„Wilhelm Lachnit 1899-1962. Malerei und Graphik“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Finkbein, Gotha, 7. November 1999

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

eine Ausstellung zum 100. Geburtstag eines Künstlers oder einer Künstlerin stellt immer die Frage nach dem bleibenden Platz des oder der betreffenden in der Kunstgeschichtsschreibung. Die Anzahl der Zeitgenossen dezimiert sich, Freunde und Schüler, die Auskunft über den Künstler als Menschen geben könnten, werden älter, lebendige Erinnerungen beginnen sich mit bereits aufgeschriebenen Erzählungen, Zuschreibungen und Legenden zu vermischen. Was der Nachwelt zuverlässig bleibt, ist die Gestaltung des künstlerischen Werkes selber, das nun – mit größer werdendem zeitlichen Abstand zum Prozeß und den Bedingungen des künstlerischen Schaffens – um so klarer hervortreten und um so klarer gesehen und verglichen werden kann.

Die Frage, um zum Anlaß des heutigen Tages zurückzukommen, die Frage, ob man Wilhelm Lachnit einen bleibenden Platz in der Kunstgeschichte sichern kann und sollte, haben die Galerie Finkbein, der Gothaer Kunstverein, das Schloßmuseum Schloß Friedenstein Gotha, im Februar nächsten Jahres auch das Albertinum Dresden dadurch schon mit „ja“ beantwortet, daß eine Jubiläums-Ausstellung zur Ehrung des Werkes Wilhelm Lachnits überhaupt eröffnet wird. Sie, das Publikum, haben die Frage mit „ja“ beantwortet, indem Sie erschienen sind. Soweit sind wir also uneingeschränkt einig.

Spannend aber wird sicherlich weiterhin die Frage bleiben, welchen Platz man dem Werk Wilhelm Lachnits zuweisen sollte, die Frage, wie man seine Arbeiten vor dem Hintergrund des 20. Jahrhunderts kunstgeschichtlich einordnen kann, welche Gewichtung vielleicht innerhalb des in so vielen Techniken meisterhaften Werks getroffen werden kann.

Nun finden wir für Künstler, deren 100. Geburtstags wir gedenken, in der Regel bereits eine Verortung in der Kunstgeschichte vor, die es zu bestätigen oder zu modifizieren gilt. Im Falle Wilhelm Lachnits steht am Anfang dieses Prozesses ein Problem: Liest man die Kataloge zu seinen Personalausstellungen der 60er bis 80er Jahre gegen die Berichte von Zeitzeugen wie Freunden, Schülern und Kollegen Lachnits, scheinen da nicht nur zwei verschiedene Menschen, sondern zwei verschiedene Künstler verhandelt zu werden. Auf der einen Seite die lebenslustige und kreative, zeitweilig melancholische und tiefphilosophische Künstlergestalt, lustig, rundlich und dem Wein nicht abgeneigt, zu den Damen charmant, zu den Männern aus Souveränität kollegial, aufgeschlossen gegenüber künstlerischen Strömungen und Entwicklungen, gleichwohl stets eine eigene Handschrift bewahrend, ein Meister der Linie, der duftigen und leichten Farbigkeit, der hintergründigen Allegorie, der symbolischen Darstellung. Werke „von großer Mystik und Religiosität“ bescheinigt ihm Hermann Naumann in dem Text, den er für unseren Katalog in diesem Sommer verfaßt hat, und Harald Metzkes denkt eine Bemerkung Waldo Köhlers zum Werk Wilhelm Lachnits weiter (Köhler hatte gesagt, Lachnit sei „so katholisch in der Farbe“): „Von Waldo Köhlers Bemerkung trifft das zu: Das ist nicht unsere Stadt- und Landluft. Wir betreten einen Stille erzeugenden Raum, eine hohe Halle, oder erleben die Spiegelung einer Sache, die ein ganzes Stück weiter weg von uns ist.“ Zur Erforschung des Lachnitschen Werks wünscht Metzkes sich „Astronomen“, die die Sphärenharmonien dieser künstlerischen Bahnen entdecken und deuten könnten. „Ich sah Bilder, deren Feuer mich wärmte, deren Lichtschein Falter anlockte. Ich sah Bilder, einer einzigen Kehle gleich, die fast vergessene Schreie noch einmal brachten zur Welt“, heißt es in einem Gedicht der Reihe Atelierszenen. Für Wilhelm Lachnit von Ulrich Grasnick. Was also sehen wir? Einen Künstler, besessen von der innerkünstlerischen Entwicklung seiner Arbeit, einen Unpolitischen, der die Autonomie der Kunst verteidigt, „grundbürgerlich“, ein „Salonkommunist“, wie Helga Jüchser uns gesprächsweise sagte, in der KPD in den 20er Jahren nur, weil er in den Kommunisten die wirklich einzige gesellschaftliche Kraft gegen Hitler sah. (Helga Jüchser, zur Information, ist Jahrgang ’38, hier also ihrerseits auf Erzählungen angewiesen.)

Und die Kunstgeschichtsschreibung? Was zeichnet sie für ein Bild? Da ist der Sproß des Proletariats, Sohn eines Tischlers, die Vorfahren mährische Weber. Als drittes von sechs Kindern in Gittersee bei Dresden geboren, im Grundschulalter in die Großstadt umgesiedelt, seit dem 15. Lebensjahr in der Ausbildung zum Lackierer und Schriftmaler. Das durch die Lebensumstände behinderte Genie, gezwungen zur Abendkurs-Autodidaktik im Künstlerischen, bis die erfolgreiche Revolution des Proletariats ihm eine Freistelle zum Studium der Malerei und Graphik an der Dresdner Akademie für Bildende Künste verschafft. Schon 1922 kauft die Leningrader Eremitage das Gemälde „Dresdner Bahnüberführung“ an. 1925 Eintritt in die KPD, 1929 Mitbegründer der Dresdner Ortsgruppe der ARBKD, auch ASSO genannt, d.h. der „Assoziation revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands“. Ausstellungs- und zum Teil Arbeitsverbot im Dritten Reich. Verlust fast aller Arbeiten beim Bombenangriff auf Dresden im Februar 45. Und dann? Obwohl Wilhelm Lachnit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum bis überhaupt nicht an seine z.T. proletarischen und klassenkämpferischen Sujets der 20er Jahre angeknüpft hat, obwohl er in keinster Weise politisch engagiert war, ja sogar von der Lehrtätigkeit, die er seit 1947 an der Dredner Hochschule für Bildende Künste ausübte, 1953/54 wieder suspendiert wurde, weil sein Arbeitsstil als „zu experimentell“ und „nicht eindeutig im Einklang mit dem Hochschulprogramm“ befunden wurde, trotz alldem wird in den Katalogen zu Personalausstellungen Lachnits in den 60er bis 80er Jahren – spätere gab es bis zur heutigen Ausstellung nicht – der politische Impetus des Frühwerks auf die später entstandenen Arbeiten projiziert. Schon das Frühwerk zeige die Neigung Lachnits „zu sinnbildlicher Darstellung der unantastbaren Würde sozial gefährdeter menschlicher Existenz“, heißt es da etwa, oder: „wo Dix aggressiv, gleichsam mit scharfem Messer sezierte und so die häßliche Anatomie des bourgoisen Klassenstaates bloßlegte, spürte Lachnits Verismus in der Enge und Nüchternheit kleinbürgerlich-proletarischen Milieus die Wahrhaftigkeit und Würde dieses schlichten Seins auf.“ Nur Hans-Ulrich Lehmann hält in einem Katalogbeitrag zu einer Ausstellung von Pastellen, Gouachen und Aquarellen Lachnits in der zweiten 70er-Hälfte fest, daß Lachnit „auf Zeitereignisse zurückhaltend“ reagierte, nicht politisch, sondern nur sehr indirekt gesellschaftsbezogen gearbeitet hat, daß die mythologischen Themen und die allegorisch-hintergründigen Darstellungen zumindest für das Spätwerk Lachnits nach dem Zweiten Weltkrieg absolut im Vordergrund stehen.

Also was nun? Salonkommunist und Verfechter der Autonomie der Kunst oder erbitterter Kämpfer für die Sache des Proletariats? Da stehen wir nun, wir Nachgeborenen, und können ihn selber nicht mehr fragen. Aussagekräftig ist nurmehr das Werk, das wir analysieren und kunstgeschichtlich vergleichen können, freigelegt von überformenden Interpretationen, die einzelne Arbeiten oder gar den gesamten Schaffensantrieb Lachnits funktionalisieren und durch Politisierung vereinnahmen zu wollen scheinen.

So haben wir denn in dem Katalog, den wir begleitend zur heutigen Ausstellung vorlegen – übrigens der erste Katalog des Gothaer Kunstvereins – die Leser zunächst mit genau dieser Ausgangslage der diversen, zum Teil widersprüchlichen Aussagen von Freunden, Schülern und Kollegen erstens, von biographischen Fakten zweitens und von bisherigen kunstwissenschaftlichen Interpretationen drittens konfrontiert – ein Textmosaik, vielleicht darin begründet, daß in der Tat die Vielschichtigkeit eines Menschen und erfüllten gesellschaftlichen Lebens in der Zurückschau nicht auf einen eindeutigen Nenner reduziert werden kann. In einem kunstwissenschaftlichen Zugriff habe ich dann versucht, das unpolitische, überzeitlich gültige allegorische Potential der Bilder an einem Beispiel zu skizzieren, nämlich am Beispiel der berühmten Fischestilleben. Betrachtet man diese Fischebilder im Kontext der fünf Jahre zuvor bis fast zeitgleich entstandenen Serie der Bedrohungsbilder, so zeigt sich zum einen, daß die Aussage der Bedrohungsbilder weit davon entfernt ist, sich in der Darstellung der Lebenssituation Lachnits im DDR-Alltag zu erschöpfen oder eine allgemeine Verunsicherung dieses Künstlers in seiner gesellschaftlichen Umgebung zu formulieren. Zum anderen wird deutlich, wie genau und kenntnisreich Lachnit ikonographisch auch an weiter zurückliegende Darstellungstraditionen der Malerei anknüpft. Mehr verrate ich jetzt nicht, weil Sie den Katalog ja kaufen sollen.

Die Ausstellung, die heute in zwei Teilen hier in der Galerie und oben im Brettersaal im Schloß eröffnet wird, gibt einen Überblick über die verschiedensten Facetten des graphischen Werks Wilhelm Lachnits von der Zeichnung über Pastell und Aquarell bis hin zum Druck, zur Radierung, zur Monotypie. Besondere Aufmerksamkeit wäre dabei den noch relativ unbekannten, jedenfalls von uns meines Wissens erstmals im Katalog publizierten Quellebildern zu schenken, die Lachnit während einer Kur in Bad Elster 1961 schuf. Hier könnte eine weiterführende Betrachtung anknüpfen, die sich die Frage nach der Rolle des Wassers, der Darstellung des Wassers in der Kunst Wilhelm Lachnits stellt. Wie viele Akte sind Badezimmer-Geschichten, ob die Aquatinta-Radierungen Am Morgen I und II oder die zartfarbigen, orangetönigen Aquarelle ohne Titel von 1954, wie viele spielen sich am Strand ab wie der Akt mit Gitarre am Strand oder das Gewitter. Strandkorb-Szenen füllen eine Wachsstifte-Serie und auch während seiner Studienreise nach Italien 1956 fing Lachnit das südliche Flair der Stadtlandschaften in Fluß- und Uferbildern ein. Die Fischestilleben, die das Wasser im Sujet implizieren, habe ich bereits erwähnt. Die Quellebilder aber schließlich wirken wie eine Krönung dieser Darstellungsweisen, wenn sie von der erotisch dargestellten Gier nach der Quelle bis zum mönchisch-andächtigen Genuß des heiligen, heilenden Lebenselexiers im immer gleich fließenden Wasserstrahl die ganze Palette seiner Bedeutungsmöglichkeiten durchdeklinieren. (Viele dieser Bilder sind als unverkäufliche oben im Schloß gehängt.)

Die Beschäftigung mit Wilhelm Lachnit hat die eingangs geäußerte Grundthese eindrucksvoll bestätigt: Es ist ausgesprochen lohnend, sich mit diesem Oeuvre selbst, diesseits aller Interpretationen, zu beschäftigen. Wir freuen uns, daß wir mit der heutigen Ausstellung und dem begleitenden Katalog einen ersten Schritt in diese Richtung getan haben und hoffen, daß dem weitere folgen.

Ich wünsche Ihnen angenehme Stunden in der Ausstellung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers