Übergänge. Grenzen
Rede zur Ausstellungseröffnung
„Ellen Fuhr, Berlin. Arbeiten auf Papier“
Galerie Finkbein, Gotha, 16. Juli 2000
Meine Damen und Herren, es ist eine Künstlerin, deren Werke die Galerie Finkbein ab heute präsentiert. Es ist Ellen Fuhr, die wir ab heute hier studieren können.
Aber wenn Sie sich in dieser Ausstellung hier umsehen, so scheint es zwei Ellen Fuhrs zu geben: Eine dunkle und eine farbige. Einerseits eine Ellen Fuhr, die ihren Arbeiten auch in den Mischtechniken immer den Stempel einer Herkunft aus der Graphik aufdrückt, eine Ellen Fuhr also, die die Bilder ganz aus der Linie heraus mit einer zum Teil fast erdrückenden Last von vorherrschendem Schwarz gestaltet. Und andererseits eine Ellen Fuhr, die sehr wohl aus der Farbe heraus ihren Bildgegenstand zum Leben erwecken kann, eine bauhäuslerische Ellen Fuhr, die aus kräftig gefärbten Flächen einen dreidimensionalen Bildraum konstruiert.
Expressiv sind sie beide. Und in beiden Fällen sind es Übergänge, Brücken, Straßen, Bahnhöfe, Leitern, Treppen, die in den verschiedensten Variationen zur Darstellung kommen. Und immer scheint klar, dass es die Darstellung der Perspektive ist, die es Ellen Fuhr besonders angetan hat. In weit überzeichneten Engführungen saugt die Künstlerin den Betrachter förmlich in ihre Bilder hinein. Wie in einem Zerrspiegel erscheinen die Gebäude zur Bildmitte hin verjüngt, in starker Perspektivierung streben die Straßenzüge und Brücken einem Fluchtpunkt zu.
Es ist der Eindruck großer Eile, der hier eingefangen scheint: Es ist, als würde man vom Anblick, der sich einem eben erst bietet, sofort schon wieder weglaufen. Als würde das dargestellte Universum wie der uns umgebende Weltraum beständig mit Lichtgeschwindigkeit auseinander treiben, so flieht der Fluchtpunkt der Bilder beständig von uns weg. So kommt es zur Verzerrung der Perspektive, zur Überzeichnung der Entfernungswirkung. Man möchte geradezu von einem visuellen „Doppler-Effekt“ sprechen.
In der weit überwiegenden Zahl der hier ausgestellten „Arbeiten auf Papier“, ich habe es schon erwähnt, dominiert das Schwarz. Da gibt es Bahnhöfe, Leitern, Brücken, Straßen: „Dresden Neustadt“ I und II, „S-Bahn in Köpenick“, der „Bahnhof Neustadt“ hat immerhin einen knallroten Farbfleck. Und natürlich die „Friedrichstraße“. - Ist das Bild „Friedrichstraße“ der Schlüssel zum Grau-in-Grau der Bilder? Steht der Ort, der Nicht-Ort, die Durchgangsstation „Friedrichstraße“ möglicherweise auch Jahre nach der Wende noch immer für den Grenzbahnhof, in dem braune Spanplatten die Gleise von Ost und West trennten? Drüben fuhren die Interzonenzüge, hier standen die Bürger der DDR und warteten auf ihre S-Bahn nach Erkner oder Straußberg Nord. Eine nicht zu übersehende Präsenz bewaffneter Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee sorgte für eine drückende Atmosphäre im bewachten Terrain.
Sind das die Übergänge, die man nur in den schwärzesten Farben malen kann? Die Übergänge, die keine sind, die Passagen, die man nicht wahrnehmen kann, die sprichwörtlichen „Brücken“, über die man schon freiwillig nicht geht?
Wären diese Grenz-Stationen, diese Übergänge wie Brücken, Straßen, Leitern und Bahnhöfe in abschreckendem Schwarz umgesetzt, weil hier verdeutlicht wird, was Übergänge auch bedeuten können: die Sichtbarmachung der Unzugänglichkeit des Draußen, des Drüben, der Anderen, möglicherweise zum Teil besseren Welt? Erst in der Möglichkeit des Übergangs wird uns bewusst, dass wir eingeschlossen sind. Erst die Möglichkeit des Übergangs markiert auch die Möglichkeit, ihn aktiv und militant zu verschließen. So wurde die Tür, die Pforte schon im Alten Rom mit dem Januskopf, dem Kopf mit den zwei Gesichtern geschmückt: Es geht hinaus und herein. Janusgesichtig ist die Grenze, die die Möglichkeit zum Übertritt eröffnet und dennoch stets verschlossen bleibt.
1958 wird Ellen Fuhr in die damals noch nicht durch Mauer geteilte Hauptstadt der DDR hineingeboren. Nach ihrem Abitur studiert sie ab 1978 in Dresden bei Gerhard Kettner Malerei und Graphik, was sie 1983 mit einem Diplom abschließt.
So weiß Ellen Fuhr denn, wovon sie ‚spricht’, wenn sie malt? Es ist Ekkehard Storck, der in seinem Katalogbeitrag zur Veröffentlichung „Expeditionen“ von Ellen Fuhr (1998) diese Seite der Biographie Ellen Fuhrs in den Blick rückt: In den neuen, farbigen Bildern werde das Grau-Grau des DDR-Alltags abgeschüttelt. Doch Kritik formuliere sich auch an der alles plattwalzenden Dominanz der westlichen Kultur, ihres gnadenlosen Marktes und der Unüberschaubarkeit der globalisierten Welt. – Wenig Grund zur Farbe also doch auch jenseits der Grenze, die nun formal gar nicht mehr existiert?
Die andere Ellen Fuhr, die mit der Farbe, wo kommt sie her? Wie kommt die Farbe ins Bild? Nun, ganz klassisch durch eine Welt, die hinlänglich abgeschlossen scheint, so dass ihre Kultur unberührt und für europäische Augen neu und erfrischend wirkt; durch eine Welt zudem, die seit 100 Jahren große Künstlerbiographien mit den inspirierenden Eindrücken exotischer Andersartigkeit anreichert (denken Sie an August Macke und Paul Klee). Es ist die Welt des islamischen Nordafrika, des Grenzlandes schlechthin, die Ellen Fuhr anlässlich einer Studienreise nach Marokko 1995 kennenlernt und die sich in den „Marrakesch“-Bildern hier niedergeschlagen hat. In dem Maße, wie die Zonengrenze den undurchdringlichen Übergang schlechthin symbolisiert, steht Nordafrika für die Brücke, die wirklich eine war: Durch jüdische und arabische Gelehrte wurde im Hochmittelalter die antike Wissenstradition – allen voran die Schriften des Aristoteles, aber auch des Cicero, des Quintilian – aus dem Perserreich über Nordafrika und das maurische Spanien nach Europa gebracht: Grundlage unserer hochverehrten abendländischen Wissenstradition waren Gelehrte genau jener Völker – Juden und Araber - die unsere Kultur immer glaubt, kurzerhand aus ebendieser abendländischen Tradition ausschließen zu können. Aber Aristoteles kam in arabischer Übersetzung über Nordafrika erst zurück nach Europa. Nordafrika steht für die Brücke zwischen den Religionen – hier leben Christen, Moslems und Anhänger afrikanischer Naturreligionen zusammen. Nordafrika steht für die Brücke zwischen den Kontinenten – im schwarzen Kontinent gelegen, bildet es den Übergang von Asien nach Europa und – seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Film „Casablanca“ nach Amerika, in die Neue Welt. Nordafrika steht für die Brücke zwischen den Völkern Afrikas, der Levante, Arabiens und Europas.
Diese Brücke kann man, muß man farbig darstellen. In den Brücken und Übergängen von Marrakesch schießen lebensbejahend bunte Farbflächen zur Raumperspektive zusammen. In den Treppen und Brücken der „Brücke“ Nordafrika scheint Ellen Fuhr endlich gefunden zu haben, wonach sie für ihre farbige Malerei suchte. Der Traum von der Anderen Welt muß noch nicht aufgegeben werden. Sie existiert, und sie ist wenigstens prinzipiell erreichbar.
Ich hoffe, Ellen Fuhr reist noch öfter nach Marokko.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Cornelie Becker-Lamers, Erfurt