Im Dialog. Tretjakow und Müller-Stahl

Rede zur Ausstellungseröffnung

OP-Zentrum Zollmann Jena, 14. Oktober 2025, 18.00 Uhr

Sehr geehrte Frau Dr. Zollmann, sehr geehrter Herr Dr. Zollmann, liebe Marina Zollmann, sehr geehrte Gäste,

willkommen in der Ausstellung mit Malerei von Alexej Tretjakow und Graphik von Armin Müller-Stahl. Die Künstler können nicht anwesend sein. Tretjakow befindet sich etwa 5000 km östlich von hier, in Krasnojarsk, Sibirien. Und Armin Müller-Stahl befindet sich, an Lebensjahren doch deutlich von uns entfernt, in Sierksdorf an der Ostsee.

Aber ihre Werke haben wir hier und wie wir von Alexej Tretjakow wissen, will er die Kunst ja als Dialog zwischen Künstler und Betrachter verstanden wissen.

Schon zweimal hat Marina Zollmann Werke von Alexej Tretjakow ausgestellt, 2012 und 2015, damals noch in der Galerie in der Arvid-Harnackstraße. Wir erfuhren schon damals, daß Tretjakow den eigentlichen Sinn der Kunst in der Abbildung sieht. Er glaubt sich darin sicher einig mit den meisten Kunstliebhabern, die in seinen Augen ebenfalls überintellektualisierte Arbeiten etwa des Konzeptionalismus nicht bevorzugen, sondern sich davon womöglich sogar ausgeschlossen fühlen. Also sucht Tretjakow seine Motive in den klassischen Bildsujets wie Stadtansichten, Portraits, Stilleben, Blumen und fängt sie in expressiver, ausdrucksstarker Manier ein

So ist das auch aktuell noch. Die hier gezeigten Stadtansichten stammen fast alle aus diesem Jahr, 2025, wir können die Datierung an den unteren Bildrändern in der Signatur entdecken. Doch wir sahen auch in den früheren Ausstellungen bei Marina Zollmann bereits, daß es Tretjakow in seinen mimetischen, abbildhaften Werken weniger auf die Darstellung des Äußeren ankam, als vielmehr auf die Darstellung eines Wesenskerns der Dinge. Tretjakow, der damals in Thüringen lebte und die Ausstellung selber gehängt hatte, hatte mir sein Skizzenbuch gezeigt. Das Buch zeugte von perfekten Zeichnungen, wie rasch sie auch von seinem Stift hingeworfen worden waren. Landschaften, Blumen, Portraits. Alles stimmte, schon in diesen Skizzen: Perspektive, Proportionen und die Herausarbeitung der Figuren durch Schraffur. Die Malereien stimmten ebenfalls, wichen aber dennoch hiervon ab, nämlich insofern sie beispielsweise nicht mehr Landschaften zum Thema hatten, sondern die Kraft des Windes (auf der Insel Olchon), nicht mehr Menschen, sondern deren Nachdenklichkeit (Ikarus) oder die verschwenderische Farbenpracht und die Freigiebigkeit der Natur in einem Meer von Blüten und Früchten. In den "Blumen und Äpfeln" aus dem Jahr 2013 haben wir diese Darstellung der Überfülle der Natur heute erneut vor uns. Es kommt nicht auf die genaue Abbildung jeder einzelnen Blüte an. Thema des Bildes ist ganz offensichtlich das prächtige Füllhorn der Natur. Das "Erblühen" gleicht einer Explosion. Und mit den "Granatäpfeln" schafft Tretjakow ein Stilleben, das schon in der Wahl der Früchte ein uraltes Fruchtbarkeitssymbol aufgreift - der Granatapfel mit seinen unzähligen Samen galt schon in der Antike als Attribut der immer wieder lebenspendenden Naturgottheiten.

Der Zugriff auf seine bildnerischen Mittel - der pastos gespachtelte Farbauftrag - erlaubt dem Künstler, seine ganze Emotionalität im Schaffensprozeß in die Expressivität der Malerei zu überführen. Der Dialog, den seine Kunst anstrebt, hofft dann, auf eine ähnliche Emotionalität beim Betrachter zu treffen oder diese Emotionen in uns zu erzeugen.

Sehen wir uns nun die Stadtansichten von Jena genauer an, die Tretjakow in diesem Jahr gemalt hat. Im Bild "Markt" glaubt man auch diesmal eine Darstellung des Windes zu sehen. Gestaltlose Strömungen sind mit lockerem Pinsel quer über den Platz gezogen. Und wieder überwältigt die Sicherheit, mit der Tretjakow mit wenigen Strichen die Gestalt eines Mannes aus dem Farbenmeer heraustreten läßt. Die Figur markiert das Quadrat in dem rechteckigen Bild und zeigt damit, daß Tretjakow mit den klassischen Faustregeln des Bildaufbaus vertraut ist, wie sie seit der Renaissance gelehrt werden: die Betonung des Quadrats in einem rechteckigen Format. Proportionen und Haltungen der Figur haben nichts Künstliches. Sie geben perfekt eine natürliche Momentaufnahme wieder. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Bildwirkung. Wir treffen sie in allen Stadtansichten, die mit auf die Abbildung von Personen setzen: In der "Johannisstraße", dem "Johannistor", dem "Rathaus" und der "Universität". Die Gruppen von Menschen scheinen unmittelbar unserer Alltagswirklichkeit entsprungen. Der Betrachter stolpert über keine Unstimmigkeit. Das ist es, was uns bei Bildern in den Bann zieht.

Doch die tradierten Mittel der Darstellung scheinen ihre Bildgegenstände mitzubestimmen. Mit solchem Pinselstrich läßt sich nicht alles einfangen. Unsere Sehgewohnheiten fordern ihren Tribut. Oder? Tretjakow zeigt alte Gebäude der Stadt: Rathaus, Kirche, Universität - Gebäude, die vor 100 Jahren, als diese Art der Malerei aufkam, auch schon standen. Das trägt derartigen Bildern gerne die Kritik der Epigonalität ein: Der Künstler, heißt es dann, male kunstfertig, aber lediglich, was man - was er - schon einmal gesehen habe. Die Kunstgriffe, mit denen hier Realität in ihr Abbild überführt wird, haben andere für ihn entwickelt. Gucken wir mal. Tatsächlich scheint auch Tretjakow eine Scheu vor der Abbildung neuerer Gebäude zu haben. Wo er um die bildnerische 'Erwähnung' des JenTowers nicht drumrum kommt, nämlich beim Sujet "Rathaus", da malt er die Glasfassade des Stahlbetonriesen direkt hinter den Rathausturm, so daß das neue Gebäude hinter dem älteren so gut als möglich verschwindet. Fürchtet der Künstler, daß das zu neue Bildsujet den Duktus und Charakter seiner Malweise stören könnte? Geht sowas? Bringen künstlerische Techniken ihre Sujets mit? Sind Malweise und Bildgegenstand bis zu einem gewissen Grad aneinander gekoppelt? Haben deswegen die Künstler zu Mitte des 20. Jahrhunderts so neue Wege beschritten? Weil anderes darstellbar werden mußte?

Betrachten wir Tretjakows übrige Stadtansichten. Den "Blick auf die Stadtkirche Jena" habe ich bisher mit Absicht ausgespart. Denn an diesem Bild ist mir etwas Besonderes aufgefallen. Nicht auf den ersten Blick. Aber auf den zweiten. Das Bild heißt "Blick auf die Stadtkirche Jena". Tatsächlich ist St. Michael unverkennbar. Aber genauso unverkennbar ist, daß die Kirche nicht wirklich im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Tretjakow siedelt sie im Bildhintergrund an. Sie ist Teil einer Kulisse, eines Bühnenbildes für das eigentliche Sujet. Und das ist eine Reihe von Autos, modernen, heutigen Pkw. Was das Bild als Alltagsstimmung einfängt, ist die Darstellung eines Parkplatzes. Es ist eigentlich ein Blick auf den Eichplatz.

Das muß nicht sein, wenn man die Stadtkirche malen will. Es gibt einen Haufen heutiger Fotografien von St. Michael, auf denen kein Auto zu sehen ist - ich habe mir etliche im Internet anzeigen lassen. Es geht, ein "Blick auf die Stadtkirche Jena" geht ohne Autos - und wenn dies schon Fotografen möglich ist, dann Malern ja erst recht. Maler müssen nicht einmal retouchieren, sondern können, wenn es sein soll, einfach etwas in der Abbildung weglassen. Das passiert hier aber nicht.

Die Aussageabsicht Tretjakows ist also ganz offensichtlich eine andere. Ohne uns mit der Nase darauf zu stoßen - also ohne den Bildtitel entsprechend zu formulieren -, stellt sich Tretjakows Malerei auch dem heutigen Gesicht unserer Städte, und das heißt vor allem: der Omnipräsenz des Automobils. Dafür aber muß Tretjakow die expressionistische Malerei um diese Motive erweitern. Die klassische Moderne zeigt Stadtansichten, Fabriken, die ersten Wolkenkratzer, Brücken, die See und Boote oder Schiffe, Portraits, Passanten und Tiere, Blumenbouquets, ganze Landschaften und Straßenbahnen. Aber keine Autos. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Bilder von Autos - schon weil die Produzenten sie für ihre Werbung brauchen. Es gibt Andy Warhols Siebdrucke, James Rizzis Kult-Taxis, futuristische Entwürfe und Filmrequisiten - aber nicht in expressionistischer Malweise. Im "Blick auf die Stadtkirche" hat Tretjakow kein Vorbild für sein eigentliches Sujet.

Um uns ein realistisches Bild unserer Städte wiederzugeben und künstlerisch zu dokumentieren, läßt Tretjakow dennoch die Pkw, die Peugeot, Skodas und Opel dieser Welt nicht außen vor. Das bedeutet, er schafft eine bildnerische Ausdruckssprache für ein Sujet, das der tradierten Malweise, derer er sich bedient, zunächst fremd ist. Er integriert das Bild des typischen städtischen Kleinwagens in den Malduktus seiner expressiven Spachteltechnik. So werden sie zum stimmigen Teil der städtischen Kulisse altehrwürdiger Gebäude, die der Künstler für uns festhält. Er schafft an dieser Stelle eine Formensprache ohne historisches Vorbild. Das heißt, er ist nicht epigonal. Er kann es wirklich. Er kann das, was Künstler meist von sich selber verlangen: Er zeigt uns, was ist. Das schöne Zitat von Paul Klee: "Kunst gibt nichts Sichtbares wieder, sondern macht sichtbar" gilt hier doppelt: Indem Tretjakow in seinen schönen expressionistischen Stadtansichten Sichtbares wiedergibt, macht er sichtbar, was unsere Lebenswelt ist, oder auch ist: Nicht nur "Die Alte Wagnergasse" mit Gruppen von Passanten zwischen den Blumenkübeln am Straßenrand, sondern eben auch die Blechlawinen, die unsere individuelle Mobilität garantieren sollen. Durch diese Malweise werden sie zur Normalität. Der traditionelle Duktus läßt hier keinen Raum für Gesellschaftskritik oder Klagen. Tretjakows tradierte Malweise entkommt der Nostalgie und schafft Zeitdokumente ohne erhobenen Zeigefinger.

Noch ein Detail fällt auf. Tretjakow erweitert die Malerei der expressionistischen Farbflächen in einigen Bildern um Umrißzeichnungen mit dem Pinsel. Vergleichen Sie etwa den "Markt" oder die "Johannisstraße" mit dem "Blick auf die Stadtkirche", mit der Winterstimmung auf dem Bild "Rathaus" oder mit dem "Johannistor". Hier sind sogar die menschlichen Figuren schwarz konturiert. Dabei wechselt der Maler zwischen beiden Arbeitsweisen. Die Farbflächen von Häusern und Personen müssen zuerst geschaffen worden sein und er legt die konturierende Zeichnung darüber. Den Himmel aber hat er wohl zuletzt gespachtelt, denn die blauen Flächen überdecken zum Teil wieder die Konturierung eines Hauses.

Die Unabhängigkeit von Farbfläche und Linie leitet nun endlich auch über zur Graphik von Armin Müller-Stahl. Denn hier ist dieser Kunstgriff eine tragende Säule der Bildwirkung in den Portraits. Aus ihrem enormen Fundus an Werken dieses Künstlers hat Marina Zollmann uns eine kleine Auswahl hier in die Ausstellung gebracht. Wenn diese Kunst Sie anspricht, empfehle ich Ihnen wärmstens einen Blick auf die Internetseite der Galerie Kunstraum Jena. Unter dem Stichwort "Künstler" finden Sie Müller-Stahl und hier zehn Seiten mit vielen weiteren Motiven.

Auch bei Armin Müller-Stahl bringt uns die Könnerschaft zum Staunen, mit der er in den Zeichnungen mit fast nur einem Strich etwa die "Sitzende" aufs Papier bannt oder das Mehrgenerationengetümmel in "Auerbachs Keller" für uns entwirft. Doch seine Portraits empfangen ihre Stimmungen ganz wesentlich vom Unterlegen abschattierter Farbflächen. Die Farbe wird natürlich zum einen genutzt, um Licht- und Schattenwirkung hervorzubringen, etwa im Portrait John Lennons oder in "Die Welt ist voller Klänge". Aber wenn Sie sich Elton John anschauen, dann stimmt das nicht mehr. Hier wird Blau und ein ins Orange tendierendes Gelb - also es geht in Richtung Komplementärkontrast - mit einem Olivgrün unterlegt und die Physiognomie des Popsängers etwas wild darüber skizziert.

Daß die Farbflächen von den Zeichnungen tatsächlich unabhängig sind, zeigt das Blatt "Die Herrlichkeit der Welt". Vor dem im Wortsinne bunten Hintergrund einer lebhaft kommunizierenden Gesellschaft - ob auch das Motiv eines lächelnden Prälaten links zu sehen ist, muß man wohl offen lassen, ich sehe die Figur mit dem spitzen hohen Hut so - vor dem Hintergrund dieser bunten Gesellschaft sind zwei Gesichter gezeichnet, die ebenfalls miteinander sprechen. Sie sind meines Erachtens typisiert, links ein verzagt dreinblickender Lehrer-Lempel-Typus mit Nickelbrille, spitzer Nase und seitlich um das Auge gezogenen Augenbrauen. Im Auge scheint eine Träne zu stehen. Sein Gegenüber ist eine Harlekin-Figur mit angedeuteter Narrenkappe und Rüschenkragen. Er blickt entspannt oder abgeklärt dem ins Gesicht, der da hilfesuchend zu ihm aufschaut und kehrt erläuternd die Handflächen nach außen. Es sind zwei Bilder in einem, die Armin Müller-Stahl uns hier präsentiert - zwei Szenen, gestalterisch unabhängig voneinander, in ihrer Aussage aber vermutlich aufeinander zu beziehen. Da reden zwei ja offenbar über das, was sie umgibt. Der eine verzagt daran und wendet sich mit seiner Klage an den, der alles entspannt hinnehmen kann und irgendwie auch versteht.

Möge die Kunst uns helfen, ebenfalls nicht zu verzagen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar