Begegnung - Sylvia Bohlen

Rede zur Ausstellungseröffnung in der Reihe "Kamelie & Skulptur" der Stiftung Weimarer Klassik

In der Orangerie des Schlosses Belvedere
Fotos: René Bohlen

Weimar, Orangerie des Schlosses Belvedere, 5. März 2011

Sehr geehrte Frau Ahrendt, liebe Elke Gatz-Hengst, liebe Sylvia Bohlen, sehr geehrte Damen und Herren,

Werke von Sylvia Bohlen begegnen uns ab heute in der Orangerie des Schlosses Belvedere. „Begegnung“, wie der Ausstellungstitel lautet, kann man dabei durchaus wörtlich nehmen, da Frau Gatz-Hengst und Frau Bohlen aus der breiten Schaffenspalette der Künstlerin ja gezielt Büsten und Figuren ausgewählt haben, die uns in ihrer charakterstarken Präsenz in der Tat beinahe wie ein belebtes Gegenüber zu begegnen scheinen. Die Köpfe, Büsten und Figuren von Sylvia Bohlen sind dabei keine Portraits – so individualisiert und gleichsam portraithaft der Traurige oder der Israeli auch ausgeführt sein mögen. Nein: Was auch immer an konkreten Erlebnissen auf Reisen oder im privaten Umfeld auslösend für die eine oder andere Arbeit gewesen sein mag: Die Büsten, Figuren und Figurengruppen sind keine Portraits, sondern vielmehr Personifikationen. Fiktive Personifikationen von Typen und Charakteren – etwa der Alte Clown, die Schöne, der Nachbar, nicht hier in der Ausstellung: der Philosoph, der Trinker – Personifikationen aber auch von anthropologischen Archetypen – etwa die Eva als Urbild der Frau oder Afrika als Sinnbild eines ganzen uns fremden, im Laufe der Zeit mit zahllosen Mythen, Ängsten und Wünschen überzogenen Kontinents. Personifikationen nicht zuletzt von abstrakten Ideen wie der Erinnerung – Erinnern1 ist ja der Titel eines Frauenkopfes – oder der Freundschaft - Freundinnen. Im Gesamtwerk von Sylvia Bohlen steht die Gruppe der Köpfe und Figuren gleichberechtigt neben Zeichnung und Collage, neben abstrakter Kunst am Bau, Objekten und Installationen, sowie neben einer Reihe ausdrucksstarker Tiergestalten.

Lassen Sie mich in aller Kürze etwas zur Biographie der Künstlerin sagen: Sie wurde 1965 in Saalfeld geboren und legte 1984 dort auch das Abitur ab. Es schloss sich direkt ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden an, das Sylvia Bohlen 1989 mit dem Diplom als Bildhauerin abschloß. Durch ihr Studium bei Prof. Gerd Jaeger, der in Dresden die Abteilung Plastik leitete, stellt sich übrigens ein früher Weimarbezug Sylvia Bohlens her, denn Jaeger hatte ja nach dem Krieg zunächst in Weimar studiert. Seit 1989 ist Sylvia Bohlen freischaffend in Saalfeld tätig, wurde wiederholt durch Stipendien ausgezeichnet und ist mit Arbeiten im öffentlichen Raum seit Anfang der 90er Jahre in ganz Deutschland vertreten.

Wenden wir uns nun den Plastiken hier in der Ausstellung im einzelnen zu.

Was fällt auf?

Das Material vielleicht als erstes, das uns hier so vielfältig gegenübertritt: Da gibt es die Afrika-Plastik, den Kopf einer Dame aus salzglasiertem Steinzeug. (Salzglasur wird sehr heiß gebrannt, und während des Brennvorgangs muß zum genau richtigen Zeitpunkt Kochsalz in den Ofen gegeben werden. Durch eine chemische Reaktion entsteht dann dieser unvergleichliche Glanz, der die Salzglasur auszeichnet.) Die Spur des Aufbaus der Plastik aus einzelnen Platten ist dem fertigen Werk bewusst ablesbar: Da haben wir eine Art Schraffur der einen Gesichtshälfte, eine Schraffur, wie sie in der Zeichnung die lichtabgewandte Seite eines Objekts darstellbar macht. Die Schraffur, die wir auch in anderen Köpfen finden, nämlich beispielsweise an der Stirn der Frauenbüste Erinnern1, ist tatsächlich bereits dem Steinzeug eingegraben, nicht erst durch die Lasur aufgebracht. – Aber wie tritt uns nun Afrika bei Sylvia Bohlen wirklich entgegen? Ein geschmückter Frauenkopf mit seltenem, exotischen Kopfputz, Bändern, Blüten, einer turbanartigen Kopfbedeckung aus Tuch. Stolz blickt sie über uns hinweg. Und sie ist auffällig schmal. Sehr schmal. Mich hat das an unsere Art der Kartendarstellung Afrikas erinnert: Durch das Aufklappen des Globus in die zweidimensionale Karte eines Atlas erscheinen die Regionen Richtung Polkappen – als z.B. Europa und Nordamerika – größer, als sie in Wirklichkeit sind. Afrika hingegen erscheint seitlich gestaucht und in der Breite verringert, klein gemacht. Das ist eine persönliche Assoziation, die ich bei dieser schmalen Gestalt hatte. Ein zu schmales Gesicht ist natürlich auch ein Hinweis auf eine bestimmt Ernährungssituation. Es ist ein Hinweis auf unser Schönheitsideal – viele Deutungen und Assoziationen sind möglich.

Meine Lieblingsplastik ist der Israeli – erkennbar, wenn auch nicht auf den ersten Blick, so doch um so eindeutiger, an seiner Kippa oder dem Kappel, das seinen Hinterkopf bedeckt. Seine Augen sind kaum geöffnet. Dennoch wirkt er aufmerksam. Sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt, was die Spur von Aufmerksamkeit verstärkt, ja ihm sogar den Ausdruck eines Fragenden verleiht. Er ist abwartend und defensiv. Er wirkt zerbrechlich und zart – und zugleich unverwüstlich und stabil. Selbstbewusst ist er auf eine ruhige und zurückhaltende, dafür aber um so bestimmtere Art: Aufbrausende Reaktionen oder spontane Gefühlsausbrüche der Freude oder der Wut scheinen bei ihm gleichermaßen unvorstellbar. Er scheint gefestigt und überlegen, als trüge er in sich die sichere Gewissheit seiner jahrtausendealten Geschichte. Er schaut einen an, daß man an den Namen seines Gottes Jahwe denken muß: „Ich bin der ich bin“.

Wie anders wirken da die beiden Freundinnen: Die eine, die mütterliche, mit zum Knoten gebundenem langen Haar, umarmt ihre Partnerin ohne zu merken, daß diese hinter ihrem Rücken die Hand zur Faust ballt. Das Psychogramm einer zwanghaften Bindung und Zweierbeziehung findet hier gestalterischen Ausdruck, und so nimmt es nicht Wunder, daß die beiden Freundinnen nicht als Plastik aus mehreren Tonplatten zusammengesetzt und aufgebaut, sondern aus einem einzigen Block Lindenholz herausgeschnitten sind. Und grob geschnitten, um nicht zu sagen gefetzt, mit der Kettensäge, die ihre eigene Ästhetik des sprichwörtlich „holzschnitthaften“ dem Kunstwerk mit auf den Weg gibt. Ecken und Kanten sind bei dieser Bearbeitung von Holz unvermeidbar und werden als Effekt mit einkalkuliert. Der einen Skulptur mit ihren beiden Gestalten fehlt in meinen Augen jede Anmutung des Organischen und Geschwungenen, die der Afrika, aber auch dem Israeli zweifellos eignen. Da ist nichts geglättet oder abgerundet, sondern vereinzelt hingeworfene rotbraune Pinselstriche betonen die grob behauenen Formen sogar noch. Im gesägten Holz ist es unmöglich, eine Feinheit des Mienenspiels herauszuarbeiten, wie wir sie in den glasierten Plastiken erkennen. Die Freundinnen bleiben trotz der hingetupften Augen und Münder eigentümlich gesichtslos. Die extrem flache Nase verleiht dem Gesicht der älteren von beiden beinahe den Anstrich eines Totenkopfes. Obwohl einander zugewandt, schauen die Figuren aneinander vorbei und blicken sich nicht an. Man hat den Eindruck, sie kommen äußerlich nicht voneinander los, halten im Wortsinne aneinander fest, obwohl die innere Bindung sich längst aufgelöst hat.

Damit sind wir aber immer noch nicht am Ende der Techniken von Sylvia Bohlen angelangt. Im Nachbarn finden wir einen behauenen Sandstein, im Hockenden und der Schönen nebenan im runden Turm eine Terrakottaplastik. Die Schöne ist glasiert, hat eine aufwendige Frisur und ein buntes Abendkleid an. Sie blickt stolz über uns hinweg. Der Hockende würde sich das erkennbar gar nicht trauen. Schüchtern blickt er zum Betrachter auf. Oder blickt er uns doch nicht an? Schaut er nachdenklich in die Luft? Seine Augen stehen nicht parallel, mir scheint, es ist schwer, einen Blick von ihm zu erhaschen. Die Körpersprache passt dazu: Achten Sie auf den richtiggehend ineinandergeschachtelten Körper des Hockenden. So massig seine Gliedmaßen sind, so sehr scheint er gewillt, sie so uns wenig wie möglich im Weg sein zu lassen. Er dreht sogar den linken Fuß nach innen und hat den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Ich möchte nun schließen und Sie wieder ganz den Kunstwerken überlassen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen angenehmen und anregenden Aufenthalt in der Ausstellung.

Dr. Cornelie Becker-Lamers