber auch immer wieder Variationen einer bestimmten Formentwicklung hervorbringt. Karl Bastian sucht in seinen Werken stets nach der Balance von häufig um ein Zentrum herum wachsenden Formen. "Konstellation" ist folgerichtig ein von ihm gerne verwendeter Werktitel. Titel wie "Keim", "Wachstum" und "Verwandlung" hingegen verweisen eher auf die Idee des Organischen im Schaffensprozeß, Titel wie "Kontemplation" auf eine intuitive Arbeitsweise, die sich dem Gegenstand ganz hingibt und ein Einswerden der eigenen schöpferischen Kraft mit der Kraft der Schöpfung sucht.

Man kann sich die Suche nach Balance und Ausgleich der Formen im Bildraum bei Karl Heinz Bastian gar nicht existentiell genug vorstellen. Jede Symmetrie wird selbstverständlich vermieden: Arretierte Waagschalen tarieren nicht. Balance ist ein Akt der Freiheit und muß in jedem Moment neu errungen werden. Symmetrie schreibt die Formen fest und muß jeden 'Auswuchs' sofort zurückstutzen. Die Formen in den Werken Karl Heinz Bastians aber entwickeln sich gedanklich ständig weiter und finden ihren Ausgleich nicht im identischen Pendant, sondern im Zusammenwirken aller Farben und Formen eines Bildraums.

Kommen wir zum Kunstschmied und Metallbildhauer Michael Ernst. Er wurde 1973 im Harz geboren und arbeitete zunächst im väterlichen Betrieb. Nach Studienreisen, die ihn bis nach Japan, Schottland und Portugal führten, machte er sich 2002 nahe Weimar als freischaffender Künstler selbständig. Lange waren für das Werk von Michael Ernst vor allem kinetische Skulpturen typisch und herausragend. In mehreren Achsen auslenkbar, die sich in der Bewegung gegenseitig beeinflussen, sind diese Aufbauten aus Bögen, Kugeln, Schalen und Flächen wahre Wunderwerke der Balance. Aus der Reihe dieser kinetischen Plastiken haben wir "Nautilus" mitgebracht und im Foyer aufgestellt.

Der eigentliche Sinn und das Anliegen dieser Arbeiten ist die Ruhe in den Bewegungen, die das Kunstwerk vollführt. Ruhige Bewegungen, in denen die ausgelenkten Teile einer Plastik mit langem Atem in ihre Ruheposition zurückfinden und uns als Betrachter dadurch die Ruhe mitteilen, die in ihren angemessenen Bewegungen liegt. Damit widersetzt sich die kinetische Kunst Michael Ernsts der Schnellebigkeit unserer Zeit. Ihr tatsächlich spiritueller Kern liegt in der Versinnbildlichung einer Bewegung, die aus der Ruhe geboren wird und uns deshalb mit in diese Ruhe zurück nehmen kann. Bewegung und Beweglichkeit jedes dieser Objekte sind weder Selbstzweck noch Effekthascherei: Ihre Schönheit beruht auf ihrer Angemessenheit und ihre Angemessenheit auf ihrer zuverlässigen Unterordnung unter die Gesetze von Ausgleich und Balance, von Kraft und Gegenkraft. Der Tanz der Bögen und Kreissegmente, der Kugeln, Scheiben oder Klangschalen in diesen kinetischen Arbeiten machen uns die Kunstwerke durchsichtig für eine Choreographie der Naturgesetze, die auch uns selber eingeschrieben sind. Versenken wir uns in ihren Anblick, bescheren uns die kinetischen Skulpturen in ihrer Suche nach dem Ausgleich der Kräfte eine Bewußtseinserweiterung, die uns in neue Dimensionen der Wahrnehmung wie der Selbstwahrnehmung führt. Wir begreifen Leben als rhythmische Abfolge von Ruhe und anlaßangemessener Bewegung.

Aber die beweglichen Arbeiten machen nur einen Teil des Werkes Michael Ernsts aus. Sie sehen in unserer Ausstellung neben den schlanken Steckfiguren und den entsprechenden Reliefs an der Wand vor allem eine Reihe von Stahlschleifen, die Michael Ernst mit "Knoten", "Roots" oder "Loop" betitelt hat. In diesen Stahlschleifen wird erkennbar - und für den Betrachter dennoch eigentlich unglaublich - "Materie bezwungen", wie man so schön sagt - und doch ist es der schaffende Mensch, der sich den Eigenheiten der Materie unterordnen muß, um sie beherrschen zu können. Rhythmische Bewegung im Raum auch hier: Der im Schmiedefeuer erhitzte Stahl wird zum Knoten gewunden wie ein Tuch. Der Inbegriff des Harten wird in die schmeichelnde Form gezwungen, wie sie eigentlich nur ein Tuch, der Inbegriff des Weichen und Anschmiegsamen, einnehmen kann. Mit der Kraft eines Hebels werden zentimeterstarke Stahlarme gefügig gemacht und erstarren in der fließenden Bewegung. Auch für diese Schmiedekunst gilt: Damit ein Werk eine Idee seines Schöpfers sichtbar machen kann, muß das Material durchdrungen worden sein, muß etwas wie eine innere Vereinigung von Künstler und Material stattgefunden haben.

Was bei Michael Ernst die Auseinandersetzung mit dem Stahl - um nicht zu sagen, mit dem Element Feuer - ist, ist bei Beate Debus das Hineingehen in den intakten Baumstamm. Ihre zum Teil übermannshohen Skulpturen sind aus einem Stück und lediglich zur besseren Lesbarkeit mit Feuer geschwärzt bzw. mit Schlämmkreide geweißt. Diese Figuren haben Beate Debus berühmt gemacht. Geboren wurde sie 1957 in Eisenach und studierte nach ihrer Ausbildung zur Holzbildhauerin ebenfalls in Schneeberg (wie die Papierschöpferin Marita Kühn-Leihbecher). Sie lebt und arbeitet in der Thüringer Rhön.

Mit einem Höchstmaß an Abstraktion zeigen die Skulpturen von Beate Debus die aufeinander bezogene Interaktion zweier Körper, die sich umschlingen, bedrängen oder aneinander vorbei existieren. Es geht um Fallen und Stützen, um Halten und Schützen, um Fangen und Freigeben, um Standhaftigkeit und Schwäche. In jedem Fall balancieren in diesen Skulpturen polare Kräfte einander aus. Zur besseren Lesbarkeit der Werke werden diese antagonistischen Kräfte in jeder Skulptur geweißt bzw. geschwärzt. Die Suche nach einer Balance der Gegenspieler ist in den Skulpturen von Beate Debus als Interaktion zweier Körper dargestellt, die vollständig auf ihre Gliedmaßen reduziert sind. Rumpf und Kopf fehlen oder sind nurmehr ein Treffpunkt aufstrebender Linien. Daß die Figuren meist nur aus Armen und Beinen bestehen, muß also die Werkdeutung bestimmen und zeigt, worum es Beate Debus in einem übergeordneten Sinn geht: Nämlich um die Bewegung der Körper im Raum - um das Raum greifen und Raum geben, weiterhin das Ausloten von Identität und Veränderung, von Eigenem und Anderem. Von Skulptur zu Skulptur ringt Beate Debus um die Darstellung von Bewegung und Gegenbewegung, die aus unterschiedlichen charakterlichen Dispositionen der Menschen heraus die soziale Interaktion bestimmen. Korrespondierende Bedürfnisse, polare Kräfte und gegensätzliche Bewegungsimpulse tarieren in den Skulpturen einander jeweils aus und machen die verschiedenen Dispositive sozialen Lebens für uns sichtbar. Es geht, mit anderen Worten, um nichts weniger als die grundsätzlichen Gegebenheiten jedes Sozialgefüges.

Daß der Ursprung dieser körperlichen Dispositive in charakterlichen Eigenheiten und individuellen psychischen Vorgängen liegt, ja, daß die widerstreitenden Kräfte auch in einem einzigen Menschen gegeneinander arbeiten können, hat vor etwa zehn Jahren einen weiteren großen Werkzyklus von Beate Debus angestoßen. Er umkreist das Thema Kopf - auch diese Arbeiten zur Sichtbarmachung der Antagonismen in schwarz-weiß gefaßt. Rundgewölbte Stirnen, gedoppelte Physiognomien, farblich maskenhaft abgesetzte Augenpartien oder verschobene Gesichtszüge verweisen auf eine innere Erregung, die der Ursprung äußerlich wahrnehmbarer Aktivität ist. In der Überzeichnung mimischer Vorgänge schaffen die Werke den Spagat zwischen höchst individueller Form und überindividueller, typisierender Gestaltung.

Wer nach dem Ursprung des Sichtbaren sucht, gelangt zum Nicht-Sichtbaren. Das lehren uns die Künstler der Renaissance, die zur realistischen Darstellung von Bewegung die Körper sezierten, um die Muskelverläufe und die Anatomie des Menschen zu studieren. Wer nach dem Ursprung des Denkens sucht, gelangt zum Nicht-Denken. Das lehrt uns die Psychoanalyse, die zum Verständnis unseres Bewußtseins das Unbewußte postuliert und Träume deutet. Ins Werk von Beate Debus fließen all diese Erkenntnisse ein: Um das Sichtbare verständlich zu machen, visualisiert sie für uns das Verborgene, das Nichtgedachte und das Undenkbare. Schön beispielsweise die schwarz abgesetzten Augenpartien in weißen Gesichtern als Bild dessen, der buchstäblich seinen Augen nicht traut oder berstende Schädel als Bild dessen, der sich "den Kopf zerbricht". So gibt hier, mit dem berühmten Diktum von Paul Klee, "Kunst nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."

"Welche Bedeutung haben künstlerische Positionen, die aus der Wahrnehmung einer komplexen Wirklichkeit ihre Intentionen in die ureigensten Mittel der Bildenden Kunst, Form und Farbe umsetzen?" fragt das Exposé zum Ausstellungsprojekt "Mit der Wachheit der Sinne - aus der Tiefe der Stille". Alle an dieser Ausstellung beteiligten Künstlerinnen und Künstler zeichnen sich durch die künstlerische Vision, den Mut und das handwerkliche Können aus, die Welt nicht nur zu doppeln und zu kommentieren, sondern ihr in den Kunstwerken eine Gegenwelt an die Seite zu stellen. Mit handwerklicher Perfektion übernehmen sie Verantwortung für ästhetische Maßstäbe, die sie mit ihren Kunstwerken setzen. Statt Reizüberflutung zu kritisieren, schaffen die einzelnen Kunstwerke Räume der Kontemplation und der bleibenden Schönheit. Aus der überfließenden Bejahung der Welt bleiben die Kunstwerke nicht bei Denkanstößen stehen, sondern geben je eigene Antworten - nicht mit Hilfe intellektueller Erklärungen, sondern mit Hilfe der Erkenntnisse, wie sie nur die unmittelbare Evidenz von Kunst vermitteln kann.

Vielen Dank.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar