Der Moment der Entscheidung: „Adam und Eva“ von Leonhard Kern
Rede zur Matinee „Sichtbarer Glaube“ der Stiftung Weimarer Klassik
Kunstsammlungen im Schloß Weimar, 21. Oktober 2007
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir betrachten heute ein Werk, das dem namhaften süddeutschen Barockbildhauer Leonhard Kern zugeschrieben wird. Zugeschrieben: Es ist heute nicht der Zeitpunkt, um Zuschreibungsfragen zu thematisieren, schon gar nicht, sie zu klären. Leonhard Kern hat ganze zwölf Arbeiten signiert – einiges ist dann noch durch Rechnungen o.ä. sicher zu bestimmen – sehr vieles ist unklar – ist es von Kern? Ist es aus der Werkstatt des Bruders, bei dem er gelernt hat oder von seinem Sohn oder seinem Neffen, die wiederum bei Leonhard Kern gelernt haben? Unser Werk hier wurde 1819 auf Anregung Goethes angeschafft in der Meinung, es sei von Dürer. Wie auch immer – ich gehe heute von Leonhard Kern als Schöpfer der Kleinplastik aus, zumal man einige Auffälligkeiten des Werkes sehr schön im Vergleich mit anderen Arbeiten Kerns sieht und erläutern kann.
Wir sehen eines der „Adam und Eva“-Werke, von denen Kern etliche schuf. Die Skulptur wird auf das Jahr 1650 datiert und fällt damit in die letzte Schaffensperiode des Ende 1588 im schwäbischen Forchtenberg in der Grafschaft Hohenlohe geborenen Künstlers – zur Biographie komme ich gleich noch. Ein Schnitzwerk aus Buchsbaum. (Freilich fallen Kerns Werke aus Buchsbaum eigentlich alle in die Zeit zwischen 1630-45. Der Werkstoff war bei Kerns Kunden beliebt – ein hartes Gehölz, besser schnitzbar als etwa Linde, aber nur in kleinen Stücken fehlerlos zu finden, daher nur für Kleinplastiken geeignet. Kern bevorzugte sonst auch Alabaster, Elfenbein oder Bronze).
Sehen wir als erstes die Skulptur genauer an. Eva, in der Hand einen Apfel, der noch am Baum zu hängen scheint. (Evas Verrenkung übrigens ist nicht typisch für Kern – seine Skulpturen sind sonst harmonischer, ausgewogener.) Ihr gleichgroß und von der Statur her ähnlich – beide zeigen relativ schmale Schultern und kräftige Beine – Adam, schon zum Gehen gewandt. Seine rechte Hand greift nach ihrer freien, herabhängenden Hand. Er scheint sie wegziehen zu wollen. Das Paar blickt sich an. Der Gesichtsausdruck beider ist sehr sprechend und ausgefeilt. Offenkundig diskutieren sie einen Sachverhalt kontrovers.
Was fällt auf?
Es fällt das auf, was fehlt.
Adam und Eva sind ohne weitere Attribute der Bibelgeschichte dargestellt. Kein Apfelbaum, schon gar nicht zwischen den beiden Figuren, keine Schlange. Nicht mal die Gestaltung der Plinthe gibt Hinweise auf irgendeinen landschaftlichen Kontext oder die Umgebung von Tieren. (Manchmal sitzt ja bei diesem Paar noch ein Tier, eine Schildkröte, Hase, Hund oder irgendwas. Hier – nichts.) Eine solche Isolierung dieses Paares, die Konzentration auf die Darstellung der zwischenmenschlichen Beziehung ist in dieser Zeit untypisch, nicht aber untypisch für Leonhard Kerns Gestaltung dieses Paares. Das Hamburger Kunstgewerbemuseum besitzt eine elfenbeinerne „Vertreibung aus dem Paradies“ von Leonhard Kern, bei der genau dieses Fehlen des erzählten Kontextes auffällt: Kein Baum, kein Gott, kein Cherub, kein Schwert, kein Tor. Die Konzentration der Darstellung liegt auch hier auf den Gefühlen der beiden Fliehenden. Vergleichbar auch eine Sintflut-Darstellung, ein Relief, das in München hängt.
[Das Relief zeigt die Sintflut, aber nicht die Arche, die ist sehr klein und halb verdeckt im Hintergrund auszumachen, um die Szene überhaupt zu benennen. Nein, was man sieht, sind die flüchtenden Menschen, die sich gegenseitig retten, durch die Flut reiten, einen Stier bei den Hörnern aus dem Wasser zu bergen versuchen, auf Bäume geklettert sind etc. Wieder ist das Leid der Betroffenen dargestellt, das Gott zulässt und das sie durch gegenseitige Hilfe zu lindern versuchen.]
Interessant im Vergleich auch Kerns Darstellungen der Abraham-Isaak-Gruppe. Auch diese Gruppe hat er mehrfach geschaffen und zuletzt (1645, London) aller Requisiten entkleidet – also des Feuerholzes, das Isaak ansonsten trägt etc.
Der Vergleich mit den Abraham-Gruppen erhellt noch eine weitere Besonderheit unserer Arbeit, die mir sehr typisch für Leonhard Kern zu sein scheint: Die Darstellung des Momentes „kurz davor“. Deshalb haben wir unseren Vortrag heute ja auch mit „Der Moment der Entscheidung“ betitelt. Für einen Teil Kernscher Werke scheint typisch zu sein, daß er den Moment „kurz davor“, vor einem Ereignis oder einer Katastrophe darstellt. Unsere Skulptur tut dies mit dem Moment, in dem die Entscheidung unabwendbar scheint, den Apfel zu pflücken.
Hätte es auch anders kommen können?
Nein, sagt die Skulptur.
Eva ist von ihrer Lust auf Wissen durchdrungen und Adam hat ihr augenscheinlich argumentativ nichts entgegenzusetzen, so daß die Katastrophe des Sündenfalls unabwendbar erscheint. „Adam und Eva, einander erkennend“ (1630/35, Berlin) stellt den Moment ganz kurz vor der Umarmung dar. Auch hier wird deutlich, daß die Situation keinen andern Ausgang nehmen kann. So eben auch die Abraham-Isaak-Gruppen, die den Moment darstellen, in dem Abraham vom Opfer des Sohnes eben doch noch abgelenkt wird (Abraham blickt zum Himmel etc.).
[dagegen eine Gruppe „Kain und Abel“, die sich in Londoner Privatbesitz befindet. Einmal – im Falle Abrahams – wird klar, daß und warum der Mord nicht stattfinden musste: Adam hält seinen gefesselten Sohn, den Säbel an dessen Hals, ist aber ganz abgelenkt und blickt nach oben, hört scheinbar eine Stimme von Gott – bzw. gewahrt den Engel Theatkiel, der ihm den Widder zeigt und den Vater vom Opfer des Sohnes abhält. Im Falle Kains wird ebenso klar, daß die Katastrophe des Brudermordes sich vollziehen wird, da Kain nichts mehr sieht außer den am Boden liegenden Bruder, auf den er im Begriff ist, einzuschlagen – während Abel ganz hilflos und schlaftrunken zum Bruder aufblickt und keine Gegenwehr in Erwägung zieht.]
Es ist, als wollte Kern mit diesen Darstellungen das Ereignis, die Katastrophe in Zeitlupe vor Augen führen: Der Betrachter kann über den letzten Moment vor dem Ereignis meditieren und überlegen, ob auch alles hätte anders kommen können – oder ob und warum der Ablauf des Geschehens zwangsläufig war.
Die Konzentration auf das Zwischenmenschliche, die Auslassung erzählerischen Beiwerks wie hier der Schlange, macht die Beziehung des Paares Adam und Eva untereinander zur wesentlichen Aussage des Werkes. Dies ist wie erwähnt bei Kern neuartig. In der Literatur wird dies unter anderem an die Konfession Kerns geknüpft: Die katholische Lehre rückte die Schuld und die Strafe Gottes in den Vordergrund. Nur einem protestantischen Christen war es möglich, die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies, die durch den Apfel eingeleitet wird, als freie Entscheidung des Menschen (Evas) zu denken und diese Entscheidung als zwischenmenschliche Interaktion darzustellen.
Nun endlich zur Biographie: Leonhard Kern wurde 1588 in Forchtenberg in der Grafschaft Hohenlohe geboren. Das Jahr ist einfach, der Tag nicht: Es war der 22. November nach Julianischem Kalender. Also eigentlich der 2. Dezember. „Julianischer Kalender“ verrät uns, was im 16. und 17. Jahrhundert nicht unerwähnt bleiben kann: die Konfession. Kerns Familie ist protestantisch, was für den Glauben und die Beziehung zu Gott einerseits, aber auch schlicht für den Verlauf eines Lebens, mögliche Arbeitgeber und Wohnorte im 17. Jahrhundert von zentraler Bedeutung ist.
[Julianischer Kalender: Im 16. Jahrhundert war den Astronomen aufgefallen, daß der Kalender mit den jahreszeitlichen Abläufen nicht mehr übereinstimmte. Das Konzil von Trient (1545-63) beschloß die Kalenderreform und Papst Gregor XIII setzte sie 1582 um. Auf den 4. Oktober folgte 1582 der 15. Oktober. Die protestantischen Länder machten die Kalenderreform nicht mit, obwohl von Leuten wie Johannes Kepler befürwortet, eben weil sie vom Papst dekretiert war. Man vermutete, der Antichrist wolle hinsichtlich des Zeitpunkts des Jüngsten Gerichts Verwirrung stiften. Erst 1700 war die Reform überall – zuletzt in England – nachvollzogen].
Kern entstammt der dritten Generation einer Bildhauer- und Steinmetzfamilie. Seine Eltern schicken ihn aber als einzigen unter den Brüdern zunächst auf das Gymnasium in Öhringen, womit eine Laufbahn bei Hofe, als Lehrer oder Pfarrer vorbestimmt scheint. Er lernt Mathematik, griechisch, hebräisch, man geht in den religiösen Werken von einer quellennahen Bibellektüre Kerns selber aus. Leonhard Kern verlässt die Schule aber wieder und geht von seinem 14. bis zum 21. Lebensjahr (1602-09) bei seinem älteren Bruder Michael in die Lehre.
1609 verläßt Leonhard Kern die Werkstatt des Bruders und reist nach Italien, aber nicht nur bis Rom, sondern gleich nach Neapel und weiter bis Afrika. Die Rückreise hält ihn dann aber doch länger, nämlich zwei Jahre, in Rom fest. Während der Reise schlägt er sich mit Gelegenheitsaufträgen durch. Der Italienaufenthalt sichert die Erkenntnis ab, daß Kern bestimmte Werke Michelangelos, Giambolognas, Berninis, Cellinis etc. gekannt hat. Hieraus ist dann abzulesen, was für Darstellungskonventionen für die biblischen Erzählungen damals gängig waren und inwiefern Kern darüber hinausgeht – in der beschriebenen Konzentration auf den einzelnen Menschen und die zwischenmenschliche Interaktion. Natürlich sind ihm auch Vorlagenheftchen (Sammlungen von Stichen und Reproduktionen) zugänglich, die man üblicherweise als motivische Vorlagen verwandte.
1613, auf der Rückreise von Rom, erhält Kern die ersten großen Aufträge vom Fürstbischof von Laibach, Thomas Chrön: Anbetung und Marienkrönung. Kern verlässt die Stadt trotz weiterer Auftragsmöglichkeiten, denn Chrön ist ein großer Gegenreformator, beendet die Reformation im Habsburgischen oder macht sie so gut es geht rückgängig und verlangt letztendlich auch von Kern die Konversion. Kern macht das nicht mit.
1614 aus Italien zurückgekehrt, heiratet er die Amtsschreibertochter Amalia Zöllner (bei 17 Geburten werden nur fünf Kinder groß, nur zwei überleben die Eltern, die beide 74 Jahre alt werden). 1617 manifestieren vier Monumentalskulpturen für das Nürnberger Rathaus Kerns Können und seinen Ruhm. Von da an genießt er in der Heimat großes Ansehen. Da ist er 29. Er steht zu diesem Zeitpunkt in den Diensten des pfälzischen Kurfürsten Friederich und lebt in Heidelberg (für die Nürnberger Arbeit war er bereits von dort aus beurlaubt). Die scheinbar feste Stelle hält leider nicht, was sie verspricht: Friedrich lässt sich 1619 in Prag zum böhmischen König wählen (Sie erinnern sich: der Aufstand der protestantischen böhmischen Stände gegen die Habsburger Herrschaft leitet mit dem Prager Fenstersturz die erste Phase des 30jähringen Krieges ein). Er kriegt es daraufhin mit dem Kaiser und der Liga katholischer Reichsfürsten zu tun, unterliegt und kann nur die eigene Haut über die Grenze in die Vereinigten Niederlande (die damals schon von Spanien unabhängig waren) retten. Die Kurpfalz bekommt der Wittelsbacher Maximilian von Bayern und – cuius regio eius religio – der Büger muß konvertieren oder vom ius emigrandi, vom Recht, wegzuziehen, Gebrauch machen.
Dies tut Leonhard Kern und geht nach Hall, heute Schwäbisch Hall. Er wird wohl einer der ersten „freischaffenden“ Künstler, mehr und mehr Meister der Kleinplastik. Man findet Regale in einer Art Verkaufsraum seines Hauses in Hall und geht daher davon aus, daß er sogar für Laufkundschaft geschaffen hat, auch Gebrauchskunst wie Reliefumrandungen von Trinkhumpen etc. Er ist gefragt beim Adel und gehobenen Bürgertum, deren Sammlungen ihm wiederum Anregungen zu neuen Werken verschaffen. So wird er sehr wohlhabend, steigt gesellschaftlich auf – Ratsherren sind Taufpaten seiner Kinder – er besitzt Land und das Schloß Tullau, versorgt seine Kinder gut. Noch die Witwe verfügt 1670 über ein ansehnliches Vermögen.
Kern bleibt von den Auswirkungen des 30jährigen Krieges nicht verschont. Hall war freie Reichsstadt, stellte selber keine Truppen. Durch Salzhandel war sie auch eine reiche Reichsstadt, versuchte sich von Einquartierungen und Besatzung loszukaufen, was natürlich nicht gelang, es gab viel zu viele unabhängige oder widerstreitende Kriegsparteien. In den 1640er Jahren wird Hall mehr und mehr durch Kontributionen belastet, hat fast pausenlos unter Einquartierung zu leiden. Kern muß im Verlauf der 40er Jahre alle Mitarbeiter der Werkstatt entlassen (vermutlich außer seinem Sohn Johann Jakob und einem Neffen, Johann Georg Kern) und muß immer wieder beim Rat der Stadt um Stundung oder Erlaß von kriegsbedingten Abgaben bitten (Leonhard Kern tut dies mit Hinweis auf seine große Familie). Denn auch seine potentiellen Kunden werden ärmer, die Aufträge kommen nicht mehr ein wie in den 20er und 30er Jahren.
Dennoch löst Kern seine Werkstatt in Hall erst 1650, nach 30 Jahren, auf. 1648 unternimmt er sogar noch einmal eine weite Reise nach Cleve (brandenburgisch), um um Aufträge zu werben. Da ist er 60, macht sein Testament, überlebt die Reise aber glücklicherweise um 14 Jahre. 1650, das Entstehungsjahr unserer Adam- und Eva-Skulptur leitet das Spätwerk Kerns ein. Er schafft fast bis zu seinem Tode im Jahr 1662, 74jährig, Kabinettkunstwerke und Grabmalreliefs in der Zurückgezogenheit seines Tullauer Anwesens.
Cornelie Becker-Lamers