„Invisible. Jörg Kuplens – Balance. Thomas Lindner“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Bitterfeld, Galerie am Ratswall, Donnerstag, 29. April 2010, 19 Uhr
Sehr geehrte Damen und Herren,
man möchte den Atem anhalten, wenn man den kinetischen Plastiken Thomas Lindners zum ersten Mal begegnet. So zart wirken sie. Und man merkt es sofort: Die Objekte mit den sprechenden Namen („Schwingung“ – „horizontale Balance“ – „Kleines Wolkenbett“) reagieren auf den Betrachter. Jeder Lufthauch bringt sie aus dem Gleichgewicht. Sie scheinen mit uns zu kommunizieren, wenn sie unsere Bewegung aufnehmen und noch eine ganze Zeitlang weiterführen. So erinnern die kinetischen Objekte Thomas Lindners an sehr empfindsame Menschen, die über jede Unstimmigkeit in der Kommunikation, über jede heftige Erregung tagelang nachdenken. Man möchte den Atem anhalten.
Und doch auch wieder nicht: Denn es sind eben die langen ruhigen Schwingungen der Metallplättchen, die uns in den Bann dieser Kunstwerke ziehen, die uns reizen, jedes womöglich einmal stillstehende Objekt anzustoßen, gewissermaßen zu provozieren und es zu seinen fließenden Bewegungen anzuregen. So sind die Objekte häufig in Bewegung, doch, wie Susanne Hebecker in einem Katalogbeitrag zu Thomas Lindner einmal schrieb, „ihre Quelle ist die Ruhe“. Das ist das Fesselnde an Thomas Lindners Arbeiten: Keine tiefere Freude, als an der Ruhe teilhaben zu können, die in den harmonischen Bewegungen, man möchte sagen: in den Tänzen seiner kinetischen Objekte erlebbar wird.
Nicht: greifbar wird. Denn greifbar sind sie eben gerade nicht. Auch darum sind diese Plastiken so reizvoll: Weil wir ihre Bewegungen wie auch das Wiederfinden ihrer Ruhe weder beschleunigen, noch aufhalten, ja nicht mal im Bild festhalten können. Das zeigen Katalogabbildungen der Objekte, die nur verschiedene Zustände des einen Werkes abbilden, nie aber sein eigentliches Wirken einfangen können. Zumal jede Rückkehr in den Zustand des Gleichgewichts anders ausfällt: Man wird schwerlich behaupten können, jede Facette eines solchen Werkes zu kennen. Und so können wir nur stehen und staunen, wie die Natur in dem winzigen Ausschnitt eines kinetischen Objektes letztlich immer ihr Gleichgewicht wiederfindet.
Wenn es uns gelingt, für Momente in der Betrachtung dieser Bewegungen zu versinken, vermitteln die tanzenden Objekte geradezu spirituelle Erfahrungen. Denn wenn wir uns den Bewegungen der Objekte hingeben, lassen sie uns an der Ruhe teilhaben, aus der sie kommen. Übertragen auf den Menschen ließe sich wohl an die Bewegungen des Tai-Chi denken, die Stimmungen ausgleichen, die Energieströme regulieren und den Menschen zu sich selbst zurückführen: zu dem Teil in uns, der größer ist als wir selbst.
So spirituell das alles klingt, so wenig wurde doch die Balance der kinetischen Objekte Thomas Lindner etwa im Traum offenbart. Sie ist vielmehr das Ergebnis jahrelanger, wiederholter akribischer Experimente. Denn die Bewegungen der Kunstwerke entstehen aus dem Zusammenspiel verschiedener Naturgesetze wie Gravitation, Trägheit und Impulserhaltungssatz, die im ausgeklügelten Versuchsaufbau jedes Mal miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Der Wettstreit der Naturgesetze führt, wenn das Gleichgewicht gestört wird, zu den ästhetischen Spuren im Raum, die wir im Anblick der Objekte genießen. Es sind regelrechte Choreographien, die die ausbalancierte Natur hier mit jeder Bewegung vollführt: Choreographien im ursprünglichen Wortsinne der „Beschreibung des Raumes“ (das ist die einfache Übersetzung dieses Wortes aus dem griechischen: Chora der Raum, graphein, schreiben). Choreographien aber auch im übertragenen Sinne des Tanzes – und damit sind wir wieder bei der Spiritualität, die mir die Anziehungskraft dieser kinetischen Objekte auszumachen scheint. Denn Gottesdienst und Tanz waren über Jahrtausende hinweg untrennbar miteinander verbunden.
Kehren wir aber noch einmal zu dem Gedanken des Nicht-Festhalten-Könnens der balancierenden Bewegungen zurück. Thomas Lindner selbst kennzeichnet den Kern seiner Arbeit als „empirische Suche nach Formen, Formgebilden und Strukturen, die Erscheinungen des Lebens beschreiben.“ So wird er auf der Internetseite des Verbandes Bildender Künstler Thüringens zitiert. Seit fünfzehn Jahren beschäftigt sich der Künstler nun schon mit kinetischen Objekten. Die hohe Metallfedern, Aluminiumplatten, kleine und große Kreise, die mit einer einzigen Spitze auf einem Metallstab aufruhen oder Mobiles aus aneinandergehängten Messingplättchen machen einen wichtigen Teil seines bisherigen Gesamtwerkes aus. Welche Erscheinung des Lebens motiviert Thomas Lindner zu immer neuen kinetischen Objekten? Ist es die ständige Veränderung, die sich aus der Balance von Naturgesetz und zufälliger Störung ergibt? Das, so könnte man in der Tat sagen, ist das Leben. – Oder sind es doch eher die Lichtreflexe, die die Metallplättchen in ihren Bewegungen durch den Raum werfen?
Denn auch dies hebt Thomas Lindner hervor: „Das Licht als ein faszinierendes und ‚unbegreifliches Medium’ mit unendlichen Facetten erlangt für mich zunehmend Bedeutung als Mittel der Gestaltung“. Damit meint der Künstler in erster Linie seine fotoexperimentellen Arbeiten, in denen er zwar nicht den Raum, aber Fotopapier von Licht beschreiben lässt. Aber wir brauchen nur einen Blick auf die kinetischen Objekte zu werfen, um wahrzunehmen, daß auch in diesen Arbeiten das Spiel des nicht einzufangenden Lichtes einen wesentlichen Teil der Faszination ausmacht.
Ich habe den Verband Bildender Künstler Thüringens erwähnt, dessen Mitglied Thomas Lindner nun schon seit etlichen Jahren ist. Ich möchte hier einige Sätze zur Biographie des Künstlers anschließen, da die Einladungskarte hierzu nichts verzeichnet.
Thomas Lindner wurde in Dresden geboren und absolvierte nach der Schulzeit zunächst eine Lehre zum Werkzeugmacher. Zu Ende der Lehrzeit begann er ein Abendstudium in den Fächern Malerei und Grafik an der Hochschule der Bildenden Künste Dresden, das er nach drei Jahren erfolgreich abschloß. Es folgte ein Studium der Metall- und Emailgestaltung an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein in Halle bei Prof. Irmtraud Ohme. Seit Anfang der 90er Jahre ist Thomas Lindner als Künstler freiberuflich in Erfurt tätig. Seither nahm er an internationalen Symposien teil und wurde mehrfach durch Arbeitsstipendien der Stiftung Kulturfonds Berlin bzw. des Thüringer Kunstministeriums ausgezeichnet. Thomas Lindner stellt bundesweit aus und ist durch etliche Werke im öffentlichen Raum vertreten.
Schenken wir nun, abschließend, den übrigen, nicht-kinetischen Plastiken Thomas Lindners Beachtung, da auch solche Werke hier in der Ausstellung vertreten sind. Welchem Geheimnis des Lebens ist Thomas Lindner mit ihnen auf der Spur? Nun – ihr Geheimnis ist vom Kern der kinetischen Arbeiten nicht zu trennen. Auch hier wird Bewegung thematisiert, wenn auch als eingefrorene. Die Form der Spirale ist die Grundlage – ich würde wirklich sagen: aller nicht-kinetischen Arbeiten Thomas Lindners (sogar der Stele für Pößneck, in der sich die Zeilen „daß Friede sei auf Erden“ in vier Sprachen-Blöcken deutsch, polnisch, französisch und hebräisch ebenfalls spiralförmig in eine lange viereckige Stele graben). Der Künstler reflektiert dabei die Spirale als Bild der zyklischen Zeit in ihrer Veränderung, als Symbol des Lebens als der Unwiederholbarkeit des Identischen. Das Band, das nicht in sich selbst zurückkehrt, treffen wir in Thomas Lindners Werk wiederholt an: Als in sich verdrehtes Möbiusband (im Werk „Magic“), in dem sich paradoxerweise Vorder- und Rückseite ständig verkehren. Oder hier als in Spiralform geschnittenes und aufgefächertes Metallquadrat („Anfang – Ende“).
In den „Stufen“ und in der „Wandlung“ erscheint die Spirale zerdehnt wie eine zerstörte Feder, die ihrer Elastizität beraubt wurde und nicht mehr in ihre ursprüngliche Form zurückkehren kann. Doch auch in diesen Werken deuten die Arbeitstitel den von Optimismus und Lebensbejahung getragenen Aussagekern der Kunstwerke an: Das Wort „Wandlung“ impliziert nie Zerstörung, sondern lässt uns Entfaltung assoziieren und einen Schritt hin auf das eigentliche Wesen. Und „Stufen“ evoziert das wohl berühmteste Gedicht von Hermann Hesse, das den Gedanken an Zerstörung nicht zulässt und mit seiner Bejahung aller Veränderung schon mehrere Generationen von Menschen jeden Alters fasziniert und getröstet hat:
„[...] Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten“, heißt es darin, „an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten! [...] Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden: des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Vielen Dank!
Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar