„Ernst Lewinger, Arbeiten auf Papier“
Rede zur Ausstellungseröffnung
Galerie Finkbein, Gotha, 18. Oktober 1998
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn wir die verwinkelte Galerie Finkbein betreten, ist es, als würden wir in eine Wunderwelt eintauchen. Bis in die Hinterzimmer hinein und bis unter die Decke sind die Räume mit Kunstwerken und Literatur vollgestopft, so daß die Galerie als Gegenwelt zu dem geschäftigen Treiben erscheint, dem wir soeben entronnen sind. Eben noch im Stadtverkehr oder gar auf der Autobahn, genießen wir hier die Langsamkeit, die Ruhe und die Kontemplation, zu der die Kunst uns auffordert und ohne die die Kunst nicht existieren kann. Sind wir draußen ständig gezwungen zu reagieren, so ist uns hier endlich eine Möglichkeit gegeben zu erinnern, eigene Gedanken zu entfalten und aus dem Fundus unserer wiedergefundenen Identität sehr viel selbstbestimmter zu handeln.
Die Zeichnungen und Pastelle von Ernst Lewinger führen uns noch tiefer in eine solche Gegenwelt der Verlangsamung und der bewertenden Rückschau hinein. Jedes der Werke ist eine Insel, ein Avalon, ein entrücktes Paradies, das eher zu ahnen als zu greifen und zu begreifen wäre.
Sehen wir uns einige der Pastelle an: Verhangene, zurückgenommene Farborgien eines als glühend nur rekonstruierbaren Himmels bilden den atmosphärischen Grundton für eine kaum erkennbare weite Landschaft; schemenhaft angedeutete Figurenkonstellationen fangen den Kern zwischenmenschlicher Begegnungen ein, der in Worte nicht zu fassen ist und deren tieferen Sinn klare Bilder mit ihren allzu deutlichen Aussagen immer verfehlen müssen.
Ernst Lewingers Landschaftsbilder sagen nicht aus, sondern sie entziehen. Sie treten uns nicht offensiv, farbintensiv und laut mit ihrer Schönheit gegenüber. Leise verschwinden sie im Nebel oder im undeutlichen Zwielicht von Morgen- oder Abenddämmerung. – Je mehr aber der Künstler durch die Art der Darstellung mit dem Sujet einer Darstellung hinter dem Berge hält, umso schwerer macht er es dem Betrachter, sich seinen Bildern zu verschließen. Von Lautem können wird uns abwenden, denn wir wissen, es wird uns weiter verfolgen. Von Leisem lösen wir uns sehr viel schwerer, weil wir fürchten, es im nächsten Moment bereits zu verlieren. Einen Brand löscht man aus, dem Kaminglühen rücken wir näher. Vor schreienden Stimmen laufen wir davon oder wir überschreien sie noch, vor einem Leben, das sich nur im Hauchen äußert, gebieten wir jedem andern zu schweigen und rücken näher heran, um verstehen zu können. Je verhangener die Sicht ist, desto genauer achten wir auf den Weg.
Durch die schemenhafte Darstellung seiner Landschaften und Figuren zieht Ernst Lewinger den Betrachter selbst in das Bild hinein: Wir sind es selber, die den Nebel auflösen wollen, um genauer zu sehen. Nähern möchten wir uns den Figuren, die da so selbstgenügsam ihres Weges gehen und die wir von unserem Platz aus – außerhalb des Bildes – so schlecht erkennen können. Wir möchten uns in die Pastelle hineinbegeben, wie wir uns auch den Bildern der Sprache, den Phantasien der Literatur gerne überlassen. Der Nebel über der Landschaft, den wir zerteilen möchten, um genauer zu sehen, die mystische Beleuchtung oder das scheinbar dämmrige Vergehen des Lichts macht uns, die Betrachtenden, zu Beteiligten der dargestellten Situation.
Natürlich liegt es nahe, auf Literatur zu sprechen zu kommen, wenn man über Ernst Lewinger spricht. Ein wesentlicher Teil seines Werks besteht in den Illustrationen klassischer Literatur. Bereits 1968 hat der Kunsthistoriker Lothar Lang in einem Artikel in den Marginalien auf diese Arbeiten Lewingers hingewiesen (diesen Artikel verdanke ich übrigens Herrn Finkbein): „Er ist ein begabter Illustrator“, bemerkt Lang, und „Lewinger schreibt Bildszenen aufs Papier, die die Erlebniskraft des Wortes bannen wollen.“ Bezeichnet die Kunstgeschichte Josef Hegenbarth, einen Lehrer Ernst Lewingers, als einen der bedeutendsten Illustratoren des 20. Jahrhunderts, so scheint Lothar Lang die Reihe der großen bildkünstlerischen Interpretatoren der klassischen Literatur um Lewinger erweitern zu wollen:
„In Lewinger haben wir einen Illustrator mit eigener Sicht. Seine feinen Bilder verbildlichen, erhellen, geben Atmosphäre. Sie machen sichtbar. Deutend äußert sich Lewinger nur zögernd und zurückhaltend: er ist ein feinsinniger Diener der Literatur. [...] Es gibt unter den Jüngeren nur wenige Illustratoren, die so der Literatur dienstbar sind und dennoch gleichzeitig eine überaus kultivierte Zeichenkunst bieten.“
Soweit Lothar Lang.
Im Zeitalter des „Buches zum Film“ haben phantasievolle, prägnante Illustrationen einen schweren Stand. In der Ära der Information und des billigen, möglichst schnell konsumierbaren Taschenbuches stellen Zeichnungen zum Lesestoff einen Ballast dar, der zur Information nichts hinzuzufügen und daher nur unnötig den Buchpreis in die Höhe zu treiben scheint. Illustrationen wie die Zeichnungen Lewingers sind nicht konsumierbar. Ihren eigentlichen Wert entfalten sie erst, wenn man ihnen zugesteht, eine Gegenwelt zur schnellebigen Geschäftigkeit des Informationszeitalters aufzubauen.
Denn auch die Zeichnungen haben dieses Sich-Entziehen durch die Art der Darstellung. Zwar haben sie nicht das Verwischte und Verhangene der Pastellkreiden. Doch die Dichte der Federstriche, die jede Zeichnung bis an den Blattrand anfüllen, diese Dichte erzeugt denselben Effekt. Auch in den Zeichnungen muß man sehr genau hinschauen, bevor die Situation erfaßt werden kann: Die Figuren, die Situation, die Gesten, die Beziehung, die in den Gesten zum Ausdruck kommt; die Räume, die Einrichtung, das Licht, die Spiegelungen; das Milieu, die Atmosphäre, die Stimmung, ja selbst die Tageszeit – all das ist in Verdichtung und Lichtung tausender winziger Federstriche eingefangen. Wir spüren, wie differenziert hier dargestellt wird. Fast glauben wir, die eben von den Figuren gesprochenen Worte zu hören – etwa in den Opernszenen oder den illustrierten Dramen. Dieselbe Dichte, die das Bild auf den ersten Blick so schwer in seiner Ganzheit entschlüsselbar macht, dieselbe Dichte zieht uns in die dargestellte Situation hinein.
So wird auch der Stil verständlich, dem Lewinger sich für seine Arbeiten zugewandt hat. Wie schon Lothar Lang bemerkte, besitzt Ernst Lewinger eine unverwechselbare Sprache. „Der Zeichner könnte Anregungen von Klee und Kubin, ja selbst von Scheurich empfangen haben, gewiß ist das nicht: fremde Impulse führten längst zu Eigenem.“ – Wer waren die direkten Lehrer Ernst Lewingers? Da ist zunächst Edmund Kesting (1892-1970), der schon 1919 eine eigene Schule gegründet hatte, in der er Grundlagenstudium und Gebrauchsgraphik in den Unterricht mit aufnahm. Als Lewinger geboren wurde, Anfang der 30er Jahre, experimentierte Kesting gerade mit Bildcollagen, mehrfachbelichteten Photographien, mit dem expressionistischen und dem surrealistischen Ausdruck. Kesting unterrichtete Lewinger sehr bald nach dem Krieg. 1948-51 studierte Lewinger in Dresden bei dem bereits genannten Josef Hegenbarth (1884-1962) und Hans Theo Richter (1902-1969). Dem einen – Hegenbarth – könnte die Hinwendung zur Illustration, dem anderen – Richter – die Beschränkung der bildnerischen Mittel und die Intensität der Figurendarstellungen geschuldet sein. Anfang der 50er Jahre schloß sich ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in West-Berlin an. Hier unterrichtete seit 1950 Hans Uhlmann, wohl der berühmteste unter den Lehrern Lewingers, aber wohl auch der, von dessen Werk Lewinger sich am weitesten entfernt hält. Uhlmann (1900-1975), von Hause aus Ingenieur, arbeitete seit Ende der 20er Jahre als Bildhauer und wurde durch seine Kunst im öffentlichen Raum – streng geometrisierte Skulpturen aus Metallgestellen – bekannt.
Soweit ich sehe, haben die Lehrer Lewingers vor allem eines gemeinsam: Sie experimentieren mit neuen Formen, gehen mit dem Trend einer Zeit, die der Kunst die expressive Verfremdung, die surrealistische Übersteigerung der Realität, die bewußt blutleere Ästhetik der Konkreten Kunst abverlangt. Verfremden muß in den 30er Jahren sogar schon die Photographie, die durch Collagen, Montagen und Mehrfachbelichtungen in der Kunst ihre Abbildfunktion übersteigt.
Vor diesem Hintergrund ist der Stil Ernst Lewingers zu bewerten, der so traditionell anmutet und doch so revolutionär unzeitgemäß ist. Verdeutlicht man sich die Bildung, die Lewinger durchlaufen hat, so sieht man, daß er alle Möglichkeiten hatte, andere Ausdrucksweisen in ihrer Aussagekraft zu studieren und zu erlernen. Doch Lewinger wendet sich einem Stil zu, der traditionell und mimetisch – die Natur nachahmend – zu sein scheint. Doch ist er es wirklich? Bilden die Arbeiten Lewingers die Welt ab, die wir noch kennen können? Ich habe eingangs versucht, unser alltägliches Leben zu beschreiben. Es besteht für die meisten von uns aus einem Schreibtisch und einem Telefon, Zug oder Auto, einem Hochhaus oder einem Straßenzug, den Kühlregalen der Kaufhalle und in der Küche dem elektrischen Herd neben dem Wasserhahn der Spüle. Fast nichts von dem bildet Lewinger ab. Seine Bilder halten eine Welt fest, die vergangen ist. Sie halten Traditionen wach, auf denen unsere Kultur und selbst unser Alltagsverständnis durchaus noch fußen, die aber in unserem Leben verschwunden und kaum noch auffindbar sind. Wo ist noch die weite Landschaft, die nicht von einer Straße durchschnitten würde? Wo sind die gesellschaftlichen Regeln, die in Kleiderordnung und den Konventionen der Sprache und der Gestik den Umgang der Menschen sicherer gemacht hatten? Die ikonographischen Muster sind noch da, die all dies darzustellen helfen. Theater und Film bauen auf diesen Mustern auf.
Lewingers Zeichnungen und Pastelle scheinen ein Versuch zu sein, diesen Mustern in ihren Ursprüngen noch einmal nachzuspüren und sie nach allen Regeln der Kunst zu entfalten. Es wird nicht auf etwas beharrt, in diesen Bildern, sondern es wird etwas zurückgeholt. Ich habe eingangs über Anstoß und Möglichkeit zur Erinnerung gesprochen, die die Kunst verleiht. Auf der Grundlage einer erinnernden Kontemplation können wir uns überprüfen und finden zu uns selber zurück. Ernst Lewingers Arbeiten verkörpern dieses Potential der Kunst ganz besonders. Der Kern seines Werks scheint mir in einer Betrachtung des Lebens und einer Rückkehr zu sich selber zu liegen, die mich an eine Textstelle aus Schillers Wallenstein erinnert. Die Figur der Thekla, Wallensteins Tochter, formuliert da:
„Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an,/ wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt,/ und froher kehr ich, wenn ich es gemustert,/ zu meinem schönern Eigentum zurück.“
Mit diesem Zitat möchte ich schließen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen und geruhsamen Sonntag und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Cornelie Becker-Lamers