„Gratwanderung. Plastiken. Fotomontagen. Thomas Lindner“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kloster Mildenfurth, Sa, 4. September 2010, 14 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Gratwanderung“ nennt Thomas Lindner seine aktuelle Ausstellung von Plastiken, kinetischen Objekten, Fotogrammen und Fotomontagen. „Gratwanderung“ – der Titel ist in die unterschiedlichsten Richtungen auszulegen.

Zum einen charakterisiert er die aus fast hauchzartem Blech zusammengesetzten kinetischen Objekte. Diese Objekte befinden sich ständig in einem prekären Gleichgewicht, stets bereit – oder stets in Gefahr, in ihrer Ruhe gestört zu werden und sich erst nach einigem Schwingen in einer neuen Position wieder die Waage zu halten. Das prekäre Gleichgewicht untereinander ausbalancierter Naturgesetze, stets in Gefahr zu kippen: eine ständige Gratwanderung.

Zum andern beschreibt der Begriff die Doppeldeutigkeit der Fotomontagen und Fotogrammen Thomas Lindners. Mal konkret („Weißer Schatten“, „kleiner Kosmos“, „o.T.“ – Arbeitstitel „Licht“) – mal seriell („Kleeblatt“) – mal poetisch („Erwachen“, „letzter Schnee“), sind die Bilder in der Regel mehrdeutig und janusgesichtig. Sie sind nicht leicht zu entziffern. Mal werden Gegenstände zu bloßen Linien aus Licht. Mal werden die Figuren überlagerter Fotos, am Computer verfremdend nachkoloriert, zu bloßen Farbflächen, die keinem uns bekannten Gegenstand mehr zuordenbar scheinen. In der Reduktion ihrer Ausschnitthaftigkeit verlieren die Bildobjekte ihre klar umrissene Identität. In der visuellen Interaktion der Bildgegenstände einer Fotomontage geht aus zwei wohldefinierten Objektfotografien etwas Drittes, Neuartiges hervor.

Seit längerem beschäftigt Thomas Lindner das Fotogramm, wörtlich aus dem griechischen übersetzt das „Schreiben mit Licht“. „Das Licht als ein faszinierendes und ‚unbegreifliches Medium’“, hatte der Künstler selbst einmal formuliert, „das Licht mit seinen unendlichen Facetten erlangt für mich zunehmend Bedeutung als Mittel der Gestaltung“. In dieser Arbeitsphase entstanden die wie Konkrete Kunst anmutenden Ablichtungen von Gegenständen, wie sie uns im „Weißen Schatten“ etwa begegnen. Der Weg, den Thomas Lindner in jüngerer Zeit mit seinen Fotoarbeiten beschreitet, ist der Weg der Fotomontage. Ältere Arbeiten werden übereinandergelegt, Bildelemente ausgeschnitten, ins Übergroße herangeholt, farblich verfremdet, bearbeitet etc. In etlichen Bildern sind zwei verschiedene Fotografien überlagert, auch wenn wir es auf den ersten Blick kaum wahrnehmen: „In Allem“ etwa zeigt deutlich den Ausschnitt eines schlammverschmutzten Kanaldeckels. Darunter aber, durch die Wimpern am linken oberen Bildrand sich verratend, ein weibliches Portrait. Auch „Erwachen“, die Spuren von Schnee im Moos, überdecken das Bild eines Gesichtes. Der „kleine Kosmos“ überlagert den spitzenbesetzten Ausschnitt eines Damenkleides mit den abstrahierenden Formen eines älteren Fotogramms des Künstlers. „Nacht“ überlagert mehr als ein Bild zur gruseligen Totenmaske eines in der Montage völlig entstellten Gesichtes: Gratwanderung also auch hier. Sie kennen es aus den Vexierbildern, die jeden Menschen als Kind besonders faszinieren: Sieht man zwei Gesichter oder die Vase, deren Schattenriß ihre Profile aussparen? Sieht man die junge, schöne Frau oder die großnasige alte Hexe? Thomas Lindners Fotomontagen sind solche Vexierbilder: Die Bildinhalte können ineinander umschlagen – einmal sieht man das, einmal jenes, dem einen fällt dies zuerst auf – dem andern das. Gratwanderung: Wie auf dem Grat eines Höhenzuges balancieren die Bildinhalte. Die Fotomontage ist spannungsgeladen, bis der Betrachter sich für die eine oder andere Seite einer eindeutigen Bildaussage entscheidet.

In einem der Bilder ist diese Entscheidung kaum möglich. Es ist meiner Meinung nach das unheimlichste Bild dieser Ausstellung: Geradezu programmatisch nämlich hat Thomas Lindner die Zwiegesichtigkeit seiner neueren Fotoarbeiten in dem Bild „Wir und Wolf“ in Szene gesetzt: Die schaurige Überlagerung von Wolfskopf und Selbstportrait beschwört das Bild eines Werwolfes, also eines Menschen, der sich bei Mondschein in einen Wolf verwandelt. Scheinbar wird hier der Moment der Verwandlung eingefangen, der Verwandlung von Dr. Jekyll in Mr. Hyde. Die Bildaussage ließe sich mit Leichtigkeit vor dem Hintergrund der klassischen psychoanalytischen Theorie lesen: Hinter der wohlgestalteten Fassade des Menschen, die wir als Ergebnis unserer Erziehung mit Verstand und Vernunft kontrollieren, lauert das triebhafte Unterbewusste, immer bereit, die glatte Oberfläche zu stören. Auch das zivilisierte Zusammenleben der Menschen ist in prekärer Balance – in so prekärer Balance wie die kinetischen Objekte. Beständig ist jemand bereit oder in Gefahr, das Gleichmaß der Konventionen zu stören. Auch unser Zusammenleben also – eine ständige Gratwanderung.

Die Plastik „o.T.“ (Abbildung auf der Einladungskarte) ist für Thomas Lindner die Manifestation dieses Grates, um den gedanklich die ganze Ausstellung kreist. Dieser plastische Grat ist die Metamorphose eines anderen früheren Kernthemas in Thomas Lindners Arbeiten. Der Grat ist nämlich die ins Schroffe und Eckige übersetzte Spirale.

Auch Spiralformen treffen wir in dieser Ausstellung noch an: In der „Wandlung“ etwa oder in „Anfang – Ende“, aber auch in den geschichteten Halbkreissegmenten, ebenfalls „o.T.“. Eine Zeitlang durchzog die Spiralform das Werk Thomas Lindners wie ein roter Faden: Fotogramme und Plastiken, auch die Großplastiken wie „Germe“ oder „Zum Licht“, die in der „Skulptur. Weimar. 2009“ im öffentlichen Raum zu sehen waren – alle Arbeiten schienen die Idee der Spirale zu umkreisen. Was bedeutete die Spirale damals im Werk Thomas Lindners? Nun – die Spirale erscheint hier als Bild für das Leben, das sich zyklisch wiederholt, aber nie wirklich in einen alten Zustand zurückkehrt, sondern sich immer weiter entwickelt. (Sie kennen das Gedankenspiel von Differenz und Wiederholung: Man kann nicht dasselbe wiederholen, da die Wiederholung selbst immer bereits die Differenz zum Ursprünglichen ausmacht.) So kann die Spirale gewissermaßen „eingefrorene“ Bewegung darstellen.

Das Leben als die Bewegung selber ist natürlich der künstlerische Antrieb zu allen kinetischen Objekten Thomas Lindners. Ihre Fragilität, ihr Reagieren auf jeden Luftzug, die reine, man möchte sagen: unschuldige Ästhetik ihres intentionslosen Tanzes ist es, die uns in den Bann dieser Objekte zieht.

„Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren: Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ist’s“ hat Friedrich Schiller einmal in einem Aphorismus formuliert. Nun haben wir hier keine Pflanzen, sondern Metallobjekte. Und dennoch möchte ich Schillers Aphorismus auf sie übertragen. Denn was uns an den sensiblen, reaktiven und reflektierenden Mobiles fasziniert, scheint etwas beinahe Spirituelles, Geistiges zu sein. Die Kunstwissenschaftlerin Susanne Hebecker hat über die kinetischen Objekte Thomas Lindners einmal geschrieben, dieses Formenuniversum sei ständig in Bewegung, „doch seine Quelle ist die Ruhe.“ (Katalog Erfurt 2000, S. 13) Das finde ich sehr gut: Die Quelle der Bewegungen ist die Ruhe, und deshalb teilen die Objekte diese Ruhe mit. Sie schlagen uns in ihren Bann, weil ihre Bewegungen uns im tiefsten Sinne angemessen sind. Und sie sind dies paradoxerweise, eben gerade weil sie sich dem bewussten Zugriff des Menschen entziehen. Wir können nur stehen und staunen, wie die Natur in dem winzigen Ausschnitt eines kinetischen Objektes ihr Gleichgewicht wiederfindet. Wir können die Bewegungen und das Wiederfinden der Ruhe weder machen, noch beschleunigen, wir können es nicht festhalten, nicht mal bildlich, in der Fotografie. Jedes Eingreifen stört und zerstört das Phänomen. Wenn es uns aber gelingt, uns diesen Bewegungen hinzugeben, bekommen wir von ihnen die Ruhe zurück, aus der sie kommen. In der ständigen Gratwanderung zwischen der bewussten Aktivität, zu der es uns drängt und dem Geschehen-Lassen, nach dem wir uns sehnen, ziehen die scheinbar schwerelos schwebenden Plättchen uns auf die Seite der Ruhe und der Gelassenheit. Ich muß, wenn ich diese Objekte sehe, immer an das fernöstliche Tai-Chi denken, an diese ruhigen Bewegungen, die Stimmungen ausgleichen, die Energieströme regulieren und den Menschen zu sich selbst zurückführen: zu dem Teil in uns, der größer ist als wir selbst.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar