Skulptur . Weimar . 2009 . Thomas Lindner – Karien Vervoort

Rede zur Ausstellungseröffnung

Romantikhotel Dorotheenhof Weimar, 7. Juni 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Spiel mit der Maßstäblichkeit hatte ich gestern Abend in der Galerie Profil als Geheimnis der Arbeiten Karien Vervoorts genannt. Wir hatten ein Kunstwerk gemeinsam betrachtet, das als ursprüngliche Abformung einer runden Tischdecke mit ihrem Faltenwurf mithilfe von Verfremdungseffekten wie der Verkleinerung, der Verdopplung und Spiegelung, der Farbgebung und einer spezifischen Kontextualisierung – die „Tischdecke“ ruht ja auf einem Sofakissen – den Blick auf die Ideale bürgerlichen Wohnens lenkt. Ich hatte gesagt, daß die Zurichtung der Welt durch den Menschen – oder die Spuren des Menschen in der Welt der Dinge – einen wichtiger Antrieb im Schaffen Karien Vervoorts darstellt. Und eben daher rührt auch ihre Sensibilität für die Maßstäbe der Dinge. „Der Tisch bringt die Erde auf unsere Arbeitshöhe“, sagt die Künstlerin selbst und verwendet in ihren Werken Schranktüren, überhaupt Türen, bringt Sehschlitze und scheinbare Durchgänge durch ihre Plastiken in unmöglichen Höhen an und baut Architekturmodelle, da das Haus als Gehäuse des Menschen natürlich das Maß des Menschen schlechthin in die Welt trägt.

Wenn ein Kunstwerk den Blick auf eine Sache lenken will, die unserer Natur entspricht oder uns zur zweiten Natur geworden ist, reicht es meist nicht, sie unkommentiert abzubilden. Da Karien Vervoort unseren Blick für das menschliche Maß und unsere eigene Zurichtung der Welt schärfen will, muß sie den Maßstab der Dinge verfremden. In der Irritation, die eine viel zu kleine Tür oder ein viel zu hoher Sehschlitz in uns auslöst, liegt das Potential unserer Erkenntnis. Wir kennen diesen Trick der Irritation aus dem Werk beispielsweise René Magrittes. So zeigt sein Ölgemälde „La perspective amoureuse“ eine durchbrochene Zimmertür, deren Öffnung den Blick auf ein Haus und einen Baum am Strand freigibt. Der Baum überwuchert das Haus seitlich, und – er ist eigentlich ein Blatt. Ein Blatt, das auf dem Stängel steht wie ein Baum auf seinem Stamm, und dessen Adern zum Geäst einer Laubbaumkrone werden. Wie wichtig u.a. dieses Bild für Karien Vervoort schon lange ist, zeigt der Titel einer Plastik, die in verschiedenen Varianten seit 1990 existiert. Wir haben ein Exemplar hier: La perspective amoureuse. Auslöser dieses Werks war ein mit kleinen Auftriebskörpern oder Schwimmern bestücktes, treibendes Fischernetz an der isländischen Küste (daher die Welle). Wie kommt dieses Werk zu seinem Namen? Außer der Küste, die auch bei Magritte zu ahnen ist, existiert keine inhaltliche Verbindung. Nun – eine inhaltliche nicht, aber eben doch eine thematische, wenn das Thema nämlich die Maßstabsverzerrung ist. Dasselbe Werk – Karien Vervoorts perspective amoureuse – liegt als Bronzeguß in den Abmessungen 5 m x 4,70 m x 1,10 m Höhe in Hoofddorp in Holland. Bis ins riesenhafte gesteigert sind hier vor allem die Schwimmer, die das Netz begrenzen.

Diesen ‚Trick’ finden wir in etlichen von Karien Vervoorts Werken wieder: die Kombination einer maßstabsgetreu wiedergegebenen Sache mit einer maßstabsverzerrten Sache in ein und demselben Kunstwerk. Im Denkmodell Nr. 7 beispielsweise stimmt der Maßstab des Kissens (die Irritation liegt für uns hier allerdings dann im Material, das Kissen ist aus Beton). In der perspective amoureuse ist es die Netzstruktur, die stimmt, im Denkmodell Nr. 8 der weitschwingende Damenrock, den Karien Vervoort ihrem kleinen Architekturmodell genäht hat. (Das kleine Architekturmodell kann freilich auch eine stark vergrößerte Hutmutter sein. Wir kennen das Spiel mit der Maßstäblichkeit aus den Naturwissenschaften, wo ein Atommodell früher genauso aussah wie ein Planetenmodell – beides aus seiner unfassbar kleinen bzw. unfassbar großen Dimension aufs menschliche Maß gebracht. – Vgl. auch die Theorie der Fraktale) Der maßstabsgetreue Teil eines Werks legt bei Karien Vervoort gewissermaßen das Nullniveau fest, bringt das Werk aufs menschliche, gewohnte Maß und macht es kenntlich. Der verzerrte Teil irritiert und lenkt den Blick darauf, wie Kai Uwe Schierz festgehalten hat, „daß unser Realitätsbezug gerichtet ist, d.h. subjektiven Perspektiven von je bestimmten Standpunkten aus folgt, die durch kulturelle Paradigmen (im weitesten Sinne) geformt werden und diese auch weiter ausformen. Es gibt für uns also keine Möglichkeit des Zugangs zur Welt ‚an sich’ [...]; sie erscheint uns vielmehr stets in der Form einer ‚Welt für uns’“. Soweit Kai Uwe Schierz anlässlich der Ausstellung Karien Vervoorts in der Kunsthalle Erfurt im Sommer 2008.

Die Mittelbarkeit, mit der unsere Möglichkeiten der Erkenntnis uns Zugang zur Welt verschaffen, stellt uns die „Eindreiheit Nr.1“ unten in der Stadt vor dem Schillerhaus besonders sinnfällig vor Augen. Im Relief einer Bronzeplatte erkennen wir Bilder unserer fünf Sinne: ein einzelnes Auge, ein Ohr, einen Löffel ohne Stiel – er symbolisiert unseren Geschmackssinn – eine Blume für den Geruchssinn. Wir sehen keine Hand. Für den Tastsinn wie auch für die Kommunikation steht eine Computermaus. Das ist schon sehr kulturkritisch und pessimistisch – aber sicherlich gut beobachtet. Auch einen Fußabdruck vermissen wir. Es ist nur eine Schuhsohle, die wir sehen, den Bodenkontakt haben wir in den Augen Karien Vervoorts offenbar verloren. Gehen wir um die sechseckige Stele herum, so finden wir eine durchbrochene Seite sowie eine dritte Seite mit einem Sehschlitz. Hierdurch sehen wir entweder die Außenwelt der gegenüberliegenden Seite – also einfach durchs Kunstwerk durch – oder aber wir begegnen uns selbst. An der Innenseite gegenüber ist ein Spiegel angebracht. „Gnoti seauton“ – erkenne dich selbst, war dem Apollotempel in Delphi eingemeißelt, und der Spiegel ist in Mythologie und Märchen das Zauberwesen zur Selbst- und Welterkenntnis. So ist der Bronzeplatte, die unseren bewussten Zugang zur Welt auflistet, die Dimension des Unbewussten einerseits sowie die göttliche Dimension der Selbsterkenntnis und des wahren Weltzugangs beigegeben.

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Wenden wir uns nun noch einmal dem Werk Thomas Lindners zu. Die kinetischen Objekte, die seit anderthalb Jahrzehnten einen wesentlichen Schwerpunkt seiner Arbeit bilden, haben wir gestern Abend schon kennen gelernt. Wenn die Inszenierung von Bewegung und damit die Darstellung der Veränderung und des Lebendigen an sich einen so großen Stellenwert für einen Künstler hat, liegt es nahe, dieser Spur auch in seinen nicht-kinetischen Plastiken nachzugehen. Stellt sich hier ebenfalls Bewegung und Veränderung dar?

Beginnen wir beim Lapislazuli in der Schwanseestraße. Da ist es einfach: Natürlich ist hier Bewegung dargestellt, und sei es als optische Täuschung des sich auf die Stele zu bewegenden Betrachters. Denn Lapislazuli ist – nach der Kristallstruktur des kostbaren ultramarinblauen Minerals – ein Rhomben-Dodekaeder aus Lochblech. An den kleinen Löchern bricht sich das Licht, die Strahlen interferieren, löschen sich aus oder verstärken sich, und bei jedem Schritt zeigt das Zehneck andere Wabenmuster aus Schattenflächen und veränderlichen Lichtpunkten.

Wie sieht es mit den Bewegungen in den Großplastiken aus – Magic im Hauptbahnhof, Zum Licht hier, Germe, der „Keim“, die Wandlung oder der Kleine Aufstieg? Anhand der Fotogramme und Emaillearbeiten Thomas Lindners hatte ich gestern Abend bereits die Spirale erwähnt, die thematisch nahezu allen nicht-kinetischen Werken Lindners zugrunde liegt. Wir hatten sie als Kreissegmente in den Fotogrammen und Emaillen gesehen. Und diese Kreissegmente begegnen uns auch in der Wandlung, im Kleinen Aufstieg und dem „Keim“ – Germe. Germe sieht aus wie eine Schlange. Die Plastik scheint sich durchs Gras auf uns zu zu bewegen. Wenn man sie ansieht, wartet man im Grunde darauf, daß der Buckel verschwindet, sich eine andere Stelle der Schlange aufbäumt und sie sich fortbewegt. Im Kleinen Aufstieg sind die Kreissegmente durch einen statischen Block getrennt. Er stört und irritiert, da er den Fluß der Bewegung erkennbar hemmt. Wir begegnen aber auch in Magic der Spiralform. Sie erscheint hier als verdrehtes Band. Denn Magic ist eine Art Möbiusband, das zwar in sich zurückkehrt, aber auf die eigene Rückseite. Das Identische wird auch hier nicht abgebildet.

Wir sehen an diesen Beispielen die Leistungen der Spiralform: Sie erscheint im Werk Thomas Lindners als Bild für das Leben, das sich zyklisch wiederholt, aber nie wirklich in einen alten Zustand zurückkehrt, sondern sich immer weiter entwickelt. So kann die Spirale gewissermaßen „eingefrorene“ Bewegung darstellen. Die Werkaussage ist von der der kinetischen Objekte also gar nicht weit entfernt. Und so kehren wir auch in dieser Rede zu den Gedanken des gestrigen Abends zurück, ohne sie die Worte einfach zu wiederholen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar