„Dieter Krüll – Zeichnungen, Zeichenbücher, Typoscripte und Materialien zu unveröffentlichten Zeichenromanen“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Gotha, Haus der Versicherungsgeschichte, 15. Okt. 1998

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

was haben Sie gedacht, als Sie die Einladung zum heutigen Abend zur Kenntnis genommen haben, die Einladung zu Dieter Krülls Zeichnungen, Typoskripten und Materialien, die Einladung vor allem mit der Ankündigung des Künstlerbuches zur Ausstellung, eines Buches mit dem Titel Das schreiende Fell? - Ich nehme an, Sie haben nichts gedacht, aber gespürt, nämlich vielleicht eine Gänsehaut oder die leise Anfrage Ihres Magens, ob er sich nicht zusammenziehen soll. In jedem Fall werden Sie alarmiert gewesen sein und sich der Sie bestürmenden Assoziationen von Gewalt, Angst und Animalität kaum zu wehren gewußt haben. So jedenfalls ging es mir, als mir das Buch vorige Woche postalisch zuging.

Als ich freilich gelesen hatte, stellte ich fest, daß zwar nicht alles ganz harmlos, daß aber alles anders war, als ich erwartet hatte. Die Geschichte geht nämlich so: Ein Künstler - Dieter Krüll - verbringt im Sommer 1996 fünf Wochen auf einer einsamen Hütte in den Schweizer Alpen, genauer in Albinen im Wallis. Die Hütte liegt sehr weit ab von vielem, was wir mit Zivilisation verbinden. Sie ist beispielsweise weder mit dem PKW zu erreichen, noch mit Strom versorgt - eine Art Talstation zur Hütte im Wald ist auf dem Buchdeckel des Schreienden Fells abgebildet, und - Großstadtmensch, der unser Künstler von Kindesbeinen an ist - genießt Dieter Krüll Abend für Abend den ungewohnten, atemberaubenden Anblick eines mit funkelnden Lichtern übersäten Sternenhimmels. Er assoziiert das Teleskop, das von dieser Faszination hervorgebracht wurde, und er - oder es - beginnt zu zeichnen.

Dieter Krüll zeichnet, als Verbindung von technischem Gerät und Natur, von Objektiv und Objekt, von Teleskop und Asteroiden einen Figur gewordenen Stern. Einen Stern, der aus Teleskopen besteht - jedenfalls manchmal - und aus besagtem Fell, „das“, ich zitiere, „weich fließend und schimmernd einen Großteil der Stangengestalt, des Fellgestells, verdeckt [...] Dieser Plan, Stadtzimmer/ Berghütte/ treibender Ort im Sternbild Bootes, ist das Gerüst des folgenden Essays“. Schreiend ist also zunächst vor allem die Farbe des Fells, das plötzlich, lange betrachtet - und herabgewünscht? - mit dem Stern in die Berghütte hinabsteigt. Auftritt der Stern, er heißt - nach tastendem Suchen - „Formaltuh ... Tant ... Trans ... Formaltrans ... Transformaltuh ... Transhaut ... Tuhhaut ... Formalhaut“. - „Formalhaut“ werden Sie jetzt denken - nein: spüren - es geht wieder los: Formalin, da legen die Ärzte ihre Leichen ein. In der Tat ist die Assoziation sicherlich berechtigt, wenn dieser „Formalhaut“ - er bekommt als Figur der Erzählung sogar einen Vornamen: Axel - wenn also Axel Formalhaut „formal gehäutet“ oder als „morphiner Blondin“ in die Geschichte eingeführt wird. Wenn die Flecken und Krater des fernen Sterns, plötzlich so nah gedacht, zu blutroten Schrunden und Fissuren werden. Aber bleiben Sie ruhig! Auch die „Formalhaut“ ist nur wieder eine Assoziation, ein Sich-Verselbständigen der Sprache gewesen und dem arabischen Namen „Fomalhaut“ für einen Stern im Sternbild der „Fische“ abgelauscht.

Dieter Krüll hat nämlich neben allem anderen auch Orientalistik studiert. Das war Mitte der 80er Jahre. Angefangen aber hat alles ein bißchen früher in Wiesbaden, wo Dieter Krüll 1949 geboren wurde. Zwischen 1969 und 1975 studierte er an der renommierten Folkwanghochschule Essen-Werden und ist seitdem freischaffend tätig. In Puppentheatern und Zeichentrickfilmen baute er Welten und Gegenwelten, nie Realitäten abbildend, immer Realitäten setzend. Seit 1982 tritt Dieter Krüll mit Ausstellungen in Deutschland und Polen hervor, bekleidete von 1987-1989 einen Lehrauftrag an der Kunstakademie Düsseldorf, seit 1992 unterrichtet er im Fach Illustration an der Kunstakademie Saarbrücken. Filme und Publikationen, Ausstellungen, Bilder und Texte liegen zwischen den Eckdaten dieser Biographie.

Als „eigentliche Arbeit“ bezeichnet Dieter Krüll seine Malbücher, die in Zeichnungen oder collagierten Bildern und ersten Fassungen zugehöriger Texte seine tägliche Arbeit widerspiegeln. Er besitzt nach eigenen Aussagen unzählige dieser Bücher, exemplarisch ist eines hier in der Vitrine ausgestellt, es ist wohl das jüngste, wurde im Januar 1998 in der Provence begonnen und bis zum Sommer in Köln weitergeführt, dokumentiert somit das erste Halbjahr 1998.

Diese Bücher sind Dieter Krüll grundsätzlich nicht feil. Zum einen liegt in ihnen der Grundstock für weitere Arbeiten, etwa für die Überarbeitungen der Texte. Zum anderen scheint der Künstler gewissermaßen sein Leben zwischen diesen Buchdeckeln gespeichert und irgendwie ‘aufgehoben’ zu sehen.

Denn immer spielt die eigene Biographie als Quelle der Phantasien und Bilder eine zentrale Rolle in den Arbeiten von Dieter Krüll. Immer: das heißt auch im Schreienden Fell, das meine Zusammenfassung eben natürlich um Wesentliches verkürzt hat, nämlich um Handlungselemente, Schauplätze und Nebenfiguren, vor allem aber um die ganze Rätselhaftigkeit und Hermetik seiner Schreib- und Abbildungsweise. Obwohl die Bilder stets Ausgangspunkt der Erzählungen sind, schreibt der Textfluß scheinbar direkt die Gedanken ab. Eigentlich nur „verlängerte Bildunterschrift“, reizt doch jede Textseite die Metonymien - Bedeutungsverschiebungen - der Zeichnungen bis zur Zerreißprobe der Wortbilder aus: Nicht genug etwa damit, daß ein Stern mir nichts dir nichts als Figur aufzutreten und wie ein vernunftbegabtes Wesen zu handeln beginnt. In beinahe jeder Apposition steckt eine solche Fülle von unerwarteter Metaphorik, daß Halbsätze sich selbständig machen, Eigenwert gewinnen, und die ungeheure Ver-Dichtung der Sprache die Prosa zur Lyrik macht. Entlang der assoziativen Gedankenschritte führt treulich ein roter Faden die Lesenden durch den Text. Dennoch fürchtet man, es sei ein Ariadnefaden, der nicht hinaus aus dem Labyrinth der Gedanken, sondern immer tiefer in es hinein führe. Texte sind es wie Träume, die Dieter Krüll seinen Lesern überläßt. Sie nehmen gefangen, wenn man hineingleitet, doch das Selbstverständliche entzieht sich später jeder Rekonstruktion. Nicht zufällig bezeichnet Dieter Krüll Arno Schmidts Riesenwerk Zettels Traum als ein Kultbuch seiner Studienzeit.

Es wird das Vorbewußte abgeschrieben, in dieser Kunst, und bereits die Surrealisten benannten diese Methode als „Écriture Automatique“, automatisches, d.h. fließendes Schreiben. Als Schreibweise ist es dem Ausstellungsbuch Das schreiende Fell noch anzusehen: Nicht den handgeschriebenen Seiten. Hier fungiert die Schrift als Ornament, häufig im Hintergrund der Zeichnungen, und ist der Lesbarkeit fast vollständig entzogen. Nein: dem Typoskript. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß Das Schreiende Fell im Typoskript abgedruckt ist. Das ist nicht gemacht, um einen Computer gesponsort zu bekommen, sondern um die Vorläufigkeit des Textes und die Unmittelbarkeit der nahen Veränderungen noch sichtbar bleiben zu lassen: Ausgeixte Textstellen sind gleichsam doppelt, in zweiter Zeit- und Bedeutungsebene lesbar, weil das Durchgestrichene noch durchscheint. Einige Passagen sind eingefügt; wie im Brief den Rand entlang geschrieben. Zeilenunebenheiten deuten einen Neuansatz in der Arbeit an. Das Typoskript ist ein Text, der noch „lebt“. Er zeigt „work in progress“, man schaut dem Künstler über die Schulter. - Diese Vitrine da mit der Operette Maarm ist übrigens auch „work in progress“. [Vollständig überarbeitet hingegen ist der Text Perlboot, der hier ausliegt und der ebenfalls als Bildunterschrift zu einer Reihe von Zeichnungen entstanden ist.]

Um zum Schreienden Fell zurückzukommen: Diese surrealisitsche Unverständlichkeit ist den Texten und Bildern bewußt belassen, treibt aber Dieter Krüll dennoch auch um. Manchmal, so sagt er, sehne er sich nach der Dünnflüssigkeit trivialer, eingängiger Literatur. Als ich sage, das Schreiende Fell habe mich aufgrund seiner Thematik und aufgrund der Unwahrscheinlichkeit seiner absurden Szenarien u.a. an den Science-Fiction-Roman Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams erinnert, antwortet er: Ja! Ich lese sowas meist nicht zuende. Aber manchmal möchte ich wissen, wie andere das machen, so eingängig zu sein.

Hier sind wir natürlich am springenden Punkt des Kunstverständnisses im Jahr x nach der Avantgarde angelangt: Per Anhalter durch die Galaxis ist witzige Unterhaltungsliteratur, Das Schreiende Fell ist Kunst. Wer so etwas behauptet, muß es auch begründen. Das macht man folgendermaßen: Man beginnt mit der Geschichte der bürgerlichen Museen, die um 1800 anfangen, die fürstlichen Sammlungen abzulösen. Die Kunst wird aus dem sakralen oder adeligen Alltagsgebrauch herausgelöst und im Museum zu Betrachtung, Erziehung und stilistischer Historisierung der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Ein Beispiel: Fungierten Portraits im Alltag des Adels zur Repräsentation und zur Dokumentation der eigenen Abstammung, so verlieren sie im Museum diese Bedeutung, erhalten aber statt dessen die Aura unantastbarer Kostbarkeit des unwiderbringlichen künstlerischen Unikats. Solcherart archiviert, beginnt die Kunst, sich nicht mehr nachahmend auf die Realität oder die Gesellschaft zu beziehen, sondern auf sich selber. Museumstauglich ist mehr und mehr nur noch das, was noch nicht da ist, in diesem Museum, der Zwang zur Mimesis - Nachahmung der Natur - weicht dem Zwang zur verfremdenden Innovativität. Die Traditionen der künstlerischen Ausdrucksweisen des Expressionismus, Impressionismus, Pointillismus, Kubismus, Surrealismus beginnen sich in immer kürzer werdenden Zeitabständen zu jagen. Nicht zuletzt die Fotografie macht der abbildenden Kunst endgültig den Garaus. Die Bildende Kunst muß ihren Platz in der Gesellschaft neu bestimmen.

Zwischen 1910 und 1920 zieht die russische Avantgarde einen Schlußstrich, verkündet, das letzte Bild sei gemalt (das war Aleksandr Rodtschenko) und alle Möglichkeiten für die abbildende Kunst nunmehr ausgereizt. Die Kunst erzieht nicht mehr, belehrt nicht mehr, sondern greift in die Welt nur ein, indem sie direkt Welt schafft. Der Philosoph Boris Groys beschreibt die aporetische Situation, welcher die Avantgarde alle nachfolgenden Künstlergenerationen überläßt: „Die Tradition der Avantgarde verlangt nach dem Bruch mit der Tradition. Jedes [...] Werk kann also genauso als Fortsetzung wie als Bruch mit der Avantgarde gelten, denn wer mit dieser Tradition bricht, der setzt sie fort - und umgekehrt.“ Manche Künstler sind aus dieser Aporie bekanntermaßen in die Konkrete Kunst durchgestartet, die nur noch Farbe, Linie, Fläche und Raum, also die Mittel der eigenen Darstellung thematisiert und reflektiert.

Dieter Krülls Arbeit folgt einem anderen Weg. Das grundsätzlich Neue entsteht hier durch die radikale Individualisierung des Geschaffenen. Dem wirklich Eigenen eines Menschen, dem, was sich nicht mal mehr ins vorgefertigte Raster der Sprache pressen läßt, wird hier Ausdruck verliehen. Jede formale Überarbeitung - für Texte heißt das etwa: Hauptfigur, Ortsbestimmung, Schilderung chronologischer Abläufe - sind Konzessionen an die Verständlichkeit des Textes, die auf Kosten seiner Direktheit und „Wahrhaftigkeit“ gehen. Das radikal Individuelle - Ideosynkratische - muß das schlechthin Unlesbare und Widerständige sein. Es ist dies, was Kunst zur Kunst macht und was der Unterhaltungsliteratur und den Schönen Bildern abgeht. Ich könnte das jetzt noch anhand der Theorie des Unbewussten des Psychoanalytikers Jacques Lacan aufrollen, aber ich denke, das würde zu weit führen.

Ich frage Sie einfach noch einmal, was Sie jetzt denken - oder spüren -, wenn Sie den Buchtitel zur heutigen Ausstellung revue passieren lassen: Das schreiende Fell.

Dem überlasse ich Sie jetzt.

Wir stehen selbstverständlich gerne zu weiteren Gesprächen zur Verfügung.

Ich wünsche Ihnen noch einen interessanten Abend und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers