Übergänge - Heiko Börner

Rede zur Ausstellungseröffnung in der Reihe "Kamelie & Skulptur" der Stiftung Weimarer Klassik

In der Kamelienausstellung
mit der Abteilungsleiterin Schlösser und Gärten, Frau Seidel, der Kuratorin Frau Gatz-Hengst und dem Künstler Heiko Börner
während der Laudatio
während der Laudatio
im Gespräch mit Ausstellungsbesuchern
alle Fotos dieser Seite: Gereon Lamers

Weimar, Orangerie des Schlosses Belvedere, 7. März 2015

Sehr geehrte Damen und Herren,

wäre es ein Ritual? Ein spezifisches Weimarer Ritual, daß wir uns an jedem ersten Wochenende im März hier in der Orangerie des Schlosses Belvedere versammeln, um uns an der alljährlich neuen Blütenpracht der Kamelien zu erfreuen, neue faszinierende Kunstwerke kennen zu lernen und dann, beruhigt über die Erfüllung unserer Erwartun­gen an das Bekannte und das Neue, ein wenig im Park spazieren zu gehen? Ich weiß es nicht, aber auf das Thema Ritual, genauer gesagt "Übergangsritual", möchte ich im Verlauf meiner heutigen Rede noch einmal zurückkommen. Die Skulpturen Heiko Börners geben Anlaß dazu.

Heiko Börner war früh vom Werkstoff Holz fasziniert, weil er, wie er sagt, in der Natur aufgewachsen ist. Er wandte sich dennoch zunächst einem Studium an der Weimarer Hochschule zu, merkte aber sehr schnell, daß das Bauingenieurwesen ihm einen zu rationalen Zugriff auf die Welt abverlangte. So absolvierte er eine Lehre zum Holzbildhauer an der Berufsfachschule Empfertshausen und bildete sich in einem Studium an der Münchener Meisterschule für Holzbildhauerei weiter. Nach einem kleinen künstlerischen Ausflug in die Arbeit mit Kunststoffen fand er an der Wiener Akademie der bildenden Künste schließlich zu seinem Werkstoff, dem Holz. Seit 2005 ist als freischaffender Künstler tätig.

Eigentümlich muten sie an, Heiko Börners Kunstwerke. Sie foppen uns mit Irritatio­nen und Augentäuschungen in mehrerlei Hinsicht: Das Material zum Beispiel wirkt viel zerbrechlicher, als es ist. Mit der Kreissäge sind die Skulpturen aus dem Stamm geschnitten. In einem zweiten Schritt aber sind sie mit den klassischen Werkzeugen des Holzbildhauers - dem Stechbeitel - zu so feinen Maserungen nachbearbeitet, daß sie in einigen Teilen eher aussehen wie Binsengeflecht. Die feine weiße Lasur - zu fein, um als Farbfassung gelten zu können, aber doch so deutlich, daß sie unsere Wahrnehmung beeinflußt - die feine weiße Lasur tut das Ihre, um für uns den Charak­ter des Materials zu verfremden. Außerdem scheinen sie sich zu bewegen, diese Werke, oder zumindest Bewegung abzubilden. Hat man - etwa in dem Werk "Buche 15/02" - einen Quader vor sich oder eine Kugel oder beides oder keines von beidem, weil die Grundformen sich gerade gegenseitig auslöschen? Werden wir Zeugen des Werdens einer neuen Form, oder müssen wir die Zerstörung definierter Gestalten konstatieren? Und wie tief sind die Werke eigentlich? Nähern wir uns "Eiche 10/01" von der Seite, so sehen wir eine flache Stele, betrachten wir es aber von vorne, dann erzeugen die Kunstgriffe der perspektivischen Zeichnung und des Reliefs die Illusion einer beachtlichen Tiefe. (Dasselbe gilt für "Eiche 14/04".) Angesichts dessen beginnt man sich zu fragen, ob der ovale Trichter, den man in "Kirsche 11/ 01" zu erkennen glaubt, tatsächlich eine Ellipse oder aber ein perspektivisch verzerrt erscheinender Kreis ist.

Die Skulpturen von Heiko Börner entziehen sich. Es ist kein Zufall, daß sie alle keine inhaltlichen Titel tragen, sondern uns nur Auskunft über ihr Material geben und anson­sten nach ihrem Entstehungsjahr und der Reihenfolge ihrer Fertigstellung durchnume­riert sind. Jeder inhaltliche Titel wie etwa "Trichter" würde die Form festlegen und damit gerade das verfehlen, was hier eigentlich zur Darstellung kommen soll: Die Skulpturen von Heiko Börner erschließen sich nur wirklich, wenn sie als Moment­aufnahmen einer Bewegung verstanden werden.

Die Vorstellung, die den Kunstwerken zugrunde liegt, ist meist die der Durchdringung zweier Körper. Betrachten wir noch einmal "Buche 15/02", so sehen wir hier in der Tat eine Kugel, die gerade einen Quader durchschlagen hat. In der Wucht ihrer Bewe­gung reißt sie den durchdrungenen Körper ein Stück mit, bevor die Formen sich wie­der trennen und als Kugel und Quader fortbestehen. Das ist die Geschichte hinter dem Werk, und Heiko Börner hat sie in einem kleinen Trickfilm aus 49 Zeichnungen darge­stellt. Zur Finissage am 19. April werden einige solcher Filme hier in der Orangerie über einen Beamer zu sehen sein. Bis dahin bleiben uns die Werke, die jeweils den Moment der Durchdringung zweier Körper oder des Zerreißens eines Körpers als Kulmination von Torsion und Spannung festhalten. "Esche 12/05" wäre ein Beispiel einer solchen Spaltung eines Körpers, ebenso wie "Eiche 13/05" ganz hinten links, ein Werk, bei dem sich ein Kantholz gerade entlang seiner Längsachse zu spalten scheint.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf erscheinen uns auch die Mittelteile der Skulpturen in neuem Licht, die Teile also, die Heiko Börner mit dem Stechbeitel fein nachbearbei­tet hat: Die dichten Linien, die aus dem Holz geschlagen sind, wirken wie die bildliche Darstellung einer schnellen Bewegung, wie eine Materialisierung des Vergehens von Zeit.

Was aber hat dies mit "Riten des Übergangs" zu tun, die wir bereits auf dem Text der Einladungskarte erwähnt haben? "Übergänge" - der Ausstellungstitel - stammt von Heiko Börner selber. Seine Kunstwerke, die man, wie wir gerade gesehen haben, so wenig festlegen kann, definiert der Künstler also doch insoweit, als er sagt, sie alle stellen Übergänge dar. Übergänge oder Durchgänge von einer Form in eine andere. Und damit schlagen die Werke eine Brücke zu den Blüten, die hier ja den zweiten Teil der Doppelausstellung von "Kamelien und Skulptur" bilden. Denn Blüten sind die Übergänge im ständigen Wandlungsprozeß der Natur: Die Übergänge zwischen der Knospe und der Frucht, die ja ihrerseits wiederum der Übergang zur neuen Aussaat ist.

"Riten des Übergangs" - im Original "rites de passages" - ist das Buch eines deutsch-französischen Ethnologen, Arnold van Gennep. Es ist schon über 100 Jahre alt - 1908 geschrieben - und gilt doch an den Universitäten bis heute als eines der Grundlagen­werke der Soziologie. "Riten des Übergangs" ist der Versuch, eine Schneise zu schla­gen in die Vielzahl von Ritualen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts von europäi­schen Ethnologen bei den Völkern und Kulturen der ganzen Welt beobachtet und zusammengetragen wurden. In seiner Systematisierung dieser Rituale stößt der Verfas­ser immer wieder auf die rituelle Bewältigung von Trennungen und Eingliederungen in eine Gruppe der Gemeinschaft: Von den Aufnahmeritualen für Händler und Fremde bis hin zur Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt und der Aufnahme der Neugeborenen in die Familie und die weitere Dorfgemeinschaft.

Was ist uns heute und hierzulande von solchen Ritualen geblieben? Nicht viel. Man­che Gegenden kennen noch die Austreibung des Winters, die an Karnevalsbräuche gekoppelt ist. Und natürlich schickt man die Jugendlichen irgendwie zur Firmung oder zur Jugendweihe. Aber ein wirklicher Abschnitt im Leben wird dadurch nicht mar­kiert. Ich bin auch nicht sicher, ob alle die, die sich in einer Osternacht taufen lassen, das Osterfest als die rituelle Feier einer Trennung und einer Aufnahme ansehen. Die säkularisierte Welt läßt nur noch wenig Raum für echte, das heißt im Ablauf festgeleg­te und zwingende Rituale. Statt bei höheren Mächten um Schutz anzusuchen, verläßt man sich bei allen Entscheidungen lieber auf sich selbst - und ist doch dann allzuoft verlassen. Die Abschaffung der Rituale hat das Bedürfnis danach nicht mit abschaffen können. Es ist dem Menschen eigen.

Und hier kommt, meine ich, die Kunst ins Spiel. Sie fertigt nicht mehr nur die Kelche, Baldachine und Andachtsbilder für heilige Handlungen an, sondern füllt selber etwas von dem Platz aus, den die gesellschaftliche Marginalisierung der Religion freige­macht hat. Indem die Kunstwerke von Heiko Börner immer wieder den Vorgang von Konfrontation und Spannung, Durchdringung, Trennung oder Zerreißprobe und Neu­definition von Körpern inszenieren, decken sie ein Grundbedürfnis des Betrachters ab, das anders heute nicht mehr aufzufangen ist.

Es kann sein, daß das nicht vordergründig die Intention des Künstlers ist. Ich glaube aber, daß diese Kunst so funktioniert, daß diese Werke uns faszinieren, weil in ihnen Konfliktsituationen einen Ort und eine Form, eine äußere Gestalt bekommen, Kon­fliktsituationen, die früher in rituellen Handlungen aufgehoben wurden und die heute jeder Einzelne allein seelisch bewältigen muß.

Ich finde es eine schöne Vorstellung, daß die Präsentation dieser Kunstwerke des "Übergangs" ihrerseits aufgehoben ist in einer ritualisierten Veranstaltung, nämlich eben dieser jährlich wiederkehrenden Ausstellungseröffnung. Denn wie diese Kunst­werke im einzelnen hilfreich sind, so sind Rituale im allgemeinen hilfreich für uns. Denn Rituale sind identitätsstiftend. Ein Ritual bringt die Grundlagen einer Kultur bzw. einer Gesellschaft zum Ausdruck. Es inszeniert die jedem einzelnen Ritualteil­nehmer vorgegebene und überlieferte Sicht von Welt und Mensch, aber nicht die vor­findliche Gesellschaft und Welt, sondern deren Vollendungszustand. Rituale sind archaisch im Sinne von αρχη, der Anfang, weil sie immer Anfang und Vollendung einbegreifen. Und Rituale sind integrativ: Ein Ritual kennt nur Teilnehmer. Auch wenn bestimmte Aufgaben verteilt werden - alle im Raum Versammelten sind Teil­nehmer. Jeder Einzelne wird Teil der in einem Ritual inszenierten Wirklichkeit. Und jeder Teilnehmer, egal in welcher Funktion, ist dabei gleich wichtig.

In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar