Skulptur . Weimar . 2010

Anne-Katrin Altwein. Juni – September 2010

I. Auch in diesem Sommer bereichert die Veranstaltungsreihe Skulptur . Weimar wieder das kulturelle Leben im öffentlichen Raum Weimars. Erneut zeigt die Kuratorin Elke Gatz-Hengst (Galerie Profil) in Zusammenarbeit mit dem Romantik Hotel Dorotheenhof Weimar und erstmals in Kooperation mit dem Freundeskreis der Bauhaus-Universität Weimar e.V. plastische und skulpturale Arbeiten im Stadtgebiet wie im Park des Dorotheenhofs. In diesem Jahr sind es die Arbeiten Anne Katrin Altweins, die am Theaterplatz, in der Schillerstraße oder am Goetheplatz in den Focus der Aufmerksamkeit schlendernder Touristen und mußevoller Stadtbewohner gerückt werden. Mit einer Zusammenschau der vergangenen zehn Jahre von Skulptur . Weimar feiert der Kulturbahnhof in besonderer Weise das Jubiläum der Ausstellungsreihe.

II. Anne-Katrin Altwein, die 1984 ihr Studium an der Burg Giebichenstein Halle mit dem Diplom abschloss, ist seit über 20 Jahren als freie Künstlerin in Weimar ansässig. So ist sie in Thüringen wahrlich keine Unbekannte. Steinskulpturen wie Odins Raben und die Midgardschlange am Burgplatz Weimar oder Franz und der Vogel auf dem Erfurter Anger (beide 1992) sind ebenso wenig aus dem jeweiligen Stadtbild wegzudenken wie die Bronzeplastik Gralsucher (2002) vor der Polizeiinspektion Apolda oder die meterhohen Drei Moiren (2004) vor dem Klinikum Jena.

Mit ihren zum Teil riesenhaften Marmorskulpturen – jede der zwischen 2,20m und 2,50m hohen Figuren der Drei Moiren wiegt etwa sechs Tonnen – bringt Anne-Katrin Altwein Anregungen, Techniken und Materialien ihrer zahlreichen Auslandsaufenthalte mit nach Hause zurück. Denn neben Vietnam, wo Anne-Katrin Altwein immer wieder Wochen in der Bildhauer-Pagode Chùa Bao An in Da Nang arbeitete und abschließend ihre Marmorskulpturen importierte, bereiste die Künstlerin verschiedene Länder Süd- und Mittelamerikas und folgte Einladungen zu Arbeitsaufenthalten und Bildhauersymposien in Deutschland, Norwegen, Schweden, Italien, Österreich, Kroatien und Frankreich.

III. Anne-Katrin Altwein arbeitet in der Fläche wie in der Dreidimensionalität. Sie arbeitet auf Papier – Zeichnungen, Tusche, Radierungen –, in Porzellan und Gips, Stein, Holz, Bronze und Glas, dreht Filme und rief zum Projekt fillinvent.net auf, in dem seit 2005 via Internetkommunikation verbrannte Bücher der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek neu erfunden werden können.

Altweins bildhauerische Arbeiten im Besonderen lassen sich wiederum zwei Werkgruppen zuordnen: Die massigen, häufig sparsam konturierten Steinskulpturen (der Begriff kommt von lat. sculptus, geschnitzt, gemeißelt), die über Monate, wenn nicht Jahre im Steinbruch Ehringsdorf aus ihren Marmorblöcken wachsen, stehen neben fragilen Plastiken (von gr. plastikos, geformt) aus Gips, die, bis sie in Bronze abgegossen werden können, häufig an Bindfäden im Atelier von der Decke hängen.

IV. Immer umkreist das Werk Anne-Katrin Altweins dabei Ausprägungen des Überindividuell-Menschlichen. Wo sie nicht mythologische Figuren baut, da sind es archetypische Gestalten, die als Tanzende Äste (2006; fester Standtort Erfurt) oder Belebte Stäbe, als Tiere (Katzek), als Freifrau oder Botschafterin Handlungen und Haltungen, Begierden und Bedürfnisse des Menschen in eindrücklicher Evidenz hervortreten lassen. So auch die Steinskulpturen – Tiere, menschliche Gestalten oder miteinander verschmelzende Doppelfiguren aus Mensch und Tier –, die als Nachbarin, Voyeur, Pelikan oder Kind und Tier Tugenden und Laster, Wesenszüge und Gemütszustände des Menschen vor Augen führen. Beeindruckend insbesondere, wie Altweins Figuren dem Anspruch der Vielansichtigkeit genügen, dem die Bildhauerei seit jeher zu entsprechen hatte: Oft sind verschiedene Ansichten ihrer Gestalten kaum als Sicht auf ein und dasselbe Werk erkennbar. Das Umrunden jedes Werkes birgt Überraschungen.

V. In letzter Zeit hat sich die Perspektive der Künstlerin von der Erforschung der Grundzüge des Menschlichen auf eine Reflexion unseres lokalen wie eines globalen kulturellen Erbes hin erweitert. Hatte bereits die 3,60 m hohe Bronzeplastik WerteGemeinschaft/ Menschliche Größe im Forschungszentrum Jena-Lobeda die Darstellung menschlichen Strebens nach Erkenntnis mit der Reflexion einer technokratischen Forscherkultur verwoben – da steht der dürre homo sapiens, einst als Ebenbild Gottes, nun als Denker und Forscher ein Mittler zwischen Erde und All, „zaghaft und unvermittelt, etwas glücklich, etwas zögerlich, etwas stolz auch und sehr klein zunächst“ (Altwein) –, hatten zeitgleich die Drei Moiren an eine matriarchale Kultur des letztlich schicksalsgläubigen Werden- und Vergehenlassens erinnert, so richten die neuesten Arbeiten – Vermehren durch Wegnehmen (2010) und Europē (2009) – den Blick ganz auf die Kultur der westlichen Zivilisation.

VI. Vermehren durch Wegnehmen zeigt zwölf flache, dicht gedrängte Gestalten, die, nur als Relief erkennbar, rundum aus einem 2,20 m hohen Marmorquader gemeißelt und geschliffen sind. Der sprechende Titel verweist gleichermaßen auf die Form wie auf den Inhalt des Werkes: Aus dem Stein wird „mehr“, indem Anne-Katrin Altwein ihn Strich für Strich abfeilt, bis er die lebensnahen Figuren freigibt, die der künstlerische Blick von Anfang an in ihm sah. Das ist der formale Aspekt. Der inhaltliche kann auf ein Zusammenrücken und Teilen verweisen, auf die Vervielfältigung kultureller und technischer Möglichkeiten in der globalisierten, enger vernetzten und so scheinbar kleiner gewordenen Welt, aber auch auf die Ausbeutung der Schwellen- und Entwicklungsländer, wodurch einem kleinen Teil der Weltbevölkerung der größere Teil der Energie, der Konsum- und Luxusgüter zur Verfügung steht.

VII. Europē – die von einem Gott Verführte – stellt als nurmehr hohles Gerippe den Gegenpol zu dem massigen Marmorquader dar. Aus lauter Grillspießen wurde sie aufgebaut, als sie anlässlich des Internationalen Kunstsymposiums der Kulturhauptstädte Linz09 auf eine Größe von 3,30 m anwuchs. (Das hölzerne Original musste dem Bronzeguss durch die Technik der Verlorenen Form mittlerweile weichen und ist verbrannt). Die Grillstäbchen spielen auf die Ernährungskultur des Bratens und Brätelns an, die Archäologen quer durch unseren Kontinent nachweisen können. Als Bronzeguss aber erinnert die Plastik auch an einen der riesigen Elektrizitätsmasten, die als Errungenschaft europäischer Ingenieurleistung aus der Energieversorgung fast rund um die Erde schon nicht mehr wegzudenken sind. Die Größe der Plastik unterstreicht ihren Namen: Anne-Katrin Altwein liest den Namen Europē als Kompositum aus altgr. eurys („weit“) und opsis („die Sicht“): Europē also als die Frau mit der weiten Sicht. Der Weitblick aber scheint einem imperialen Zugriff auf die Welt gewichen: Statt der Augen, ja überhaupt statt eines Kopfes überragt den Körper der hünenhaften, langbeinigen Gestalt eine – ihre einzige – Hand. Mit dem Zusammenspiel von Kopf und Hand, das hier sinnfällig wird, verweist Altweins Europē auf die Anfänge dessen, was Europa als Sinnbild individueller technischer und kultureller Höchstleistungen in der Augen der Welt auszumachen scheint. Der Plastik ist m.E. aber auch ein Abschied von der Idee einer vitalen europäischen Kultur ablesbar: Das Gerüst, wiewohl in sich stabil, droht zu kippen. Zum lebendigen Austausch scheint die augenscheinlich blutleere Gestalt kaum fähig. Es macht den Eindruck, als taste sich die Europē an der Idee ihrer weiten Sicht entlang. Deren Verlust „ins Auge zu sehen“ aber ist ihr in dieser Form konstitutiv nicht möglich.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar