„Die Anomalie der Dinge“: Matthias Geitel

Rede zur Ausstellungseröffnung

Nietzsche-Haus Naumburg, 20. Juni 1997

Meine sehr geehrter Damen und Herren!

Dionysisch ist sie nicht, die Kunst Matthias Geitels. Obwohl in ihr das Element des zerstörend-neuschaffenden Dionysischen, wie Nietzsche es entwirft, durchaus zentral ist. Dionysisch ist sie nicht, denn sie ist nicht im Rausch geschaffen. Sie ist nicht im festlich-zerstörerischen Akt als das Lebensfähige geblieben, was der Zufall übrigließ.

Die Kunst Matthias Geitels wächst. Sie entsteht, sie ist akribisch gearbeitet und genau, nach Konzept entworfen und mit asketischer Hingabe an das Objekt ausgefeilt. Sie ist reflektiert und selbstreflexiv, so selbstreflexiv, daß eine einmal geschaffene Installation zum Element einer nachfolgenden Arbeit werden kann, wie das beispielsweise die dreiteilige „suche nach licht“ in einem Erfurter Gewölbekeller 1995 gezeigt hat. Sie ist in den „Erinnerungen an eine Ausstellung“, dem Teil 2 der hier ausliegenden Erfurter Trilogie, beschrieben.

Die Kunst Matthias Geitels wäre also apollinisch? Auch wieder nicht, denn wäre als apollinisch zu beschreiben, wenn in der Kunst Gezeigtes eben dadurch, daß es gezeigt wird, verborgen wird? Ist für den logischen Verstand begreiflich, wenn etwas, was aufbewahrt werden soll gerade dadurch, daß es aufbewahrt wird, zerstört wird?

Doch es passiert genau dies in der Kunst Matthias Geitels: Die Anzahl der Überblendungen und überlagerten Transparenzen von Schrift und Schrift, von Schrift und Bild, von Bild und Bild in Objekten wie den „Gleichungen“ oder den „Zwei Tagen im September“, aber auch in der „einfachen Wahrheit“ realisieren Welt immer nur ungreifbar und virtuell. Geschriebenes wird überschrieben und dadurch ausgelöscht. Schrift wird ihres Inhalts beraubt, indem unmöglich wird, sie zu lesen: Als Zeichen verweist sie nur noch auf sich selbst. Statt durch die Schrift hindurch auf das Gesagte zu achten, zwingt solche Kunst den Betrachter, das Geschriebene zunächst nur unter dem ästhetischen Aspekt wahrzunehmen. Das Zeichen wird zum Ornament.

Und dennoch gibt es selbstverständlich inhaltliche Aspekte in der Kunst Matthias Geitels. Die Titel der drei Künstlerbücher/Kataloge, die seit Oktober letzten Jahres als „Erfurter Trilogie“ im Handel sind, geben das Thema der Erinnerung als den Schwerpunkt mehrerer Jahre der Arbeit Matthias Geitels unübersehbar zu erkennen: Teil 1, „Remember some objects. Erinnere Dich an einige Dinge“ entstand 1994, Teil 2, „Erinnerungen an eine Ausstellung“ 1995 und im letzten Jahr als dritter Teil die „Aufzeichnung erinnerter Monologe“.

Letzter Titel macht wiederum die dem Thema der Erinnerung so eng verwandte, im Werk Matthias Geitels bewußt angelegte Selbstreflexivität überdeutlich: „Aufzeichnung erinnerter Monologe“: Ist der Monolog schon eine Art der erinnernden und aufarbeitenden Reflexion, so wird er überdies erinnert, um dann, in der Aufzeichnung der Erinnerung des Monologs, ein drittes Mal in sich selbst gespiegelt zu werden.

In seinem Katalog zur heutigen Ausstellung zitiert Matthias Geitel passagenweise Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Und lesend erkennt man, warum: Statt der „monumentalischen“ Betrachtung des Vergangenen einerseits, die die Taten einiger weniger Genies über die Maße des Menschenmöglichen erhebt und wenige Daten und Ereignisse mit der Gloriole des Übernatürlichen umgibt – und der „antiquarischen“ Sammelwut andererseits, die in der Masse des Erinnerbaren versinkt, weil ihr die Kraft fehlt, Prioritäten zu setzen, fordert Nietzsche eine Historiographie der „kritischen“ Betrachtung der Geschichte, die freilich die Kraft erfordert, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können“. Leben, „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“, fällt demnach das Urteil über die Geschichte, wählt aus und bestimmt, was der Erinnerung würdig, was – vielleicht nur vorerst – zu verwerfen und was zu transformieren und fortzuführen sei: „So überspinnt der Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äußert sich sein Kunsttrieb – nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb."

Wie Jesus übrigens – wenn Sie auch ein Zitat aus diesem wichtigen Teil der Weltliteratur entschuldigen wollen – wie Jesus scheint Matthias Geitel zu fragen, was Wahrheit denn überhaupt sei: „Was ist Wahrheit?“ – Ist es „Die einfache Wahrheit“, wie sie das gleichnamige Kunstwerk aus dem Jahr 1994 uns nahe bringt? Wie sieht diese einfache Wahrheit aus? Einem festen Stapel gleichgroßer quadratischer Glasplatten sind Ausrisse von Tapetenresten eines alten Erfurter Hauses zwischengeschoben. Undeutlich und nicht Schicht für Schicht isoliert rekonstruierbar, scheint die Musterung jedes Tapetenstückes durch die freien Flächen des darüber liegenden Glases hindurch und prägt das Bild auf der Oberfläche des Objektes mit. Vielschichtig, in ihren Elementen und der Entstehung ihrer Gestalt letztendlich undurchschaubar und aus einer Anzahl von Überschreibungen und Überlagerungen zu einem scheinbar geschlossenen Bild zusammengesetzt, ist die „einfache Wahrheit“ viel tiefgründiger, als ihre Oberfläche es greifbar werden läßt.

Um in seiner Kunst und durch seine Kunst über das Erinnerungswürdige unserer Kultur mitzubestimmen, hat sich Matthias Geitel lange dem Ausgesonderten und Verfallenden, Aufgegebenen unserer Kultur zugewandt. Auf seinem Weg zum Erinnerbaren schritt er leerstehende Gebäude ab. Seine Objekte und Installationen entdeckten, was in den Häusern an Wahrheit gespeichert war. Verblüffenderweise ist es das Verfahren der antiken ars memorativa, der Gedächtniskunst, das Matthias Geitel hier aus der Anwendung heraus wiedererfindet. In den Rhetorik-Traktaten Ciceros und Quintilians nämlich wird ein festes Konzept entworfen, wie eine öffentliche Rede memoriert werden sollte, um die Argumente in der zuvor erarbeiteten Reihenfolge wiedergeben zu können. Es geschieht dies mithilfe der Räume eines Hauses, das dem Redner wohlbekannt zu sein hat. Er betrete in Gedanken dieses Haus und plaziere reihum in den Fensternischen und an den Säulen, in charakteristischen Gegenständen oder szenischen Bildern verschlüsselt, die Argumente seiner Rede. Bei der Wiedergabe der Rede durchwandere er in Gedanken erneut die Zimmerflucht, um den Räumen die dort niedergelegten Gedanken einen nach dem anderen abzulesen. Auch hier also speichern Gebäude das Gedachte, das sich in Gegenständen, Statuen oder Bildern materialisiert hat. Wenn Matthias Geitel zerstörte Häuser aufsuchte, um das im Grundriß, dessen Zerstörung, in ausgetretenen Stufen und weggeworfenen Gegenständen festgehaltene Leben wiederzuerfinden, rekonstruierte er, was andere Menschen den Räumen zur Aufbewahrung mitgegeben haben: „Erinnerung bedeutet Kommunikation“, heißt es in „Remeber some objects“, dem ersten Teil der Erfurter Trilogie. „Erinnerung bedeutet Kommunikation“ – Kommunikation wie Literatur : über Zeiten und räumliche Entfernungen hinweg.

Wo ihn seine Arbeit mit objets trouvés prinzipiell der Kunst Andy Warhols oder auch Marcel Duchamps verpflichtet, unterscheidet sich Matthias Geitel in einem wesentlichen Punkt von ihnen: während Duchamps und Warhol Gegenstände des (immer noch) täglichen Gebrauchs durch ihre Dekontextualisierung im musealen Raum zu Kunstobjekten machen, wendet sich Matthias Geitel konsequent dem Ausgesonderten zu. Relikte, Reliquien aus einer anderen Zeit sucht er auf, um ihnen oder ihren Defrottagen Kunstgegenstände in der Objektgruppe gegenüberzustellen. Noch einmal: „Erinnerung bedeutet Kommunikation“: In der Spiegelung des gefundenen Gegenstandes in der Kunst ist das Objekt zur Materialität dieser Kommunikation geworden.

Was Geitels Kunst erkennen läßt, ist das „liebende Versenktsein in die empirischen Data“, das „Weiterdichten der gegebenen Typen“, von dem Nietzsche im Nutzen und Nachteil der Historie spricht, als er den Weg zu der von ihm erwünschten und geforderten „kritischen“ Geschichtsschreibung aufzuzeigen versucht. Er fährt fort: „Der ächte Historiker muß die Kraft haben, das Allbekannte zum Niegehörten umzuprägen und das Allgemeine so einfach und tief zu verkünden, daß man die Einfachheit über der Tiefe und die Tiefe über der Einfachheit übersieht.“

Ich wünsche Ihnen einen erlebnisreichen Abend und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Cornelie Becker