„Klassische Moderne“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunsthandlung in der Marktstraße Erfurt, 3. November 2007, 14 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

Franz Xaver Müller lädt zu einer Verkaufsausstellung der „Klassischen Moderne“. Der Ausstellungstitel verspricht nicht zuviel, denn in der Tat sind viele große Namen versammelt, die man mit dieser Epoche verbindet. Wir sehen Radierungen und Lithographien von Barlach, Beckmann, Corinth, Felixmüller, Grosz, Heckel, Kokoschka, Liebermann, Meidner, Nolde, Pechstein, Slevogt, von Stuck, Ury – um einen Teil der hier vertretenen Künstler zu nennen.

Also – von jedem etwas, für jeden etwas? Was verbindet die Intentionen und Darstellungsweisen so unterschiedlicher Künstler, daß man sie in einem Epochenbegriff zusammenfassen kann?

Grundsätzlich für den kunstgeschichtlichen Begriff der „Moderne“ ist der Wunsch dieser Künstlergeneration, mit den Traditionen zu brechen. Den Schnitt zur „Moderne“ setzt man also nach den Impressionisten, denn die Impressionisten im 19. Jahrhundert modifizieren noch einmal die romantische Tradition der naturalistischen Mimesis, der realitätsgetreuen Abbildung, indem sie ihre Bilder nur noch aus Farbflächen und Farbtupfern zusammensetzen. Darstellbar sollen das Licht, die Stimmung, sollen Gefühlswerte werden. Die Impressionisten sind „Eindruckskünstler“, Romantiker, die sich nicht einmischen in politische Belange und gesellschaftliche Zusammenhänge.

Dies ändert sich radikal in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts. Die Moderne bricht mit den Traditionen der Darstellung (bis hin zur Negation des „Tafelbildes“ – Rodschenko streicht Leinwände einfarbig an und verkündet, das letzte Bild sei gemalt) und begreift die künstlerische Aufgabe neu. Die Kunst soll sich einmischen und gesellschaftlich wieder relevant werden.

Die Kunst war ja einst gesellschaftlich bedeutsam, nämlich im Rahmen ihrer repräsentativen, staatstragenden Aufgabe etwa in den Porträts der Vertreter des Adelsstandes und des reichen, gehobenen Bürgertums. (Die Rolle des Porträtzeichners allerdings übernimmt seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr der Fotograf.) Die Kunst war auch gesellschaftlich bedeutsam in ihrer Aufgabe der religiösen Unterweisung, also der Veranschaulichung von biblischen Erzählungen, Heiligenviten und religiösen Gedankengebäuden. Beide Pfeiler, die der Kunst gesellschaftliche Bedeutung gesichert hatten, brechen im 20. Jahrhundert ihrerseits zusammen: Der Erste Weltkrieg beendet die aristokratischen Gesellschaftssysteme, und nicht nur die Institution der Kirche, sondern die geistigen und geistlichen Inhalte der Religion selber verlieren ihre Unantastbarkeit: „Gott ist tot“, „Religion ist Opium für das Volk“ – diese Sätze wurden zwar noch im 19. Jahrhundert formuliert, werden aber im 20. erst in gesellschaftlicher Breite wirksam.

Es müssen also neue Aufgaben für die Kunst gefunden werden, um sie gesellschaftlich wieder ins Spiel zu bringen. Als Aufgabenfeld ergibt sich die Sozialkritik. Die Darstellung des Proletariats, der Arbeiter, der Unterschichten rückt ins Blickfeld der Kunst, und zwar nicht mehr einer romantisierenden Kunst, die den Reiz der Einfachheit und die Anmut des Schlichten herausgestellt hatte (Schäferidylle, Spitzwegs Dichter) , sondern die Darstellung wird brutal. Aus der impressionistischen Eindruckskunst ist eine expressionistische Ausdruckskunst geworden. Es ist die Zeit der groben Zeichnung, der kräftigen, schwarzen Linienführung auch in den farbigen Gemälden, es ist die Zeit der verzerrten Gesichter, der bewusst entstellten und entstellenden Proportionen, der falschen Farben. Sehen Sie den zu kleinen Körper des „Herrn mit Fliege“ von Max Beckmann, sehen Sie das Selbstporträt von Conrad Felixmüller, einen Holzschnitt aus dem Jahr 1919, seinen Holzschnitt „Jauchen“, seinen „Toten Genossen“, das „Frühstück auf der Straße“, ebenfalls ein Holzschnitt von Felixmüller, oder den Holzschnitt „In der Kneipe“ aus dem Jahr 1922 von Max Pechstein. Holzschnitte sind natürlich ein besonders schönes Beispiel für die Plakativität, die der Expressionismus anstrebt: Solche holzschnittartige „Ausdruckskunst“ ist unvereinbar mit dem impressionistischen Weichzeichner. Der Epochenschnitt zur Moderne ist vollzogen.

Doch auch, wo nicht holzschnittartig reduziert wird, bleibt die Darstellung schonungslos: Denken Sie an die hungernden Kinder, die Käthe Kollwitz dargestellt hat, oder auch – als lustige Variante – Zilles Berliner Straßenszenen aus dem Dienstmädchenmilieu. Zur Gesellschaftskritik, die die Kunst formuliert, gehören auch Darstellungen des degenerierten Bourgeois und der gefühllosen Obrigkeit, die insbesondere George Grosz und Max Beckmann berühmt gemacht haben. Wir haben hier den schon erwähnten „Herrn mit der Fliege“ von Beckmann, aber auch eine Radierung von George Grosz, „Die Macht der Musik“ aus dem Jahr 1921. Das Grammophon, das dem Blatt den Titel gibt, spielt in der Gesamtbedeutung der Bildaussage eine eher untergeordnete Rolle. Das Kind lauscht der Musik, auch eine Frau. sie hält nur ein Handtuch umgeschlungen, aber da nichts dafür spricht, daß sie eine Dirne darstellen soll, ist offenbar hiermit schlicht die Privatsphäre bezeichnet. Unberührt von der „Macht der Musik“ aber die Staatsmacht in Gestalt des Polizisten, der im Vordergrund Streife geht. Von einem Regal im Hintergrund aus überwacht eine erhöhte Büste mit Pickelhaube das Geschehen: Ein Polizist der Kaiserzeit (Pickelhaube) wird hier im Gipsabdruck wie eine Reliquie verwahrt und in Ehren gehalten. Die Szenerie um Frau, Kind und Grammophon ist somit zeitlich und räumlich umstellt: Im Hintergrund die Staatsmacht der Vorkriegszeit, im Vordergrund die der Nach- (oder Zwischen)kriegszeit (das Blatt ist wie erwähnt von 1921). Die Entfaltung einer vielleicht befreienden „Macht der Musik“ scheint so kaum möglich zu sein: Sie beschränkt ihre Macht auf die häusliche Sphäre und dringt nicht nach außen. Die hier dargestellte Ohnmacht der Musik verweist damit auf die eigentliche Macht: die Macht der Polizei, die nicht nur die gesellschaftlichen Belange regelt, sondern in die Privatsphäre der Menschen hineinreicht.

Zum sozialkritischen Realismus gehört die Darstellung des Kriegsgeschehens. (Hier muß man sagen, daß dies nicht ohne Vorbild ist, es gibt Bilderzyklen aus dem 17. Jahrhundert, die die Greuel des Dreißigjährigen Krieges sehr drastisch und naturalistisch schildern – allerdings sind diese in der Regel erst ab den 50er des 17. Jahrhunderts, also nach Ende des Krieges entstanden.) die Lithographie „Belgische Landschaft“ von Erich Heckel gehört hierher, sie ist von 1916 und zeigt eine ganz und gar nicht idealische Landschaft – es ist einfach alles platt – und einen unglücklichen, einsamen jungen Mann im Vordergrund. Der „Hinterhalt“ gehört hierher, eine Lithographie von Alfred Kubin aus dem Jahr 1922. Auch auf dem Blatt „Das letzte Wort“ von George Grosz geht es nicht mit rechten Dingen zu. Das Blatt stammt aus der Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, aus der Mitte der 30er Jahre und zeigt eine Erschossenen vor seiner Scheune. Der Mörder verlässt unbehelligt die Szene, ein trauernder Sohn bleibt machtlos zurück. Auch Felixmüllers „Toter Genosse“, der, von seiner Fahne bedeckt auf dem Kopfsteinpflaster liegt, gehört in die Reihe solcher Bilder. Das Blatt stammt aus dem Jahr 1919.

Es ist diese Art der Einmischung, die im 20. Jahrhundert in allen totalitären Regimen dazu führt, daß solche Kunst diffamiert und verboten wird. Nicht nur unter Hitler, der sie als „entartet“ aus den Museen beschlagnahmt, sondern auch in Italien unter Mussolini und in der Sowjetunion unter Stalin. Die totalitären Regime brauchen staatstragende Kunst, die in realistischer Manier die Ideale des Regimes verherrlicht und die jeweiligen Machthaber mithilfe hergebrachter Ikonographien in positives Licht setzt. (Sie erinnern sich, daß die Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ 1999 in Weimar für großen Unmut gesorgt hat, weil Kunst der DDR als staatstragende Kunst ausgestellt und so vom Geist der Moderne abgeschnitten wurde. Einige Künstler entzogen der Ausstellung im Verlauf der öffentlichen Diskussion ihre Werke wieder.)

Es ist dennoch nicht nur die gesellschaftskritische Einmischung, die die Moderne ausmacht. Nicht nur in den Inhalten, sondern auch in der Art der Darstellung weicht die Moderne ja von der traditionellen Kunst ab, verzichtet also weitgehend auf bekannte Abbildungsmuster. (Eine Ausnahme ist Grosz’ Darstellung des Todes in der Lithographie „Das Ende“ von 1921: Ein Mann greift sich ans Herz, von hinten umfasst ihn der Tod, wie auf einem mittelalterlichen Totentanz als Skelett dargestellt. Aber dies ist eben auch bezeichnend: Es überleben nicht die Herrschaftsikonographien, sondern die Zeichen dessen, der den Herrschenden immer schon das „memento mori“ und damit die Sinnlosigkeit irdischen Machtstrebens vor Augen halten sollte!) Zurück zu den neuen Darstellungsmustern. Paul Gauguin steht exemplarisch für die Rezeption der Kunst der „Primitiven“. Seine Südseebilder zeigten einen so neuen künstlerischen Zugriff auf die menschliche Gestalt, daß er eine ganze Künstlergeneration elektrisierte und – über die Bewegung der „Fauves“, der „Wilden“ – zu einem der Wegbereiter der Moderne wurde (Gauguin wurde bereits 1848 geboren und verstarb 1903). In der Lithographie „Südsee“, die Max Pechstein 1919 schuf, zeigt die Ausstellung auch ein Beispiel dieses wichtigen Aspekts der Moderne – nicht in der Malweise, das geht in schwarz-weiß nicht, aber von der Thematik her.

Meine Damen und Herren, ich kann nicht auf jedes Bild im Einzelnen eingehen. Ich hoffe, ich habe Ihnen mit meinen Worten einen Zugang zum größten Teil der Bilder verschafft und wünsche Ihnen noch ein interessantes Studium der einzelnen Bilder.

Vielen Dank!


Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar