"Meereskind". Herman van Veen

Rede zur Ausstellungseröffnung

POM business59 Jena, Sonntag, 13. Oktober 2013, 11 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

Marina Zollmann hat es mal wieder geschafft! Neben ihrer konsequenten Förderung mitteldeutscher Künstler - in ihrer Galerie Kunstraum, nebenan in der Arvid-Harnack-Straße, ist derzeit Hans-Hermann Richter zu sehen - überrascht sie uns immer wieder mit außergewöhnlichen Exponaten. So heute mit Bildender Kunst des berühmten Liedermachers Herman van Veen.

Herman van Veen als Maler? Wie geht das? Ist er nicht schon Sänger und Geiger, Schauspieler und Regisseur, Autor und Interpret - und das seit fast 50 Jahren? Sicher, das alles ist Herman van Veen. Aber seit er 2005 nach dem Tod seiner Eltern auf dem heimischen Dachboden einen Koffer mit wichtigen Habseligkeiten seines Vaters durchsah, überfiel ihn plötzlich die Einsicht, daß er außerdem würde fortführen müssen, was der Vater aus Mangel an Gelegenheit nicht hatte vollenden können: eine Karriere als Bildender Künstler. Der Vater war Grafiker und Schriftsetzer gewesen und hatte in seiner Freizeit Holzschnitte und Collagen angefertigt. "Mein Blick glitt auf meine Hände", so schildert Herman van Veen selber diese Situation. "Hände, die verblüffend den Händen meines Vaters gleichen. In Gedanken fragte ich die Hände: 'Was würdet ihr jetzt tun, wenn ihr die Hände meines Vaters wäret?' - 'Malen', sagte etwas in mir." Sie merken: Herman van Veen bleibt lyrisch, auch wenn er von solchen biographischen Meilensteinen seines persönlichen Lebens berichtet.

Und nicht nur dann: Auch seine Malerei ist in hohem Maße intellektuell motiviert. Da thematisiert ein Bilderzyklus das Leben der niederländischen Erzieherin Margaretha Zelle, besser bekannt als Tänzerin unter ihrem Künstlernamen Mata Hari. In einem weiteren Werkzyklus setzt sich Herman van Veen mit Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg auseinander: "Für alles, was im Menschen noch trauern wird", war die betreffende Ausstellung betitelt, deren Anregung u.a. aus dem Gedicht "1000 Soldaten" des Flamen Willem Vermandere stammt. Ein andermal ist es die Lyrik von Selma Meerbaum-Eisinger, eines jüdischen Mädchens (Cousine von Paul Celan), deren Liebeslyrik vor dem Hintergrund ihres frühen Todes im nationalsozialistischen Arbeitslager besonders zu Herzen geht.

Auch das Bild unserer Ausstellung hier, "Ohne jegliche Verpflichtung" hat seinen Titel einem Gedicht entlehnt. Es ist das Gedicht "Freund" einer niederländischen Psychiaterin (Margaretha Drooglever-Fortuyn-Leenmans, 1909-1998), die unter dem Pseudonym M. (oder Maria) Vasalis Gedichte verfaßte. Die Verse thematisieren Freundschaft als Verbindung zweier Personen, die einander alles gönnen, sich stets begleiten, ohne die Ansprüche zu entwickeln, die durch familiäre Bindungen seitens Eltern und Geschwistern entstehen können. Verläßlichkeit ohne Verpflichtung macht, daß beide Freunde freiwillig immer in dieselbe Richtung gehen: "Ohne jegliche Verpflichtung/ laufe ich und laufe stets in seine Richtung", so endet das Gedicht.

Sie sehen, wie Herman van Veen die hier beschriebene Erfahrung für uns visualisiert hat: Die aus der überdeckenden Schicht freigekratzten Linien laufen in eine Richtung - auch wenn sie mal überkreuz sind, wie man so schön sagt, die grundsätzliche Orientierung bleibt dieselbe. Es entsteht eine Art Zeichnung, die an das Furnierbild einer Holzbohle erinnert, an die Parallelität von Jahresringen, die im Längsschnitt des Baumes die unverwechselbare Maserung eines gewachsenen, zusammenhängenden Stückes Holz zeigen. Will sagen: Echte Freundschaft, wie sie im Gedicht beschrieben wird, ist ebenso etwas ganz Natürliches wie die Zusammengehörigkeit einer Familie. So gesehen, könnte man das Bild fast in der derzeitigen Diskussion um die verschiedenen Formen von Familie und Lebenspartnerschaften einbeziehen.

Nun sind wir also endlich bei den Bildern unserer Ausstellung "Meereskind" angelangt. Und können schauen, was es denn so malt, wenn, wie der Künstler selber sagt, wenn "es in ihm malt". Was malt es denn so? Hm! Sehr Verschiedenes. Da sind sehr kleine Bilder und sehr große Formate. Da sind zusammenhängende Gruppen von korrespondierenden Bildern und beeindruckende Solitäre, die eigentlich kein anderes Bild in ihrer Nähe dulden.

Diese Solitäre mag ich am liebsten. Sie sind ein Bad in Farbe. Sie sind so üppig in Acryl gespachtelt, daß ihre pastose Großzügigkeit fast zur Berührung der samtigen Farbflächen zwingt. Doch das Spachteln ist nicht der einzige Trick, den Herman van Veen anwendet, um den durch Abtönungen schon lebendig gestalteten Farbflächen auch noch eine taktile Struktur zu verleihen: Manchmal scheint ein Papier auf die dick bemalte Leinwand aufgebracht worden zu sein, das beim Entfernen eine tapetenartige Struktur geradezu graziöser, erhabener Linien hinterläßt: "Gegenseitiges Verständnis" ist ein solches Bild, dessen vielsagender Titel in Verbindung mit dieser haptischen Grazie ein ganzes Assoziationsfeld von Sensibilität, Einfühlung, Feingefühl und zwischenmenschlichem Entgegenkommen öffnet.

"Das Licht in Farben zu fangen, wie wenn man Schnee bewahrt", war der Ausgangspunkt im bildkünstlerischen Schaffen von Herman van Veen. Die Farben - die Farben als Licht waren es, auf die seine Hände ihn hinwiesen, als sie beschlossen zu malen. Und so ist es kein Wunder, daß das Blau es Herman van Veen besonders angetan zu haben scheint. So sehr, daß in seinen Bildern sogar die "Hoffnung" nicht grün, sondern blau ist. "Meereskind" heißt unsere Ausstellung und gibt uns den Gedanken an die blaue, unendliche Weite der Ozeane gleich im Titel mit.

Grundlegend für die theoretische Beschäftigung mit Farbe war für alle Künstler des 20. Jahrhunderts die Farbenlehre Johann Wolfgang Goethes, die Goethe Anfang 1808 abgeschlossen hatte. Er bestimmt darin zwei "Urfarben", nämlich gelb und blau und ordnet ihnen "Urkontraste" zu, wobei er gelb mit den Attributen des Hellen, der Wärme, der Nähe und der Abstoßung, das Blau aber mit den Eigenschaften der Passivität, des Dunklen, der Kälte, der Ferne und der Anziehung belegt. Die Erfahrung der Unermeßlichkeit angesichts eines tiefblauen Himmels ist allen Kulturen eigen - den Seefahrernationen zusätzlich die Erfahrung des unendlich weiten Meeres - und wird für diese Zuschreibung auch noch von den Bauhauskünstlern herangezogen. Wassily Kandinsky, der wichtigste Farbtheoretiker des Bauhauses, schreibt dem Blau als "typisch himmlischer Farbe" die Wirkung zu, im Menschen "die Sehnsucht nach Reinem und Übersinnlichem" zu wecken.

Schon in der mittelalterlichen Malerei kam dem tiefen Ultramarinblau eine besondere Bedeutung zu. Die Gottesmutter kleidet meist ein blauer Mantel. Dahinter steht die Idee der "Schutzmantelmadonna", deren Gewand uns umgibt wie das Himmelszelt und alle Menschen behütet, die sich ihr anvertrauen. Das war aber nicht der einzige Grund für diese Farbgebung. Der zweite war: Lapislazuli, das Farbpigment des Ultramarinblau, war teurer als Gold. Das Blau der Maler entsprach in seiner Kostbarkeit damit dem Purpur der Textilfärber und adelte jede in blau gewandete Figur.

Ich sehe die Art, wie Herman van Veen die Farbe Blau handhabt, in einer Linie mit der Kunst von Yves Klein. Yves Klein wurde 1928 in Nizza geboren und starb 1962 mit nur 34 Jahren in Paris. Klein ist im 20. Jahrhundert der Künstler, der die Farbwirkung des Ultramarinblau am weitesten ausgereizt hat. 1956 nämlich entdeckte er die Möglichkeit, mithilfe von Rhodopas, einem Bestandteil von Petroleum, Lapislazuli in so reiner Form in Malerfarbe zu verwandeln, daß sich die ungewöhnliche Leuchtkraft dieses Blautons erhält. Dieses Yves-Klein-Blau bezieht seine Wirkung aus der Umwandlung von UV-Strahlen in sichtbares Licht, so daß tatsächlich ein Leuchten von der bemalten Leinwand ausgeht. In Bildern wie "Gegenseitiges Verständnis" sehe ich genau solch eine Wirkung der Farbe, einer Farbfläche, die den Betrachter "wie unter einer Kuppel" bergen. So beschreibt der flämische Kunsthistoriker Frans Boenders die Wirkung dieser Bilder. "Stück für Stück durchdringt dich die Mutterfarbe", fährt Boenders fort, "und macht dich zum Gefährten ihrer Wärme oder ihrer Kühle. Du verweilst in Farbfeldern, die keine Abgrenzungen dulden und ihren üppigen Raum auf dich übertragen."

Das Blau ist die Farbe des Unermeßlichen, des Unerschöpflichen, des Fernen und Anziehenden. Und so ist es auch eine Farbe der Erotik. "Blaue Stunde" hat Gottfried Benn ein Liebesgedicht betitelt, dessen Strophen die erotische Dimension des Blauen beschwören:

"Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,/ von einem Glück aus Sinken und Gefahr/ in einer blauen, dunkelblauen Stunde/ und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war."

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar