"Barbara Burck. Begegnungen"

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Kunstraum Jena, Donnerstag, 7. Mai 2015, 19 Uhr

Liebe Marina Zollmann, liebe Barbara Burck, meine sehr geehrten Damen und Herren,

"Item Perspectiva ist ein lateinisch Wort, bedeutt ein Durchsehung", schrieb Albrecht Dürer (1471-1528) vor etwa 500 Jahren und Erwin Panofsky (1892-1968), einer der bedeutendsten Kunstwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, eröffnet mit diesem Zitat seine Studie Die Perspektive als symbolische Form.

Wenn man über die Werke von Barbara Burck spricht, muß man über Perspektive sprechen. Noch deutlicher als in der sehr erfolgreichen Ausstellung genau vor zwei Jahren hier in der Galerie Kunstraum werden die darstellungstechnischen Versuche rund um den perspektivischen Blick als einer der Arbeitsschwerpunkte der Leipziger Künstlerin deutlich. Gegenüber der Bildauswahl, die wir vor zwei Jahren, in der Ausstellung der Park-, Stadt und Strandlandschaften, bewundern konnten, haben in den neuesten Gemälden - alle stammen aus dem vorigen oder diesem Jahr - die "Schnappschüsse" von Begegnungen im Wohnungsflur zugenommen. "Schnappschuß" deswegen, weil Barbara Burck nicht nach Modellen malt. Sie fotografiert viel, prägt sich wiederkehrende Gesten und Bewegungen, Begegnungen und Begebenheiten ein und komponiert aus der Fülle ihrer Fotografien und Erinnerungen die von uns als so typisch empfundenen Szenen. Die Bildinhalte entstehen dabei zwar nach Plan, aber ohne Vorzeichnung auf der Leinwand, tastend im Prozeß des Malens. Figuren verschieben sich im Malprozeß, bis sie im Bildraum an der richtigen Stelle sitzen.

Die Begegnungen im lichtdurchfluteten, langgestreckten Wohnungsflur - einer der Klassiker in der perspektivischen Darstellung. Wir sehen die sich verjüngenden Wandflächen, die Verkleinerung und das Höhersetzen der aus dem Hintergrund herantretenden Figuren, die gegenüber der ganzen Breite einer geöffneten Tür verkürzte Türfüllung. Klassisch ausgeführt wie aus dem Lehrbuch. Was mich elektrisiert und demgegenüber auch zunächst irritiert hat, und zwar genau im Hinblick auf die Frage nach der Perspektive, sind die Werke, die uns mitten in einen Wald versetzen. Die möchte ich diskutieren, wobei natürlich auch die besondere Behandlung der Farbigkeit bei Barbara Burck wieder zur Sprache kommen wird.

In seinem schon genannten Aufsatz Die Perspektive als symbolische Form macht Erwin Panofsky darauf aufmerksam, daß die perspektivische Darstellung, wie sie im Zeichenunterricht gelehrt wird - Fluchtpunkt, Linien, Verkürzungen - alles andere ist als die genaue Wiedergabe dessen, was wir sehen. In dieser Form in der Renaissance erfunden, ist die Perspektive eine mathematische Konstruktion und spiegelt nicht den, wie er schreibt, psychophysiologischen Sehraum wieder. Das beginnt schon bei der Tatsache, daß unser Auge rund ist. Damit ist auch jedes Bild auf unserer Netzhaut rund. Wir nehmen die Welt rund um uns angeordnet wahr und gewichten zudem beim Sehen die wahrgenommenen Gegenstände, sortieren Nebensächliches aus, unterscheiden zwischen dem oben oder unten, im Vorder- oder Hintergrund, rechts oder links Wahrgenommenen - das meint der Begriff vom psychophysiologischen Sehraum: Was sehen wir? Und was nehmen wir wahr und verarbeiten es? Unser Sehraum ist nicht homogen, wie Panofsky schreibt. Die Architektenperspektive täuscht eine solche Homogenität des Raumes vor und verzerrt jede so gezeichnete Welt, genauso wie es auf Fotografien zu sehen ist, die an den Bildrändern die Dinge in die Breite ziehen. Die kugelrunde Welt, die wir um uns herum sehen, wird in beiden Fällen in die Fläche projiziert - und das geht nicht auf.

Was tut Barbara Burck? An den Bildern, die uns mitten in den Wald versetzen, fällt vor allem auf, daß die Bildmitte ganz prominent in den Vordergrund gezogen ist, in einigen Fällen mit bewußt ganz isoliert in den Vordergrund gerückten einzelnen Bäumen. "Bäume" ist dabei schon falsch, "Bäume" ist schon eine Interpretation und Bildergänzung aufgrund unserer Seherfahrung. "Stammabschnitte" muß man sagen, denn das ist das zweite, was auffällt: Jede klassisch-zentralperspektivische Darstellung wird hier unterlaufen, da uns eine Größenabschätzung des im Vordergrund stehenden Baumes unmöglich ist. Er wandert nach oben und unten aus dem Bildraum hinaus und hält dadurch jede Größenabschätzung in der Schwebe. Wir sehen im Wortsinne den Wald vor Bäumen nicht, und das ist genau das Gefühl, das man inmitten eines Waldes hat. Da sieht man den Wald nicht, wie sich etwa von einem Hügel herab der Blick ins Tal öffnet, oder wie man einen Ausschnitt der Welt aus einem Fenster heraus erblickt - ein weiteres gerne gebrauchtes Bild für die perspektivische Darstellung: der Bildraum als Blick aus dem Fenster (Dürers "Durchsehung"). Wir stehen vor Barbara Burcks Bildern mitten im Wald, der Bildraum, das spüren wir, geht hinter uns weiter. Wir können die Distanz eines Betrachters nicht aufrechterhalten. Die Malweise zieht uns in die Darstellung hinein. Statt eines perspektivisch korrekt konstruierten Bildes empfindet die Künstlerin die Realität unseres runden, uns umgebenden psychophysiologischen Sehraumes nach. Daß wir bei Barbara Burcks Bildern in ganz besonderer Weise das Gefühl des Eintauchen-Könnens und der Dreidimensionalität haben, könnte mit dieser Art zu malen zusammenhängen.

Dieses beschriebene Gefühl verdankt sich allerdings nicht allein einer Darstellung, die die Prinzipien der Renaissance-Perspektive unterläuft. Wichtig ist auch die Wahl der Farben. Barbara Burck ist sehr sensibel für die Empfindung von Licht. Sie stellt eigentlich nicht farbige Flächen dar, sondern Flächen, die durch einen bestimmten Lichteinfall einen bestimmten Farbeindruck hinterlassen. Das wird auch in den Wohnungsbildern sehr deutlich. Aber bleiben wir im Wald: Sie sehen, daß der Wald bei Barbara Burck alles andere als grün ist. Im Gegenteil: Er ist zu guten Teilen lila, das ist im Farbkreis gegenüber, die Komplementärfarbe zu grün. Warum tut die Künstlerin das? Wie bei der Perspektive - oder besser: Nicht-Perspektive - nutzt Barbara Burck die Farben, um nicht eine fotografisch genaue Wiedergabe der Welt hervorzubringen - das können ja die Fotografen machen -, sondern um die Stimmung zu erzeugen, die die dargestellte Situation in uns hervorbringen würde, wären wir tatsächlich da. Daher auch das viele Weiß in den Waldbildern. Weiß ist nur ungebrochenes, reines Licht. Wenn wir überlegen, wann wir solches Licht im Wald sehen, dann denken wir an frühmorgendliche Spaziergänge, wenn wir die Lichtstrahlen durch das Blätterdach der Bäume fallen sehen. Man sieht in solchen Stunden die Lichtstrahlen. Da man Licht aber bekanntlich nicht von der Seite sehen kann (man sieht ja z.B. nicht, wie die Sonnenstrahlen den Mond anstrahlen, sondern wir sehen nur das Licht, das der Mond in Richtung Erde reflektiert), da man also Licht nur von vorne sehen kann, muß es an einem Gegenstand reflektiert worden sein, wenn wir den Weg des Lichtes beobachten können. Diese Reflexion geschieht im Wald in der Regel durch Dunst oder Nebel, winzige Wassertröpfchen, mit denen die Morgenluft gesättigt ist. Wir sehen dann nicht den Wald - Laub, Rinde, Blumen, Parasiten - sondern wir sehen Licht. Licht ist weiß, daher malt Barbara Burck den Wald hier weiß - und nur dadurch wissen wir sofort, was gemeint ist. Wir wissen, daß nicht einfach Wald dargestellt ist, sondern die Stimmung eines morgendlichen Waldspaziergangs, wenn wir das Licht durchs Blätterdach der Bäume fallen sehen. Es ist ein Gefühl dargestellt, das Gefühl von frischer Luft und leichtem Frösteln auf der Haut, von Tautropfen in unseren Haaren und einem Konzert vieler Vogelstimmen.

Die Verfremdung der Farben dient ebenfalls dem Zweck, die richtige Stimmung einzufangen. Was sehen wir wirklich, wenn wir einen so und so gefärbten Gegenstand erblicken? Barbara Burck testet es in vielen Farbschichten aus. Wie zur richtigen Anordnung der Figuren in einer ihrer typisierten Szenen, so tastet sich die Künstlerin auch zur richtigen Farbe im Prozeß des Malens vor. Durch Farbauftrag über Farbauftrag, Zurücktreten, Schauen, Warten, Verbessern, wieder Schauen, Liegenlassen, nochmals Prüfen, nochmals Übermalen ringt Barbara Burck ihrer Farbpalette im Laufe vieler Tage und Wochen die richtige Mischung für jede Szene ab. Für jede Szene, die dann so stimmig und damit so sprechend wird, daß man die Stimmen der Begegnungen zu hören meint.

Schon bei der Besichtigung der letzten Ausstellung vor zwei Jahren habe ich angesichts dieser Bilder, dieser Farbgestaltung die Stelle aus einem Roman assoziiert, und dieses Mal möchte ich diese kurze Stelle zum Abschluß vorlesen. Es ist aus dem Roman Das Mädchen mit dem Perlenohrring, in dem die Autorin Tracy Chevalier die Entstehung des berühmten Bildes von Jan Vermeer erfindet. Vermeer, so der Roman, malt hier die künstlerisch hochbegabte Griet, die in seinem Haushalt als Dienstmädchen angestellt ist. Er beginnt sie zu beauftragen, ihm die Farbpigmente zu reiben und die Farben zurechtzulegen. Und weil sie sich wundert, warum er immer die "falschen" Farben aufträgt - genau wie Barbara Burck - legt sie ihm hin, was er nicht verlangt hat. Da nimmt er sie ans Fenster und läßt sie seine Arbeitsweise verstehen:

"Komm her, Griet." [...] "Welche Farbe haben die Wolken?" - "Weiß natürlich, Mijnheer." Er hob die Augenbrauen ein wenig. "Wirklich?" Ich schaute noch einmal. "Und grau. Vielleicht wird es schneien." - "Jetzt komm, Griet, dir fällt bestimmt noch etwas Besseres ein. [...] "Ein bißchen Blau", sagte ich, nachdem ich sie ein paar Minuten angeschaut hatte. "Und - etwas Gelb. Und da ist ein bißchen Grün!" Ich war so aufgeregt, daß ich mit dem Finger auf sie deutete. Mein ganzes Leben hatte ich Wolken betrachtet, aber in dem Augenblick kam es mir vor, als würde ich sie zum allerersten Mal sehen."[1]

Ich wünsche Ihnen, daß Sie die Seherfahrungen, die Sie bei Barbara Burck sammeln können, mit in den Alltag hinüberretten und ab heute die Welt hier und da auch mal wieder wie zum allerersten Mal sehen können.

Vielen Dank!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar


[1] Tracy Chevalier, Das Mädchen mit dem Perlenohrring, München: List ²2000, S. 124f. Zur Eröffnung wurde aus dem Roman der ganze hier nur in Ausschnitten wiedergegebene Abschnitt vorgelesen.