Skulptur . Weimar . 2009. Thomas Linder - Karien Vervoort

Rede zur Ausstellungseröffnung

im Gespräch mit einem Besucher; Foto: Helmut Hengst

Thomas Lindner und Karien Vervoort.
Kleinplastik und Arbeiten auf Papier

Galerie Profil Weimar, 6. Juni 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

sanfte Bewegungen empfangen uns, wenn wir in der nächsten Zeit die Galerie Profil betreten. Bewegungen, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Naturgesetze entstehen. Thomas Lindner inszeniert diese Bewegungen in seinen kinetischen Objekten. Hohe Metallfedern, Aluminium- oder Edelstahlplatten, kleine oder große Kreise, die mit einer einzigen Spitze auf einem Metallstab aufruhen oder Mobiles aus aneinandergehängten, voneinander abhängigen Messingplättchen, die auf jeden Lufthauch reagieren – das umschreibt in etwa die Bandbreite der kinetischen Kunstwerke, die seit rund fünfzehn Jahren einen Arbeitsschwerpunkt Thomas Lindners bilden. In einem den Naturgesetzen in etlichen Experimenten abgerungenen Aufbau halten sich in den filigranen Gebilden die Erdanziehung, das Gesetz der Trägheit und der Impulserhaltungssatz eine ausgeklügelte Balance: Durch eine zufällige Störung – Berührung oder Luftzug – aus dem Gleichgewicht gebracht, ziehen die beweglichen Teile einer Plastik lange Spuren in den Raum, bis die Bewegungsenergie verbraucht ist und sie zur Ruhe kommen.

Das Beschreiben von Bewegung im Raum, das die Objekte vollziehen, führt zum Begriff der Choreographie und damit zum Vergleich dieser Bewegung mit einem Tanz: Sie wissen, daß das griechische Wort „Chora“ Raum bedeutet – es war der hintere Raum der Theaterbühne, in dem der „Chor“ stand und die Tragödie, die im vorderen Teil der Bühne vorgeführt wurde, kommentierte. „Graphein“ heißt auf griechisch schreiben, also eine Choreographie ist nichts anderes als eine Beschreibung des Raumes. Dieser Begriff leitet unmittelbar zur Idee des Tanzes über, also der Inszenierung von einer dem Menschen angemessenen Bewegung. Vielleicht auch die Idee der Spiritualität – denn lange Zeit und noch heute in vielen Kulturen sind Tanz und Gottesdienst untrennbar verbunden.

Ich möchte die Idee der Spiritualität hier haben, um den unvergleichlichen Reiz solcher kinetischen Objekte verständlich zu machen. Susanne Hebecker hat über die kinetischen Objekte Thomas Lindners einmal geschrieben, dieses Formenuniversum sei ständig in Bewegung, „doch seine Quelle ist die Ruhe.“ Das ist wirklich gut formuliert – die Quelle der Bewegungen ist die Ruhe, und deshalb teilen sie diese Ruhe mit. Die Objekte schlagen uns in ihren Bann, weil ihre Bewegungen uns im tiefsten Sinne angemessen sind. Und sie sind dies, weil sie sich eben dem bewussten Zugriff des Menschen entziehen. Wir können nur stehen und staunen, wie die Natur in dem winzigen Ausschnitt eines kinetischen Objektes ihr Gleichgewicht wiederfindet. Wir können die Bewegungen und das Wiederfinden der Ruhe weder machen, noch beschleunigen, wir können es nicht festhalten, nicht mal bildlich, in der Fotografie. Jedes Eingreifen stört und zerstört das Phänomen. Wenn es uns aber gelingt, uns diesen Bewegungen hinzugeben, bekommen wir von ihnen die Ruhe zurück, aus der sie kommen. Übertragen auf den Menschen ließe sich wohl an die ruhigen Bewegungen des Tai-Chi denken, die Stimmungen ausgleichen, die Energieströme regulieren und den Menschen zu sich selbst zurückführen.

Ich habe gerade Susanne Hebecker zitiert, das war aus einem Katalog zu einer großen Personalausstellung auf der Krämerbrücke in Erfurt im Jahr 2000. Wenn Sie den übrigens sehr schönen Katalog durchblättern, wird Ihnen auffallen, daß etliche der Objekte damals keinen Titel hatten. „Ohne Titel“. Das hat mir sehr gut gefallen. Freilich, für eine Preisliste sind Titel besser, aber die kinetischen Objekte ohne Titel zu belassen, trägt noch einmal zum Verständnis ihres Faszinosums bei: Bilden sie doch Urzustände des Lebens ab – prähistorisch, grundlegend, unwiederholbar und wie aus einer Zeit, als die Natur dem Zugriff des Menschen noch nicht unterworfen war. Um diesen Moment der Unterwerfung zu fassen, wird ja gerne die metaphorische Erzählung einer Benennung aller Dinge durch den „ersten Menschen“ herangezogen. Die kinetischen Objekte und ihren Vollzug dieser makellosen Ur-Ästhetik aus dem Prinzip der Benennung herauszuhalten, erschien mir deshalb als sehr folgerichtig.

Wenn wir noch einen Augenblick beim Gedanken des Nicht-Festhalten-Könnens dieser ausbalancierten Bewegungen bleiben, können wir noch eine Brücke schlagen zu den mikrophysikalischen Vorgängen. Sie wissen, daß die Physiker immer noch ärgert, daß man die Bewegung der kleinsten Materieteilchen nicht berechnen und die Teilchen selber nicht dingfest machen kann. In der Inszenierung der ruhigen Bewegungen machen uns die kinetischen Objekte also zudem anschaulich, was die Welt im Innersten zusammenhält: Die ständige Veränderung, die sich aus der Balance von Naturgesetz und zufälliger Störung ergibt. Das ist das Leben.

Nichts geringeres als das Leben selbst will Thomas Lindner denn auch darstellen. Die kinetischen Objekte sind hier ein wichtiger Weg, aber nicht der einzige. Sie sehen, er fängt in Fotogrammen das Licht ein. Fotogramme sind wiederum die ursprünglichste Form der „Fotografie“ – des „Schreibens mit Licht“. In der Dunkelkammer wird das Fotopapier belichtet – einmal, zweimal, mit dem Schlaglicht einer Taschenlampe, mit bewegtem Lichtstrahl, woraus unterschiedliche Schattenstufen das Papier beschreiben.

Bei den Fotogrammen wie bei den Emaillearbeiten ist die Form der Spirale thematisch wichtig. Dies hängt mit Thomas Lindners Idee von Lebensvollzug zusammen: Das Leben, sagt er nämlich, gleicht einer Spirale. Im zyklischen Kreislauf wiederholt es sich, ohne sich doch jemals wirklich zu gleichen. So finden wir alle Variationen von Spiralformen, also auch Kreissegmente oder nicht geschlossene Kreise, in den Bildern wie auch in den Großplastiken Lindners.

Hier mache ich einen Schnitt. Die Fortsetzung folgt morgen um 11 Uhr im Dorotheenhof. Dann spreche ich über die Bewegung, die auch Lindners Großplastiken abbilden oder inszenieren.

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Nun aber ist es endlich Zeit, auch auf die Werke Karien Vervoorts einzugehen. Das Geheimnis vieler Arbeiten liegt hier im Spiel mit der Maßstäblichkeit. Nehmen wir die Bronzeplastik „Ohne Titel“ – auch bei Karien Vervoort treffen wir übrigens auf viele Werke ohne Titel. Die Bronzeplastik „Ohne Titel“ von 2004 ist eigentlich einer Tischdecke abgeformt. Etwas stilisiert und ordentlich, symmetrisch arrangiert – aber die Form einer Tischdecke. Die erste Verfremdung entsteht durch eine Verkleinerung. In mehreren Vorgängerwerken aus dem Jahr 1993 finden wir dieselbe Form so stark verkleinert und multipliziert, daß die Assoziation Kuchenförmchen – vielleicht sogar Sandkastenspielzeug – unvermeidlich ist. Die zweite Verfremdung kommt also durch die Vervielfältigung der Form, in unserem Fall eine spiegelverkehrte Dopplung der Form, die dem Gesamtwerk eine weitere, nämlich eine horizontale Symmetrieachse verleiht (wenn ich richtig sehe, hat die Grundform zwölf vertikale Symmetrieachsen, nämlich jeweils durch zwei der zwölf Faltenbäuche und durch je zwei der zwölf Faltentäler, und durch die Dopplung auch eine horizontale). Die dritte Verfremdung kommt durch die Farbgebung von Äußerem Weiß und dunkler Bronze und dem tiefbordeauxfarbenen Inneren. Die Innenseite der gewesenen Tischdecke findet sich im Gesamtkomplex des Werkes also nicht nur zuoberst gekehrt, sondern auch noch farblich herausgehoben. Eine vierte Verfremdung entsteht aus dem Kontext der Tischdeckenform im Rahmen der ganzen Plastik. Wie Sie sehen, ruht die Bronze auf einem kleinen quadratischen Samtkissen (einem Dinkelkissen) auf. Das Kissen aber gehört zunächst einmal nur indirekt zur natürlichen Umgebung einer Tischdecke – nämlich nur insofern, als ein kleiner runder Beistelltisch oder Couchtisch sich gerne in der Nähe eines Sofas oder Sessels aufhält, auf welchem dann wohl ein kleines quadratisches Kissen liegen mag. Aus dieser indirekten Beziehung von Tischdecke und Sofakissen aber macht die Arbeit von Karien Vervoort eine beinahe intime, jedenfalls innerliche und direkte Beziehung. Sie sehen es: Die auffällige Farbgebung, die das Innere der Tischdecke ausmacht und betont, korrespondiert mit der Farbe des Kissens.

So, jetzt wäre das Kunstwerk erst mal annähernd beschrieben. Nun stellt sich natürlich die Frage, was es bedeuten soll? Was bedeuten die ordentlichen Falten in der Tischdecke eines kleinen runden Beistelltisches? Was bedeutet es, daß die Kreislinie in zwölf gleiche Teile – zwölf Faltenberge – eingeteilt ist? Was bedeutet die farbliche Abstimmung von Tischdecke und Kissen?

Ein Movens in der Arbeit von Karien Vervoort ist der eigene Blick – und die Blick-Richtung des Betrachters – auf den Menschen, auf das menschliche Maß und die Spuren des Menschen in der Welt der Dinge. Wir werden morgen anhand der Plastiken im Außenraum weitere Beispiele hierzu kennen lernen. Was unser konkretes Werk hier betrifft, so beleuchtet es natürlich das Wohnen. Das bürgerliche Wohnen. Das bürgerliche Wohnen zur Kaffeezeit. Der gesittete Aufenthalt in einem herausgeputzten Raum, in dem eine mächtige Standuhr die Sekunden in die Stille tropft. Das Wohnen also nicht im Haus, sondern, um mit Walter Benjamin zu sprechen, im Gehäuse. Walter Benjamin hat das in seinem Passagen-Werk hervorragend charakterisiert, ich lese ein kurzes Stückchen vor:

„Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse. Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.“

Soweit Walter Benjamin, der uns mit dem Futteral, in das der Mensch sich selbst verpackte, die Korsetts und Vatermörder, aber auch das bürgerliche Comme-il-faut, also die Benimmregeln als die unsichtbaren Korsetts der bürgerlichen Welt in Erinnerung ruft. Dasselbe tut, mit den Mitteln der Bildenden Kunst, das Werk von Karien Vervoort. In seiner bordeauxroten Farbgebung, dem Samtstoff, dem Abdruck, von dem Benjamin auch spricht und den hier der Bronzeguß im Kissen hinterlässt, sieht das Werk fast aus wie eine Illustration der Textstelle von Walter Benjamin.

Wir werden morgen früh weitere Werke und Arbeitsprinzipien Karien Vervoorts kennen lernen. Für heute möchte ich schließen und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar