„Falko Behrendt: Märchenhaft. Arbeiten auf Papier“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Profil Weimar, 11. September 2010, 18.00 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Märchenhaftes“ empfängt uns ab heute in der Galerie Profil – und da sind wir natürlich neugierig, welche Märchen wir wohl zu sehen bekommen... Erinnern wir uns noch? Können wir die Geschichten noch nacherzählen? Wie war das noch mal mit dem Schweinehirten ... und mit dem Fliedermütterchen? Ach ja: Schneeweißchen und Rosenrot. Des Kaisers neue Kleider ... Klar! Ah ja! Und die Schatzinsel ... Das war doch dieser Abenteuerroman von Robert Louis Stevenson, den wir als Kinder so spukig fanden. Das Blatt scheint genau die Karte abzubilden, die der junge Jim Hawkins nach dem Tod des alten Bill Bones unwissentlich aus der Seemannstruhe dieses Trunkenboldes mitgehen lässt. Man sieht genau die Insel – rechts das Schiff, das in der Bucht anlegt, südlich die Sümpfe, in denen die Meuterer allabendlich bis in die Nacht sitzen und saufen und grölen – „Oh - oh und ne Buddel voll Rum“ und sich das Sumpffieber holen. Und im Norden – aber was ist das? Das sind ja lauter Märchentitel aufgelistet : „Das tapfere Schneiderlein“ – „Die Nachtigall“ – „Die Prinzessin auf der Erbse“ –„Zwerg Nase“ – „Das hässliche junge Entlein“ – „Aladin“, der mit der Wunderlampe – „Die sieben Schwaben“ – Hänsel und Gretel“ – „Schneewittchen“ – „Rotkäppchen“.

Der Schatz, den die Karte aus Falko Behrendts Gouache verzeichnet, ist also gar nicht der Piratenschatz, den Stevenson vor 130 Jahren erfunden hat. Es ist ein Märchenschatz, kleine Bruchstücke eines unbezahlbaren kulturellen Erbes, das die Phantasie der Kinder in irgendeiner Form und überall auf der Welt seit Jahrtausenden bereichert. Aus der Kindheit Falko Behrendts wird dasselbe erzählt. Während die Eltern zur Arbeit waren, las seine große Schwester ihm Märchen um Märchen vor, und wenn die Bücher ausgelesen waren – viele waren es in der Familie der Stettiner Flüchtlinge nicht – dann erfand die Gute aufs Gratewohl zu einzelnen Stichwörtern neue Geschichten, um ihren kleinen Bruder zu unterhalten.

Genutzt hat Falko Behrendt dies später, in den 70er Jahren, im Studium an der Kunsthochschule Dresden, als Günter Horlbeck in seiner Graphikklasse das Thema Märchen zur künstlerischen Diskussion stellte. Doch dieser Fundus an Erzählmustern, Figurenkonstellationen und Symbolen bietet Falko Behrendt bis heute ein unerschöpfliches Reservoir – und so sehen wir auch heute noch viel „Märchenhaftes“.

Worum aber geht es dem Künstler eigentlich?

Die Farblithographie „John Silver“ zeigt in Grautönen den Kopf des Piratenführers aus Stevensons bereits erwähnten Jugendbuch „Die Schatzinsel“. Derselbe Kopf aber ist, in Rottönen gehalten, auf einem anderen Blatt mit „Rumpelstilzchen“ betitelt. Hier ist deutlich zu sehen, daß es Falko Behrendt nicht um das charaktergetreue Einfangen einer literarischen Figur geht. Denn Rumpelstilzchen, das Zauberwesen, das in der Nacht Stroh zu Gold spinnen kann, ist ein anderes Kaliber als der nur allzu irdische Pirat aus dem Abenteuerroman. Die Märchen oder literarischen Gestalten dienen Falko Behrendt lediglich – oder immerhin – als Ideengeber, als emotionale Impulse für einen neuen schöpferischen Akt. „Ich mache keine Märchenbilder im Sinne von Illustrationen“, wird Falko Behrendt in einem Katalog zitiert, „sondern märchenhafte Bilder. Die Märchen sind Anlaß, Anregung – so im Sinne Friedlaenders, alles sei nur Vorwand, um etwas Neues – nämlich Bilder zu schaffen. Es soll ja kein Märchenbuch entstehen, da müsste ich ständig die Textnähe berücksichtigen und an Seitenzahl und Satzspiegel denken.“ Soweit Falko Behrendt.

Die Thematik der Blätter also tritt hinter der Lust am Experimentieren zurück. Wichtig ist das Perfektionieren einer Technik, das Variieren und Ausprobieren von Wirkungen desselben Blattes in unterschiedlicher Farbgebung. Sie sehen hier an der Außenwand drei verwandte Siebdrucke: „König Drosselbart“, „Dornröschen“ und „Rotkäppchen“ genannt. Man kann stundenlang davor stehen und vergleichen, welche Motive in allen Bildern sehr deutlich, welche hier oder da versteckt, und welche in einer Arbeit kaum noch wahrnehmbar doch alle drei Blätter verbinden. Auf den ersten Blick aber werden die Werke als völlig unabhängige Arbeiten erscheinen – so stark macht sich die Wahl und Zusammensetzung der Farben in der Gesamtwirkung der Bilder bemerkbar. Der Siebdruck ist ein Durchdruckverfahren, bei dem die nicht zu druckenden Teile abgedeckt und die anderen mit der entsprechenden Farbe versehen werden. Man sagt, die Experimentierfreudigkeit bringe Falko Behrendt dazu, zum Teil über 30 Siebe für ein einziges Blatt übereinander zu drucken, um die in der künstlerischen Vision vorempfundene Wirkung zu erzielen. Es versteht sich von selbst, daß ein so akribischer Künstler auch nicht einfach irgendeine Werkstatt aufsucht. Seine Siebdrucke fertigt Falko Behrendt bei Grimm in Magdeburg, für seine Radierungen aber mietet er sich in einer Werkstatt in Wamel am Möhnesee bei Soest ein.

Die meisten der hier ausgestellten Bilder sind, wie Sie bemerkt haben, Farbradierungen – also nicht kolorierte Radierungen, sondern Farbradierungen. Sie werden nicht gedruckt und dann nachträglich mit Stiften oder Aquarellfarbe bemalt. Das Nachkolorieren bringt zwar so etwas wie Halbunikate hervor, aber das Verfahren der Farbradierung ist viel aufwändiger. Eine Druckplatte wird vorbereitet, beispielsweise wird ein Ätzgrund aufgebracht, also ein Wachsgemisch, in das dann die seitenverkehrte Zeichnung mit der Radiernadel eingraviert werden kann (radere heißt lateinisch „kratzen“, daher in dem Fall das „Radieren“), durch Berührung mit Salpetersäure oder Eisenchlorid werden die ungeschützten Stellen der Druckplatte, wo das Wachs also fehlt, verletzt – je länger man die Säure wirken lässt, desto intensivere Farbwirkung kann der Strich entfalten – und dann wird schließlich ein erstes Blatt gedruckt. Das ist aber erst der Anfang. Das Blatt wird in der Presse gelassen und weitere, unbezeichnete Platten darauf gelegt. Das ist der Trick, um ein identisches Bild auf mehrere Platten zu übertragen. Jeder dieser Platten wird dann eine der drei Grundfarben zugeordnet, aus denen alle anderen Farben gemischt werden können – rot, gelb, blau – die Dauer der Flächenätzung ist entscheidend in der Frage, wie viel Farbe eine Fläche zuletzt auf das Druckpapier abgeben kann, so daß die einzelnen Ätzzeiten je nach Farbton richtiggehend berechnet werden. Aber genau zu berechnen ist die Wirkung der Säure nie – ältere Säure ist weniger aggressiv als eine frisch angesetzte, die Temperatur spielt eine Rolle, für die einzelnen Farbtöne muß die Stärke der Grundfarben gefühlvoll abgewogen werden – Blau färbt intensiver als gelb, ein neutrales grün bekommt man also nicht durch gleiche Teile von gelb und blau, sondern das gelb muß überwiegen – und so weiter, und so weiter... Sie merken, dieses Verfahren bietet eine Fülle von Möglichkeiten für einen Perfektionisten wie Falko Behrendt, um nicht von einem Motiv zu lassen, bevor nicht alle Varianten getestet und die beste Wirkung erzielt ist.

Doch zurück zur Märchenthematik, die dem Künstler immer wieder die notwendigen Denkanstöße bereitstellt. Wichtig scheint mir die Erzählform zu sein, die Struktur der Märchen mit ihren vielen Details, den vielen, uns heute oft schwer verständlichen Symbolen und alltagsrituellen Handlungen. Die Sperrigkeit der Märchensymbolik tut ihrer Funktion im Schaffensprozeß keinen Abbruch – im Gegenteil: Je verwirrender der rote Faden der Erzählhandlung, desto mehr Anregungen zieht der Künstler daraus: „Je phantastischer der literarische Hintergrund, desto größer die Chance für das neue Bild“, sagt Falko Behrendt selbst.

Und so heißen denn auch etliche Blätter einfach „Märchen“ oder „Märchenhaft“ und sind durchnummeriert. Motive werden vermischt, zum Teil sind einzelne Figurengruppen zuordenbar, etwa der Turm aus Tieren, den die „Bremer Stadtmusikanten“ aufbauen, um die Räuber in die Flucht zu schlagen. „Rotkäppchen“, „Dornröschen“, öfter mal der „Schweinehirt“ aus der gleichnamigen Erzählung von Hans Christian Andersen. Ein wiederkehrendes Thema ist auch der Garten – „Hängende Gärten“, „Der Garten der Kindheit“ oder „Der Garten der Erinnerung“. Behrendt zeichnet Gärten aus Zahlen, den „Garten der Nacht“ oder „Gullivers Garten“. Nicht alles kann hier gezeigt werden, vieles hat Elke Gatz-Hengst noch im Depot. Die Gartenthematik aber führt auf die zweite Leidenschaft Falko Behrendts, nämlich das Fliegen. Falko Behrendt wollte sich ursprünglich zum Piloten ausbilden lassen. Das hat nicht geklappt, aber der Blick des Überfliegers über eine Landschaft schlägt in etlichen Arbeiten noch durch: Im sehr sehr kleinen Königreich des Schweinehirten (der ja eigentlich ein Prinz ist und seine Auserwählte als Schweinehirt nur auf die Probe stellen will) in diesem Bild wird es vielleicht am deutlichsten, aber auch in den verschiedenen Gartenbildern.

So möchte ich auf eines der Märchen doch auch noch einmal inhaltlich eingehen, nämlich auf das „Fliedermütterchen“, eine weniger bekannte märchenhafte Erzählung von Hans Christian Andersen. Sie sehen den Baum mit den tausend Augen, hier mit Fliedermütterchen betitelt. Der Titel taucht noch einmal auf. Der Aufhänger zu dem Märchen ist ein Junge, der von seiner Mutter mit einer Erkältung ins Bett gesteckt wird und Fliedertee zu trinken bekommt. Zur Unterhaltung taucht gerade zur rechten Zeit ein alter Nachbar auf, der auf beliebige Stichworte hin ein Märchen erzählen kann – wie dies auch von Falko Behrendts Schwester erzählt wird. Das Märchen im Märchen erzählt, wie der Teekanne am Bett des Jungen ein Fliederstrauch entwächst, den das Fliedermütterchen bewohnt – eine Frau in der Tradition der Baumgeister oder Dryaden, die ihr Alter immer den Personen anpasst, mit denen sie sich unterhält. Als er schließlich einschläft, träumt dem Jungen vom wilden Flug mit dem Fliedermütterchen (jetzt also einem jungen Mädchen) über Schlösser und Landschaften, Kirchen und Höfe, Gärten und Wald: Denn alles, was das Fliedermütterchen erwähnt, sieht er plötzlich lebendig vor Augen, wie im Fluge vorbeiziehen.

Könnte es sein, daß dieses Märchen als einziges nicht nur formal, sonder vielleicht doch auch inhaltlich bedeutsam für Falko Behrendt ist? Das junge Mädchen, dem es gelingt, Wörter zum Leben zu erwecken, Welten vor den Augen des Knaben entstehen zu lassen, die im Flug vorüberziehen? „Ja, so ist es!“ sagt das junge Mädchen im Baum. „Einige nennen mich Fliedermütterchen, andere Dryade, aber eigentlich heiße ich Erinnerung.“

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar