Die dritte Spiegelung

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „passus in visibili“

Installation für zwei Videoprojektionen und eine Musikkomposition
Von Bettina Grossenbacher und Junghae Lee

Kunsthaus Erfurt (Projektion: Predigerkirchhof) 22. September 2000, 21 Uhr

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Predigerkirche ist derzeit der Ort der großen Thüringer Landesausstellung zu Johann Sebastian Bach, dessen Leben und Werk sich vor 250 Jahren vollendeten. 1750 war das irdische Dasein Johann Sebastian Bachs abgeschlossen. Geistig freilich war er alles andere als tot. Sein mehr als tausend Kompositionen umfassendes Werk wirkte weiter und erlangte eine einzigartige Stellung in der Musikgeschichte, die bis heute fortdauert. Sie hat diesen Thüringer Komponisten zu einem der weltweit bekanntesten und durch alle Bevölkerungsschichten hindurch populären Musiker gemacht. (Denken Sie beispielsweise an das Air!)

Im Innern der Predigerkirche werden in zahllosen Exponaten und Schautafeln akribisch die Stationen des Lebens Bachs nachgezeichnet: Seine Abstammung aus einer Musikerfamilie, seine Ausbildung, seine Instrumente, seine Arbeitsstellen und dann die musikalischen Einflüsse, die auf ihn wirkten und seine eigenen Kompositionen beeinflußten.

Die Installation „passus in visibili“ aus Videoprojektion und Klangcollage, die Sie ab heute an der Außenmauer der Predigerkirche sehen, ergänzt die Ausstellung im Innern wie die Kehrseite einer Medaille. Hier draußen, im Stadtraum, wird nicht historisch Leben und Werk Bachs rekonstruiert, sondern direkt mit Bach gearbeitet: mit Spuren seines Lebens, mit Fragmenten seines Werks, vor allem aber mit den Kunstgriffen, die Bachs Werken ihre hochgeschätzte Vielschichtigkeit von Deutungsebenen verleihen.

Ausgehend von Fragmenten aus Bachs Werk verfremdet die Klangcollage der koreanischen Komponistin Junghae Lee die Alte Musik, bis sie das Gesicht Neuer Musik erhält (Sie haben das etwa bei dem ins Metallische verzerrten Cembaloklang gehört). Abgestimmt auf die Bilder des Videos, verschwimmen die Klänge oder mischen sich mit fremden Geräuschen unseres heutigen Alltags: Die Musik Bachs in ihrer Popularität wird als Teil der uns umgebenden Klang- und Geräuschwelt wahrnehmbar. Die kontrapunktische Komposition mündet dann wieder in „echten“ Bach. Es erklingt das Präludium C-Dur aus dem vielleicht berühmtesten Werkzyklus Bachs: Das wohltemperierte Klavier, auf dem Cembalo gespielt von Junghae Lee.

Ausgangspunkte der Videobilder von „passus in visibili“ sind dreierlei: die Orte Bachs, die handschriftlichen Partituren Bachs und eine Interpretation Bachscher Musik wiederum durch Junghae Lee. Wenn man möchte, kann man in der Abfolge der Videobilder eine Chronologie wahrnehmen: Grundlage sind die Orte aus Bachs Leben, darauf aufbauend seine Handschrift in den Partituren seiner Komposition. Zuletzt sehen wir das Wirken der Musik in einer zeitgenössischen Interpretation.

Wie auch immer: Das ungewöhnliche an der Wahrnehmungsweise, die die Installation uns ermöglicht, ist der Tatsache geschuldet, daß die Dinge aus übergroßer Nähe beobachtet werden. Die Aufnahmen der Orte Bachs scheinen in den Fugen der Pflastersteine nach den Spuren seiner Füße zu suchen: Vielleicht ist ja doch etwas zu entdecken, sieht man nur genau genug hin. Aus so direkter Nähe sind die Straßenpflaster aufgenommen, daß die große Fläche ganz und gar in ihre kleinteilige Struktur zerfällt. Aus dem Abbild einer Straße wird das Bild einer Struktur, wird Konkrete Kunst.

Auch die Handschrift der Komposition Bachs wird so genau gelesen, daß die einzelnen Worte des vertonten Textes aus ihrem Zusammenhang heraustreten und Fragmente und Versatzstücke der Melodiebögen sich verselbständigen. Aus dem großen Wurf einer Kantate wird die kleinteilige topographische Karte einer Tonlandschaft.

Die Finger der Cembalistin beobachten sich gleichsam selbst: Für die Aufnahme befestigte Bettina Grossenbacher eine Fingerkamera auf der Hand von Junghae Lee, so daß die spielenden Hände zum Teil mit ihrer Spiegelung in der glänzenden Rückwand des Tasteninstruments verschmelzen.

Spiegelung. Ein gutes Stichwort. Die Hände der Cembalistin sind nämlich nicht das einzige, was sich hier spiegelt. Die gesamte Videoinstallation, Sie werden es bemerkt haben, besteht aus zwei Teilen und läuft an einer senkrechten Spiegelachse in der Mitte des Bildes in sich selbst zurück. Die aufgenommen Orte berühren das Leben Bachs. Die Partituren berühren sein Werk. Die Anlage der gespiegelten Projektion aber nimmt Bezug auf die Kompositionsweise, auf die von mir bereits angesprochenen Kunstgriffe der barocken Musiktradition.

Die Spiegelung ist in dieser Tradition des Komponierens nur eines der vielen in der Musik versteckten Bilder, die dazu dienten, sprachliche Inhalte klanglich umzusetzen. (Wollte man etwa die Entsprechung irdischen und jenseitigen Lebens hörbar werden lassen, so spiegelte man die Melodie mit selben Tonschritten.) Weitere Bilder, die zum Teil besser durch das Lesen der Partituren als durch das Hören der Musik zu entschlüsseln sind, sind die sogenannten musikalisch-rhetorischen Figuren in der Musik des Barock. Der Zusammenhang zwischen Musik und Rhetorik datiert dabei schon aus der Antike, als diese beiden Künste in den „septem artes liberales“, den „sieben freien Künsten“, zusammengefaßt unterrichtet wurden: Die grammatisch-literarischen Fächer Dialektik, Grammatik und Rhetorik bildeten das Trivium, die mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik das Quadrivium im Lehrstoff.

Musikalisch-rhetorische Figuren sind nun solche Melodiebögen in der Komposition – musikalische „Phrasen“ nennt man das, das ist in der Musik nicht abwertend -, musikalisch-rhetorische Figuren also sind Phrasen, die einen sprachlichen Inhalt quasi visuell-räumlich in der Musik umsetzen und mit den Namen rhetorischer Figuren belegt werden. So dient etwa ein als „unsanglich“ geltendes, dissonantes Intervall wie die kleine Sekunde (zwei chromatisch direkt benachbarte Töne) der Veranschaulichung des Leidens Christi. Ein solches Intervall heißt dann „passus duriusculus“ – übersetzt „harter Schritt“, also harter Tonschritt. - „Passus duriusculus“: Sie hören, daß auch der Titel unserer Installation „passus in visibili“ bereits eine Anspielung auf die musikalisch-rhetorischen Figuren ist. Allgemein formuliert könnte man sagen, daß die musikalisch-rhetorischen Figuren dazu dienen, die Musik zu semantisieren, also eigentlich bedeutungslose Tonfolgen mit einer festen Bedeutung zu untersetzen und direkt sprachlich übersetzbar zu machen.

Sie sehen, daß sich hier erneut eine Spiegelung ergibt: Die Semantisierung in der barocken Musik Johann Sebastian Bachs findet ihre umgekehrte Spiegelung in einer Desemantisierung, die das Bildmaterial bestimmt: Die Straßen finden sich auf reine Strukturen reduziert, die Partituren werden so nah betrachtet, daß die großen Linien in zusammenhanglose Teile zerfallen und ebenfalls als rein ästhetische Struktur wahrnehmbar werden. Die Darstellungen von „passus in visibili“ werden durch ihre Reduktion auf Konkrete Kunst ihrer Abbildfunktion und damit ihrer gewohnten Bedeutung entledigt. Sie spiegeln so mit den heutigen künstlerischen Mitteln die künstlerischen Mittel der barocken Musiktradition.

Es ist dies die subtilste Art und Weise, in der die Musik Bachs in die heutige Zeit transponiert werden kann: „Passus in visibili“ ist die Übertragung barocker künstlerischer Mittel mithilfe barocker künstlerischer Mittel – und als Ergebnis finden wir zeitgenössische Konkrete Bildende Kunst. So nähert „passus in visibili“ nicht nur Bach den heutigen Rezipienten an. „Passus in visibili“ nähert auch die Künste einander an.

Wir leben in einer Zeit der Bedeutungsüberfrachtung der Bilder. Jedes Bild wird automatisch zum Teil einer Visuellen Kommunikation und verliert seinen Spielraum, unter rein ästhetischen Gesichtspunkten „mit interesselosem Wohlgefallen“ betrachtet zu werden. In dieser Zeit der Übersemantisierung der Bildkultur entlastet „passus in visibili“ mit den Mitteln seines musikalischen Vorbildes – der Spiegelung – die Abbildung von ihrer Bedeutungsfunktion. Zu Hilfe kommt der Künstlerin hierbei eine Musiktradition, die weit vor dem Zeitalter der „absoluten Musik“ die Semantisierbarkeit von Harmonien und Tonfolgen schätzt und durch Kompositionsvorschriften fördert.

So finden sich in dem dreistufigen Kunstwerk „passus in visibili“ nicht nur drei Ausgangspunkte der Bildbearbeitung und nicht nur drei Sinnschichten von Leben, Werk und Wirkung Bachs. Es findet auch eine dreifache Spiegelung statt: auf der Bildebene die Spiegelung der Cembalistenhände im Instrument; auf der Projektionsebene die Spiegelung der beide Bildteile an einer senkrechten Mittelachse; auf der Bedeutungsebene aber die Spiegelung der Künste von Bild und Musik, die einander auf dem Weg in die Übersetzbarkeit durch Sprache entgegenkommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker-Lamers