„Horst Janssen. Grafische Arbeiten“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Kunsthandlung in der Marktstraße Erfurt am 10. Oktober 2008

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Kunsthandlung in der Marktstraße hat den Besitzer gewechselt. Die Qualität der Ausstellungen aber ist die gleiche geblieben. Jan Löser stellt uns ab heute Horst Janssen vor und setzt damit ein Vorhaben um, das bereits längere Zeit von der Kunsthandlung geplant war. Und in der Tat reiht sich dieser Künstler nahtlos in das Ausstellungskonzept der vergangenen Jahre ein – Sie erinnern sich an die Graphiken der Klassischen Moderne letzten Herbst, an die Arbeiten von Günter Grass und vor allem an die Ausstellung zu Andreas Paul Weber, die 2006 hier zu sehen war.

Wie A. Paul Weber, der eine Generation älter ist als Horst Janssen, wie Weber, so gehört auch Janssen zu den produktivsten Grafikern des 20. Jahrhunderts. Sein Biograph Stefan Blessin schreibt noch zu Lebzeiten des Künstlers:

„Horst Janssen hat sein Leben in unabsehbar vielen Bildern und in einer wachsenden Zahl von Büchern öffentlich gemacht. Sie sind das ausführlichste Tagebuch. Keine Arbeit über Janssen kann damit in Wettstreit treten.“ (S. 8)

Und in der Tat hat der Künstler, dem seine Heimatstadt Oldenburg 1992 die Ehrenbürgerwürde verlieh und im Jahr 2000 ein eigenes Museum eröffnete, in knapp einem halben Jahrhundert besessenen Schaffens Tausende von Graphiken, Radierungen, Plakaten und Bleistiftzeichnungen, dazu noch Gedicht- und Erzählungsbände und andere Textsammlungen vorgelegt. Allein Janssens illustrierte Briefe an Freunde und Kollegen füllen einen eigenen dicken Katalog. Ab Mitte der 60er Jahre war er bundesweit in großen Werkschauen präsent, die Wochenzeitschrift DIE ZEIT betitelte ihn damals als „Genie“, ein erster Werkkatalog erschien. Es folgten Auszeichnungen, darunter der Grafikpreis der Biennale Venedig, ab den 80er Jahren dann weltweit Ausstellungen: in Japan, in Skandinavien und Wanderausstellungen durch die USA und die UdSSR. Bereits 1984 erschien auch die große Biographie von Stefan Blessin, aus der ich vorhin zitiert habe.

Was war Horst Janssen für ein Mensch? Aus welchen Quellen speist sich dieser manische Schaffensdrang?

Horst Janssen wurde am 14. November 1929 in Oldenburg geboren und wuchs behütet bei Mutter und Großeltern auf. Mit 10 Jahren verlor er den Großvater, mit 14 Jahren auch seine Mutter, Martha Janssen (Tuberkulose). Bis Kriegsende besuchte er eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt in Haselünne, Emsland. Schon hier wurde seine zeichnerische Begabung entdeckt und im folgenden von seiner Tante Anna gefördert. Anna Janssen war ebenfalls ledig und lebte in Hamburg als Finanzbuchhalterin. Sie nahm Horst Janssen 1945 auf und finanzierte ihm ein Kunststudium bei Alfred Mahlau an der Landeskunstschule Hamburg. 1951, nach Abschluß des Studiums, wurde Janssen in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen und erhielt 1952 ein Lichtwark-Stipendium zuerkannt.

Doch bevor er Ende der 50er Jahre in Hamburg und Hannover erste Galeristen fand und seine künstlerische Karriere begann, begann das private Dauerchaos, das sich wie ein roter Faden durch Janssens Leben zog und bis zu seinem Lebensende im August 1995 (Schlaganfall) nicht wirklich sortierte. Janssen entwickelte nämlich noch zu Studiumszeiten zwei fatale Vorlieben: eine für hochprozentigen Alkohol und die andere für verheiratete junge Mütter. Sein Leben lang brach er in funktionierende Familien und Beziehungen ein. Und er muss – sein Leben lang – eine unglaubliche Präsenz und Ausstrahlungskraft besessen haben, denn bis kurz vor seinem Tod gingen immer wieder Frauen auf sein Werben, bzw. die Belagerungszustände, die er inszenierte, ein.

Janssen war gerade dreißig, als er zum dritten Mal heiratete und sein drittes Kind zur Welt kam – wobei die drei Kinder nicht von den drei Frauen waren. Das wäre ja zu einfach. Seinen ersten Sohn schob er seinem väterlichen Freund Fritz Gutsche als Kuckucksei unter, ein zweites Kind, das Janssen mit Gabriele Gutsche zeugte, kam nicht zur Welt. (Eine Abtreibung war in den 50er Jahren im Westen keine einfache Sache.) 1953 wurde Janssen des versuchten Mordes an Judith Schlottau angeklagt. Judith Schlottau hatte sich von Janssen getrennt und war zu ihrem Ehemann zurückgekehrt. Janssen brach nachts ins Haus ein, prügelte sich mit dem Mann und ging mit dem Messer auf seine ehemalige Geliebte los. Eine dreijährige Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, Janssen wurde aber unter Alkoholeinfluß erneut straffällig und saß 1955 mehrere Monate ein.

Die Beziehungen zu Frauen blieben Zeit seines Lebens am Limit, mehrere Verhältnisse überlappten zeitlich, ich habe die Frauen nicht zusammengezählt, es ging einfach immer so weiter. Janssen war auf Menschen angewiesen, die ihn immer wieder schützten, stützten, Streitereien abwiegelten, ihm einen guten Leumund zu erhalten suchten. Zunächst seine Tante Anna, später sein Drucker Frielinghaus, der mehr als einmal nach einer Restaurantschlägerei, die Janssen vom Zaun gebrochen hatte, die Zeche zahlte, ein Strafgeld übernahm, hinter Janssen herräumte, einen Einbruch bei einer Ex-Geliebten zu verhindern suchte etc.

Um es mal neutral zu formulieren: Janssen war unglaublich extravertiert. Was Horst Janssen im Innersten empfand, das sollte doch bitte schön auch jeder wissen. Und so hat Janssen auch seine Kunst gemacht. Die Mehrzahl der Arbeiten reflektiert ein ganz konkretes persönliches Erlebnis und soll auch direkt verstanden werden. Janssen selbst sagt von sich, er habe „keine Motive, sondern Themen“, die jeweils seinen inneren Zustand widerspiegelten. Dies erklärt auch, warum Horst Janssen nie der Versuchung erliegen konnte, den Forderungen seiner Zeit nach abstrakter Kunst nachzukommen. Die Zeichnung ist für Horst Janssen ein Mittel, Erlebnisse und Kränkungen zu verarbeiten, mit seiner Umwelt zu kommunizieren – und dabei natürlich das letzte Wort zu haben. Das ständige Ineinandergreifen von Text und Bild auf den Radierungen und Zeichnungen passt noch mal besonders gut zu dieser Strategie.

Biografen heben den Einfluß der jeweiligen Lebensgefährtin Janssens auf den Schaffensprozess hervor, deshalb habe ich das auch etwas ausführlicher dargestellt. Bei Horst Janssen kann man wirklich Leben und Werk nicht trennen. Bobethanien etwa nennt sich ein Zyklus sehr spät entstandener farbenfroher Landschaftsaquarelle – Einfluss seiner Zuneigung zu Heidrun Bobeth, einer Journalistin, an deren Seite er sich 1990/91 von einem dramatischen Unfall erholte. (Wir werden gleich noch einmal darauf zu sprechen kommen).

Ein schönes Beispiel für das Überfließen des Lebens ins Werk Janssens ist auch das Blatt „zum Beweis“. Es eröffnet 1971 die zweite Serie von „Kopien“, aus der wir hier die meisten Blätter sehen. „Zum Beweis“ zeigt Figuren eines antiken Sarkophag-Reliefs. Seine damalige Lebensgefährtin Gesche Tietjens hatte die Bemerkung fallen lassen, er, Horst, könne ja gut zeichnen, aber ob er so etwas hinbekäme... Sie können sich vorstellen, dass Janssen geplatzt ist vor Kränkung und Wut. Er zeichnete die Figuren und schrieb darunter „zum Beweis“.

Zu fast jedem Blatt also gehört eine ganz persönliche Geschichte. Mit jeder Radierung, mit jeder Zeichnung dringt man nolens volens in eine Intimsphäre um Horst Janssen und seinen engsten Freundeskreis ein. „Meine Augen, Hallermann“, lesen wir auf der Radierung aus dem Jahr 1993 (links vom Fenster). Die Geschichte zu diesem Blatt ist der Unfall Horst Janssens vor der Entdeckung „Bobethaniens“. 1990 stürzte Horst Janssen mit dem baufälligen Holzbalkon seines Altonaer Hauses dreieinhalb Meter in die Tiefe. Das wäre ja schon schlimm genug, aber die Tragweite der Verletzung rührte von einem anderen Umstand her: Auf dem Balkon lagerten in Wannen literweise Salpetersäure zum Ätzen der Radierplatten. Zudem Lithosteine und Eisenplastiken. Nichts zertrümmerte ihm die Knochen, aber die Säure lief ihm über das Gesicht und in die Augen. Horst Janssen kämpfte um sein Leben und um sein Augenlicht. Er gewann – und dies mit Hilfe von Heidrun Bobeth und seinem Augenarzt Dr. Hallermann, der ihn täglich zuhause besuchte, damit Janssen nicht in einer Reha-Klinik genesen musste. Warum auf der Radierung auch die Buchstaben „DDR“ zu lesen sind, habe ich noch nicht herausbringen können, ob der Einsturz des Balkons mit dem Fall der Mauer assoziiert wurde? 1990 brachte man ja fast alles mit dem Fall der Mauer irgendwie in Beziehung. Nun steht da auch noch: „Oh, Lamme, jetzt bist du schon...“ Der Rest ist unleserlich. Lamme ist der Spitzname von Janssens erster Tochter – also dem ersten Kind, das er wirklich eine Weile mit betreut hat, 1956 ehelich geboren und eigentlich Catrin getauft. „Oh, Lamme – wo bist Du?“ lesen wir auf einem anderen Blatt. Und dann taucht der Name Lamme sogar noch in der Radierung „Eine Journaille wird kastriert“ auf. Die einzelnen Blätter sind sehr komplex, es verlangt das Studium wirklich aller Tagebücher, um jedes Blatt im einzelnen zu entschlüsseln.

Das jüngste seiner Kinder taucht ebenfalls auf einer unserer Radierungen (1982) auf – Adam, der 1973 von Gesche Tietjens geboren wurde, als Horst Janssen bereits schon wieder mit Bettina Sartorius zusammenlebte.

Gehen wir noch auf eine vollständige Kopienserie ein, die wir hier im Treppenhaus sehen. Zum Begriff „Kopie“: Wenn Sie im Zusammenhang mit Horst Janssen das Wort „Kopie“ hören, handelt es sich nie um ein Plagiat, das glauben machen möchte, ein Original zu sein, sondern um die Interpretation einer Vorlage. Es existieren phantastische Kopien von Bildnissen von Novalis, Hesse u.a., häufig mehrere Interpretationen derselben Vorlage, die sich immer weiter ins Karikatureske hinein steigern. Janssens „Kopien“ sind darauf angewiesen, dass man das Original kennt, um den Unterschied auswerten zu können, den der Künstler macht. (Man kennt das auch aus der Literatur, wo antike Tragödienstoffe etwa Antigone, Ödipus o.ä. in jedem Jahrhundert nacherzählt werden und es interessant ist zu verfolgen, wie jede Zeit den Stoff adaptiert und damit Aussagen über die eigene Zeit macht.)

Gerhard Schack, ein Sammler und langjähriger Weggefährte Horst Janssens, hat ein ganzes Buch mit dem Titel „Die Kopie“ zusammengestellt und schreibt dort, von der Kopie gehe „Faszination, Verwirrung und Beruhigung zugleich“ aus, „weil in diesem Bereich die Nötigung zu kurzatmiger Aktualität aufgehoben ist und ein größeres Gemälde von Gegenwart betreten wird.“

Janssens Kopien werden also als Kommunikation gelesen, als Kommunikation mit dem Vergangen, mit den Ausdrucksmöglichkeiten und „Energiekonserven“ des kulturellen Gedächtnisses. Im Falle unserer „Variationen zur Bergfrau Yamauba und des Kindes Kintaro“ ist es sogar ein interkulturelles Gedächtnis, eine interkulturelle Kommunikation, denn das Vorbild stammt von dem japanischen Künstler Kitagawa Utamaro, der von 1753-1806 lebte. Yamauba, eine Gestalt aus der Welt der japanischen Märchen und Sagen, heißt zu deutsch die „Berghexe“, wird auch mit Bergalte oder eben einfach Bergfrau wiedergegeben. die Benennung hier doppelt also eigentlich den Begriff. Die Yamauba ernährt sich von Menschenfleisch. Sie hat langes Haar, das sie in Schlangen verwandeln kann, um ihre Beute zu umschlingen. Sie ist natürlich eigentlich hässlich, kann sich aber auch in eine schöne junge Frau verwandeln, um ihre Beute zu verführen. Sie diente in Japan auch als Kinderschreck (ähnlich wie hierzulande Knecht Ruprecht, die raue Perchta, die auch Kinder fressen soll, weswegen Ruprecht mit einem Sack herumläuft.)

Yamauba also fängt und frisst Kinder. In Utamaros Holzschnitt ist denn auch wirklich ein Kind zu sehen, ein Riesenbaby, das auf dem Rücken der Bergfrau klammert und sich ängstlich umblickt. Das Kind bei Utamaro ist ausgesprochen niedlich gemalt und hat sofort die Sympathie des Betrachters auf seiner Seite. Die Hexe ist aber auch eher eine janusgesichtige Erdmutter, die Brüste sind sehr üppig, also eigentlich nährt sie und verschlingt. zugleich. Bei Janssen fällt dies alles weg. Er deutet das Kind um zu einem Klammeräffchen. Die Bergfrau ist dürr – diese dünnen langen Frauen, die für Janssen so typisch sind, sollen übrigens von der Gestalt seiner Mutter herrühren, die sehr lang und knochig war – die Yamauba Janssens hat eingefallene Brüste, eine Doppeldeutigkeit der Figur ist nicht mehr gegeben. Bei einem anderen Holzschnitt Utamaros küsst die Bergfrau das Kind, das sie auf dem Arm trägt. Bei Janssen geraten die mythologischen Urszenen zur Karikatur des bürgerlichen Ins-Bett-Geh-Rituals.

Die Gestalt des Äffchens kann von einer bestimmten Märchenvariante um die Yamauba herrühren: Ein Mädchen wird von seiner bösen Stiefmutter in den Bergen ausgesetzt und trifft die Yamauba. Diese frisst das Mädchen aber nicht, sondern entlässt sie beschenkt mit einem Säckchen wertvollster Kleidung und Opferreis. Das Mädchen kann sich mithilfe dieser Geschenke zu guter Letzt als würdige Braut eines Prinzen darstellen. Wiederum also die Doppelgesichtigkeit der Bergfrau, die bedrohlich ist, aber auch beschenkt (bedenken Sie: auch Hänsel und Gretel kehren mit Edelsteinen heim; Frau Holle bedroht und beschenkt). Aber zurück zum Äffchen: Die Aufgabe, die das Stiefkind verrichtet hat, bevor sie von der Yamauba beschenkt entlassen wurde, war: Sie hat die Bergfrau gelaust. Es ist also denkbar, dass Janssen diese Variante der Yamauba-Geschichte kennen gelernt hat und so seine Variation des Bildthemas entstanden ist. Auf einer weiteren Kopie aus demselben Jahr (1988) hat Janssen dann doch auch noch einmal die Bergfrau mit einem Kind dargestellt, jedoch wiederum entstellt, häßlich gemacht. Insofern ist er ein Kind seiner Zeit, in der alles Schöne sofort verdächtig ist.

Ich breche die Ausführungen zu Janssen an dieser Stelle mal ab. Sie sehen – über jedes einzelne Blatt kann man eine ganze kleine Seminararbeit verfassen, weil Vorbildgeschichten und persönliche Lebensumstände, Freundschaften Janssens etc. zum vollen Verständnis aufzuarbeiten sind.

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Wir haben aber noch die Holzskulpturen von Veronika Leder-Fischer hier. Frau Leder-Fischer ist aus Chemnitz gebürtig und stammt aus einer Musikerfamilie. Sie studierte Freie Kunst an den Hochschulen Hannover und Stuttgart, hat auch unterrichtet und ist seit 1970 als freie Künstlerin tätig und betreibt seit zwei Jahren eine eigene Galerie, die Galerie „Kunst und Genuss“ in Amorbach/ Odenwald. Die Arbeiten, die wir hier sehen, haben ihre Anregung aus einem jahrelangen Aufenthalt in Südfrankreich, wo das Ehepaar Fischer zwischen 1995 und 2006 lebte. Hier begann Veronika Leder-Fischer, sich mit dem Material Schwemmholz auseinanderzusetzen und Figuren daraus zu formen. Die Figuren bilden mimetisch Tiergestalten nach, mit dem Ausgangsstoff Holz und Federn. Sie sind eine Hommage an die Formenvielfalt der Natur.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, M.A., Weimar