Fingerländer. Zeichnungen von Erik Buchholz.

Rede zur Ausstellungseröffnung

11. Feb. 2006, Galerie Profil, Weimar

Sehr geehrte Damen und Herren,

willkommen in der Ausstellung „Fingerländer“ mit Arbeiten von Erik Buchholz. Fingerländer. Schon der Titel verstört. Er verstört grundlegend wie alle Dinge, die man zu kennen meint und die erst beim Nachdenken fremd werden. Fingerländer. Man meint das Wort zu kennen, schon mal gehört zu haben. Klar: Finger und Land. Oder war es was mit Finnland? Finger und Land ergibt doch keinen Sinn! Finger länger? Fingerländer. Komisch.

Sehen wir uns die Kunst an, die unter diesem Titel ab heute hier firmiert, so verstört sie auf die gleiche Weise. Aus dem Zentrum gerückte Formen lassen z.T. große weiße Flächen von Papier frei (etwa Fingerländer, Und sammeln den Rauch in den Krügen, aber auch Lufthütte u.a.). Aber Moment – die sind ja gar nicht frei. Das ist ja alles überstrichen. Hält man die Blätter nah genug vor die Augen, so nimmt man eine Maserung wahr. Das Papier sieht aus wie Holzfurnier. Eigentümlich glatt geschliffen, und doch strukturiert.

Technisch kommt die Struktur dieser Blätter durch viele Schichten von Acrylfarben zustande, die in der Tat immer wieder abgeschliffen und erneut aufgebracht werden. Wie eine Lasur legt sich eine weiße Schicht zwischen zwei Farbschichten, überdeckt – aber überdeckt nicht ganz. Das ist die formale Seite dieser Arbeiten, und sie bestimmt natürlich die inhaltliche Seite.

Was sagt man inhaltlich zu dieser Kunst? Sie ist - fingerländermäßig eben. Man erkennt klare Formen, z.T. technische Details (vgl. Brunnenzentrale u.a.), um auf den zweiten Blick zu sehen, daß es doch nicht die Formen sind, für die man sie gehalten hat. Denn jede oberste, sichtbarste Schicht ist ja immer schon Korrektur. Die formale Schichtung der Farbaufträge schafft Formen, die als immer schon relativierte erscheinen. Eigentlich war es gar nicht so, scheinen die Bilder zu sagen, und: So kann man das nicht sehen. Und: Du weißt ja noch nicht alles.

Die Übermalungen und Schichtungen, die Erik Buchholz uns präsentiert, kann man auf zweierlei Weise lesen:

Entweder, wir haben hier Palimpseste vor uns: Eine Form, die nicht mehr gebraucht wird, die als noch nicht stimmig oder als veraltet erkannt wurde, wird übermalt und kann, da die Übermalung nicht völlig deckt, entziffert und interpretiert werden. Die Lesart als Palimpsest würde gegen die scheinbar erklärte Intention des Künstlers arbeiten, der ja die oberste Form als die eigentlich wichtige und richtige zu deklarieren scheint. Eine solche Sichtweise – Palimpsest - auf diese Kunst legt das Doppelkunstwerk Waldfrau - vormals Schmuckmuskel - nahe. Schmuckmuskel entstand 2003 als gigantisches Bad in rot und rosa. Wie Blutbahnen zogen sich die Farbschlieren lotrecht über das Blatt. Ein längsgestreifter Muskel. In der Komplementärfarbe grün legte sich zwei Jahre später - 2005 – die Figur der Waldfrau über das rote Blatt – und weil’s so schön war, gleich auch noch ihre Schwester. Zwei Frauen, im Tannenkreis geborgen. Zwei Frauen, räumlich aufeinander bezogen, nah verwandt. Sie geben sich Halt. Die eine lässt die andere nicht allein. Oder ist es doch nur eine Frau, sich entfernend, zeitversetzt gemalt und im zeitlichen Abstand sich selbst nur noch verwandt, nicht mehr identisch? Das Bild gibt keine Antwort und lässt den Betrachter mit diesen Fragen allein. Und noch mehr mit der Frage, was der Schmuckmuskel unter den Waldfrauen soll. Ich weiß es auch nicht, wir können nur beide Bilder getrennt ins Visier nehmen. Sie haben, so scheint mir, so viel und so wenig miteinander zu tun wie die echten Palimpseste einer mittelalterlichen Handschrift mit den lesbaren Texten, die ein Mönch darüber schrieb.

Die zweite Lesart der Übermalungen ist die Unterstellung der bewussten Schichtung als künstlerischer Strategie. Eine solche bewusste Schichtung könnte etwa zum Ziel haben, die Genese von Erinnerung zu verdeutlichen: Auch Erlebnisse, die man festhalten möchte, Eindrücke, die nie veralten sollten und immer aktuell sind, werden überdeckt. Wenn man nicht still sitzt wie in einer Katatonie (Starre) und sich komplett abschirmt, dann strömen ständig neue Eindrücke auf den Menschen ein. Irgendwas wird uns immer eingetrichtert. Gesprächen oder sogar Streit kann man nicht immer ausweichen, man bewegt sich in der Stadt mit ihren Geräuschen und Gefahren (etwa im Straßenverkehr), man versorgt sich mit dem Alltäglichen und erträgt dabei die Kaufhausmusik – beständig wird von außen unser Bild von der Welt nachkorrigiert und überschrieben. Eine solche Interpretation des Werks legen Bilder wie die Dosis oder die Fieberbänder – noch so ein ‚Fingerländerwort’ - nahe. Die Tagesdosis an Aktionen und Reaktionen läuft unausweichlich durch uns hindurch. Unsere Alltagsrituale und Eigenheiten überdecken – je älter wir werden, desto schneller –, was uns vielleicht an besonderen Erlebnissen beeindrucken könnte. Hier eine kleine Geste, dort eine kleine Angewohnheit, die wir so routinemäßig ausführen, daß sie unseren Tag ausfüllen, ohne daß wir nachher wissen, wo die Zeit geblieben ist. Aber – sie haben sich eben eingeschliffen, diese Alltagsrituale – so eingeschliffen, wie das feine Schmirgelpapier die Acrylfarbe über den ursprünglichen, frischen Farben und Formen auf Erik Buchholz’ Papierarbeiten schleift: Viele kleine Körnchen, winzig klein, aber unerbittlich, schleifen die Farbschichten ab, bis alles unter einem weißen Schleier wie unter Nebel liegt. Sichtweite unter 50 Minuten: Der nächste Tagesordnungspunkt steht an.

Was die Erinnerung betrifft, so wird sie natürlich nicht nur von außen ständig korrigiert. Hier passt noch einmal der Palimpsestgedanke. Das Übermalen, als sollte verdeckt werden, wird als künstlerische Strategie zur Verschlüsselung der Verdrängung erkennbar. Auch das Verdrängte würden wir am liebsten aus dem Hirn löschen, wie der Mönch den Zauberspruch vom Pergament schabt. Doch wie der Zauberspruch, so tritt auch das Verdrängte unter Umständen wieder zutage und stört oder ergänzt die Erinnerungen, die es verdecken wollten.

Das Werk von Erik Buchholz lässt eine solche Sichtweise zu (sie ist also nicht hineingelesen, sondern herausgelesen). Mehr noch: Es lässt zu, daß man sie nicht nur auf die Individualpsychologie beschränkt. Ohnehin – unsere Biographie beginnt vor unserer Geburt, das ist eine Binsenweisheit, so daß das individuell Erinnerte sich immer auch aus dem Familiengedächtnis speist.

Auch viele Familien haben ihren Vorrat an Verdrängtem, an Schmerz, der schweigen musste, damit es überhaupt irgendwie weitergehen konnte, und der als unausgesprochenes Leid an die Kinder weitergereicht wird. Ein Schmerz, der vielen deutschen Familien in ganz unterschiedlichen Ausprägungen eignet, berührt dann sogar das lange Zeit gesellschaftlich Verdrängte: die Deportation, Internierung, Flucht und Vertreibung von Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute sucht dieses zunächst Verdrängte – damit es überhaupt irgendwie weitergehen konnte – nach stimmigen Bildern im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Doch nach wie vor sind es Tausende von Einzelstimmen, die durcheinanderreden und den historischen Diskurs der Wissenschaftler überlagern, die uns Zahlen und Namen liefern – zwei Zahlen für dasselbe Ereignis und zwei Namen für denselben Ort.

Erik Buchholz mischt sich in den Chor der Einzelstimmen ein und steuert bei, was seine Familie nicht ruhen ließ und doch nicht offen aussprach. Birkenkarl, der ostpreußische Großvater, Anfang ’45 mit seinem ältesten Knaben deportiert, verschollen, wahrscheinlich nie begraben worden. Erik Buchholz verschafft dem Gedenken an diesen Großvater in einem seiner Bilder einen Ort. Auch das Bild Marienbrünnl ist ein Schlüssel zur Biographie von Erik Buchholz. Es ist der Name eines Bildstocks, wie sie in den heute verlassenen Dörfern des Böhmerwaldes vor den Häusern und an den Wegen stehen. Beim Marienbrünnl haben die Vorfahren mütterlicherseits gewohnt. Das Haus ist – wie die Nachbarhäuser – nicht mehr da, niemand brauchte das Dorf nach der Vertreibung. Überdauert haben die Wegkreuze und Bildstöcke, die heute wie Grabsteine in einer Wüstung stehen. Was kann der Ort an Erinnerungen wiedergeben? Man schaut – wir erkennen die Form eines Auges auf dem Bild – man fokussiert, aber nichts Ursprüngliches haftet dem Marienbrünnl mehr an. Statt der Quellgöttin begegnen wir verschmutzten Wasserleitungen. Die ursprüngliche Bedeutung lebt nur noch in der Erinnerung – und in den Worten.

Hat eigentlich Hand und Land etwas miteinander zu tun? Dann ergäbe Finger-Länder – im Plural – ja vielleicht doch einen Sinn?

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Abend. Vielen Dank.

Cornelie Becker-Lamers