Bewegungsverläufe. Jean Kirsten. Bilder und Objekte

Rede zur Eröffnung der Ausstellung

Galerie Profil Weimar, Samstag, 25. Mai 2019, 18 Uhr

Liebe Elke, lieber Jean Kirsten, sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir die heutige Ausstellung mit Werken des Dresdner Künstlers Jean Kirsten betreten, begegnen wir einer Reihe von Arbeiten, die scheinbar durch ganz unterschiedliche künstlerische Erkenntnisinteressen entstanden sind. Wir sehen Pigmentdrucke, in denen rhythmische Farbfolgen Momentaufnahmen aus einem Tanzstudio überlagern. Wir sehen ausdrucksstarke Körper mitten in einer impulsiven Bewegung. Wir sehen abstrakt-geometrische Linienführungen, die im Bild mit harmonischen Schleifen zusammengedacht werden. Wir erkennen ganz ähnliche Schleifen auf wiederum abstrakten Nähzeichnungen. Die Formschemata, die uns die Nähzeichnungen vorbuchstabieren, tauchen isoliert in streng schwarz-weiß gehaltenen Wandarbeiten, aber auch in einzelnen skulpturalen Objekten wieder auf. Und schließlich begegnet uns eine kleine Reihe geometrischer Körper - ein Würfel, in schwarz-weiß bemalt wiederum mit geometrischen Linien und Figuren, Zwanzigflächner (Ikosaeder) und dessen Kombination mit einer dreiseitigen Pyramide (Tetraeder).

Auf den ersten Blick und ohne Kenntnis des künstlerischen Werdegangs ihres Schöpfers erscheinen all diese Werke, jedes für sich genommen, als fotografische Studien einerseits, als gegenstandslose Arbeiten zum Thema Fläche und Linie im Bildraum andererseits.

Aber es sind alles Arbeiten von Jean Kirsten. Und so erschließt sich auf den zweiten Blick der Subtext, der all diese Werke verbindet. Alle Arbeiten sind gewissermaßen doppelt codiert: Sie lassen sich ohne Kenntnis des konkreten Schaffenstriebes problemlos in bestimmte Kunstrichtungen der Moderne einordnen und erschließen sich als Arbeiten beispielsweise der informellen Kunst, der Konkreten Kunst autonomer Formen. Ihre eigentliche Botschaft und Bedeutung wird lesbar, wenn man sich mit der Person und dem Werdegang des Künstlers Jean Kirsten beschäftigt.

Jean Kirsten, Ende 1966 in Dresden geboren, aufgewachsen und zwischen 1990 und 95 bei Günter Horlbeck in einem Studium der Malerei und Grafik ausgebildet, war zunächst Meisterschüler und von 1998 bis 2004 künstlerischer Assistent bei Günther Hornig, all das an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Nach dem Schritt in die Selbständigkeit als freischaffender Künstler und dem Aufbau einer eigenen Siebdruckwerkstatt kam Kirsten mit der Bewegungslehre des ungarischen Tanzreformers Rudolf von Laban in Berührung. Auch in der früheren künstlerischen Arbeit an Bewegung, Rhythmus und Raum interessiert, zog Kirsten diese Tanzpädagogik in mehrfacher Hinsicht in ihren Bann.

Rudolf von Laban ist vermutlichen etlichen von uns kein Begriff - daher hier einige Worte zu seiner Person und seinem Lebenswerk. Laban gehört zur Generation der zwischen etwa 1880 und 1905 geborenen, häufig in mehreren Disziplinen qualifizierten Künstlern, die sich Gedanken über die menschliche Bewegung, Ergonomie, eine Revolution von Ballett und Tanz und die Bewegungserziehung der Kinder machten. Es ist die Zeit, in der Peter Petersen die Pädagogik der Jenaplanschule ausarbeitet, in der sich die Mode grundlegend gewandelt hat und man statt Vatermörder und Korsett lässigere Kleidung wählen darf, in der die Freikörperkultur propagiert wird und die jungen Leute gemeinsam schwimmen und turnen. Es ist die Zeit, in der Rudolf Steiner und Marie von Sivers die Eurhythmie entwickeln, Moshe Feldenkrais in Judotechniken die Grundlage für seine therapeutische Entspannungsmethode legt und Josef Hubert Pilates sein gymnastisches Trainingsprogramm ausarbeitet. Eine Zeit der Hinwendung zum ganzheitlichen Menschenbild gerade auch in der Kindererziehung, zur Idee des mens sana in corpore sano, die ja auch das Zusammenleben am Weimarer Bauhaus bestimmt. Doch nicht einmal das Bauhaus ist in dieser Hinsicht frei von Vorbildern, war doch - und das ist jetzt wichtig für Kirsten - in Dresden Hellerau 1909 ein Zentrum aus Festspielhaus, Werkstätten und der Schule für Gymnastik und erzieherische Körperbildung des Österreichers Émile Jaques-Dalcroze entstanden.

Rudolf von Laban, Jahrgang 1879, gehört mit Jaques-Dalcroze zu den Pionieren der genannten Reformbewegungen und gilt als Mitbegründer des modernen Ausdruckstanzes, dessen Grundlagen er während des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit den ebenfalls mehrfach qualifizierten Musikerinnen und Tänzerinnen Suzanne Perrottet, Katja Wulff und Mary Wigman sowie seiner zweiten Ehefrau, der Sängerin Maja Lederer in einer Bewegungsschule auf dem Monte Verità bei Ascona (Schweiz) entwickelte. Zurück in Deutschland, emigrierte Laban 1937 nach England, wo er weiter arbeitete, in englischer Sprache publizierte und 1958 schließlich verstarb, so daß die Moderne des Tanzes in Deutschland eher mit Namen wie Gret Palucca (Schülerin von Mary Wigman) oder - der nächsten Generaton - Pina Bausch verbunden ist (Folkwang).

Vor 10 Jahren kam Jean Kirsten mit der Bewegungslehre Rudolf von Labans in Berührung und hat sich seitdem zum profunden Kenner dieser tänzerischen Ausdruckskunst gemausert. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte Dresden-Helleraus und seiner Reformideen lernte er Tänzerinnen und Tanzpädagoginnen kennen, die ihm zwei Besuche von Laban-Tanzseminaren an der Metropolitan University London vermittelten. Hier entstanden zahlreiche Fotografien tanzender Menschen, die Jean Kirsten auswertete und als Grundlage von Siebdrucken nutzte.

Doch für Jean Kirsten ist die Bewegung und die Choreographie der Tänzer nur der Anfang einer ganz eigenständigen künstlerischen Weiterentwicklung von Labans Werk, einer Weiterentwicklung mit den Mitteln der Bildenden Kunst. Wichtig ist dabei vor allem ein Aspekt, den ich bisher nicht angesprochen habe: Rudolf von Laban und seine Mitarbeiterinnen entwickelten nicht nur eine ganz eigene Körpersprache des Tanzes, sondern auch eine Möglichkeit, Bewegungen zu notieren. Diese Kinetographie oder Labanotation, wie sie genannt wird, ist ein hochkomplexes Zeichensystem, in dem die Bewegung eines Körpers vom kleinen Finger bis zum Sprung oder Ausfallschritt nachvollziehbar festgehalten werden kann. Durch sein Interesse an historischen Tanzformen hatte Laban sehr früh die Notwendigkeit erkannt, Bewegung in Bild und Schrift festhalten und tradieren zu können, um den Tanz ohne direkte körperliche Präsenz des Meisters unterrichten und weitergeben zu können. Seit dem 14. Jahrhundert, schreibt Laban selber, gibt es Notationen von Tänzen, die sich freilich in der Regel auf Hinweise zur Schrittfolge beschränken. Die Labanotation definiert Zeichen für jedes Körpergelenk: kurze rote vertikale Striche, von denen etwa unterschiedlich viele schräge Äste abgehen. Manches erinnert an germanische Runen, also tatsächlich an Schrift. Für die raumgreifenden Bewegungen, die Jean Kirsten vor allem interessieren, ist ein elaborierter Code schwarz-weißer Richtungs- und Positionszeichen grundlegend, für die Laban den menschlichen Körper in einen Würfel einschreibt. Ist in einer Bewegungszeichnung die obere Ebene angesprochen, wird das Zeichen schraffiert, der Boden erscheint ausgefüllt schwarz und eine gedachte dritte Ebene durch die Mitte des Würfels, die Bewegungen aus der Körpermitte heraus oder zur Mitte hin verschlüsseln, kennzeichnet Laban durch weiße Felder mit Punkt. Hinzu kommen Balken, die drei Stufen der Geschwindigkeit einer Bewegung anzeigen, eine semantische Codierung von Akzenten und Entspannung sowie Richtungszeichen.

Nun wird das "Relief für Rudolf Laban" verständlich, das Jean Kirsten in Holz ausgesägt und mit Acrylfarben geschwärzt hat. Es versammelt Positions- und Richtungszeichen, die die dritte Dimension einer räumlichen Bewegung beschreiben. Geschulten Tänzern würde die kleine Schritt- und Bewegungsfolge, die hier verschlüsselt aufbewahrt ist, wohl vor dem inneren Auge aufscheinen. Die Gerichtetheit der Auslenkung von Arm oder Bein teilen die rechts oder links spitz zulaufenden Parallelogramme recht suggestiv mit. Ich bin aber zu unkundig, um zu sagen, ob dieses Bild hier tatsächlich in eine Bewegung umsetzbar wäre. Jean Kirsten wird Ihnen das im Anschluß gerne präzisieren. Die geometrisch-minimalistische Arbeit erinnert jedenfalls an Zeiten oder Kulturen, in denen die Schriftkunde einer ausgewählten Gruppe von Priestern oder Gelehrten vorbehalten war - mit dem Unterschied, daß Alphabet und Grammatik der Kinetographie von dieser Gruppe hier nicht heimlich gehütet werden, sondern sich im Gegenteil verbreiten sollen, daher öffentlich zugänglich sind und jeder Mensch sie sich aneignen kann. Das hat Jean Kirsten getan und auch ich habe es anhand von Büchern versucht, aber es ist unmöglich, die ganze Grammatik dieser Kinetographie in relativ kurzer Zeit zu verinnerlichen.

Aber ich kann die Zeichen in Jean Kirstens Kunst wiedererkennen - und Sie können es jetzt auch und sehen, daß auch die Nähzeichnungen von der Semiotik der Labanotation leben. Die Schraffur einiger Flächen ist angedeutet, Schritt- und Richtungszeichen deutlich zu erkennen. Dasselbe gilt für die kleine Keramik, die einen einzigen "Buchstaben" der Labanotation dreidimensional greifbar macht.

Das hätten wir jetzt - aber was bedeuten die schwungvollen oder gezackten Linien über den Nähzeichungen sowie hinten in der "Variation zum Bewegungsverlauf IX"? Nun - diese Bewegung würde vielleicht ein Lichtstrahl ins dunkle Zimmer zeichnen, hätte der Tänzer eine Taschenlampe in der Hand. Es ist der Verlauf einer Tanzbewegung, die schematisch in den Kinetographien festgehalten ist. Zwei semiotische Ebenen mischen sich hier in einem Werk: Die Labanotation und die Nachzeichnung ihrer Bewegung.

Die abgeknickten Linien, die die sternförmigen Muster auf die Leinwand oder aufs Glas bringen und sich in der "Variation" mit dem schwungvollen Tanzverlaufsprotokoll überlagern, geben die Richtungspunkte an, auf die die Bewegung jeweils zielt. Nun kommen wir endlich zur Bedeutung der skulpturalen Objekte. Sie sehen verschiedene sogenannte Platonische Körper. Platonische Körper gibt es nur fünf. Es sind geometrische Objekte, bei denen deckungsgleiche geometrische Formen so zusammengesetzt werden, daß von jeder Ecke gleichviele Kanten abgehen. Und das ist theoretisch nur bei fünf Körpern möglich: Bei der vierseitigen Pyramide, dem Tetraeder; beim Würfel mit seinen sechs Quadraten, dem Hexaeder; beim Oktaeder aus acht gleichseitigen Dreiecken; beim Dodekaeder aus zwölf Fünfecken und beim Ikosaeder aus 20 Dreiecken. Den Ikosaeder haben wir hier mehrfach, hinten spielerisch kombiniert mit einem offenen Tetraeder.

Warum nun das? Der Ikosaeder wurde von Rudolf von Laban ebenfalls pädagogisch genutzt, und zwar als betanzbarer Körper. Einige solcher Zwanzigflächner stehen weltweit zu Anschauungszwecken aus, unter anderem natürlich auf dem Monte Verità, Labans bekanntester Wirkungsstätte. Jede der 30 Kanten des Ikosaeders steht für eine mögliche Bewegungsachse, jede der 12 Ecken des Zwanzigflächners für das vom Tänzer internalisierte, gedachte Ziel einer Bewegung. Also: Die Notation entsteht durch den um den Menschen herum gedachten Würfel, die Bewegungslehre selber spielt sich in einem um den Menschen gedachten Ikosaeder ab. Jede der Schritt- oder Bewegungszeichen läuft im Kopf der kundigen Tänzerin auf eine der 12 imaginierten Ecken des sie umgebenden platonischen Körpers zu.

So schließen sich die Fotografien der Tänzerinnen, die schwarz-weißen minimalistischen Zeichnungen, Näharbeiten oder Objekte und die polygonalen skulpturalen Körper dieser Ausstellung zum geschlossenen Bild der künstlerischen Verarbeitung einer elaborierten Bewegungslehre zusammen. Die Zeichen, die Bewegungen einfangen und festhalten, geben diese natürlich auch wieder frei - in Installationen und durch den Museumsraum gespannten Ikosaeder-Kanten. Auch dies hat Jean Kirsten bereits realisiert - 2017 in Hamburg zum Beispiel. Bewegungsverläufe als Körper nachgebaut hat er in Berlin, Dresden, Chemnitz, Hamburg, an der Hochschule Mittweida, für die Mugler-Stiftung in Gersdorf, an der Laban-Tanzakademie in London und an der Universität in Columbia/ Ohio. Für die Außenwand des Ärztehauses Markkleeberg schuf er die fünf platonischen Körper aus Edelstahl.

Hat Jean Kirsten die Anregungen aus Labans Bewegungslehre damit ausgeschöpft? Hm. An graphischen Mustern fiele mir noch etwas ein. Da sich ein Ikosaeder in 43.380 unterschiedliche Körpernetze auffalten läßt, gibt es, scheint mir, künstlerisch noch jede Menge Arbeit.

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar